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Annäherungen an Värmland
Denke ich an unsere Tage in Värmland zurück, fällt mir dieser Artikel über Big Brother ein. Er stand in der Süddeutschen, ich wünschte, ich hätte ihn aufgehoben. Der Autor, ein Sozialpsychologe, ging den Fragen nach, warum unter den Teilnehmern der RTL2-Show derart viele und intime Beziehungen entstünden und inwiefern diese auch außerhalb des Hauses Bestand hätten.
Ich fuhr nach Schweden, um nicht in München sein zu müssen. Ich begegnete Jochen überall, sah ihn, hörte ihn, roch ihn, in jeder Ecke meiner Wohnung, meines Büros, der Fußgängerzone. Die Klienten lauerten mir ebenfalls auf, an der Isar, auf dem Marienplatz, sogar in der Pinakothek, omnipräsenter Horror ohne Entrinnen in dieser Stadt. Sarah hatte die Reise gebucht, zwei Wochen Kanu fahren in Mittelschweden. Sarah brach sich drei Tage vorher einen Arm und ich ergriff dankbar meine Fluchtmöglichkeit und sprang ein, der geplante Umzug hatte sich ohnehin durch Jochens Auszug erübrigt.
Ich rutschte einen langen Schacht hinunter und landete in einem Kanadier auf dem Glafsfjorden, ständig auf der Suche nach dem weißen Kaninchen und seiner Taschenuhr. Es war in München geblieben und tauchte die gesamten vierzehn Tage nicht auf, niemand tauchte auf. Um mich herum Wasser, Wälder, Ruhe und sieben Menschen.
Vierzehn Tage lang bestand die Welt aus Hendrik, Johanna, mir und dem Rest. Nicht, dass die anderen nicht in Ordnung gewesen wären, sie waren mehr als das. Hendrik und Johanna allerdings ließen mein Leben in einem anderen Licht erscheinen.
Wir blödelten, sinnierten, waren achtzehn Stunden täglich im Gespräch. Wir gammelten in unseren Zelten, schwammen im See, kenterten in unseren Kanus, sprachen über die kommende Bundestagswahl, über Möglichkeiten, Deutschland, die Welt zu gestalten. Dennoch hatte ich immer dieses überwältigende Gefühl der gleichmäßigen Stille. Ein Motorboot schreckte uns auf, wie es üblicherweise kein Platzkonzert, kein Großeinsatz der Feuerwehr konnte. Wir hörten unsere Paddel ins Wasser eintauchen, wieder auftauchen, wir hörten die Wellen, den Wind, einige Enten und Vögel, und wir hörten einander.
Mit der Stille kam die Gemächlichkeit. Geschwindigkeit ist laut und braucht eine Richtung, Langsamkeit ist sich selbst genug und fragt nicht nach dem Grund. Wir schliefen aus und wurden erholt wach, nach traumlosen Nächten, durch das Klappern der Trangias, das Hacken von Holz, das Plätschern des Wassers. Wir fuhren Kanu um des Kanufahrens Willen. Wir bewegten uns fort ohne Richtung, ohne das Ziel, an einem bestimmten Ort anzukommen. Wir kamen an, wenn eine Landzunge, eine Insel uns rief, der Hunger nach mehr verlangte als nach Müsliriegeln und Weingummi und die Schmerzen in den Armen unerträglich wurden.
Möglicherweise lag es auch daran, an dieser Ruhe. Möglicherweise sind Menschen anfälliger für derartige Gefühle in Phasen der Entspannung, anfälliger für Liebe. Ich nenne es Liebe, ohne beurteilen zu können, ob das angemessen ist.
Als ich Hendrik zum ersten Mal sah, es war am Bus, fielen mir sogleich seine weißen Zähne auf. Sie stachen deshalb hervor, weil Hendrik lachte, später dann beim Kochen, im Kanu, die ganzen vierzehn Tage lang. Sein Lachen nahm sein gesamtes Gesicht ein, blonde Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn, die Grübchen lenkten mich von seinen moosgrünen Augen und den Sommersprossen auf der Nase ab. Dennoch lachte er nie grundlos, nicht ohne einen Anlass, nicht ohne das Leben zu meinen, Schweden, Johanna. Wenn er in der ersten Woche strahlte, strahlte er vorwiegend in Richtung Johanna.
Trotz seiner Fröhlichkeit umgab Hendrik eine Ernsthaftigkeit, in deren Zentrum ich vom ersten Augenblick an stehen wollte. Ich wollte seine Komplimente, ich wollte gezeigt bekommen, wie ein Zielschlag funktionierte, wie das Holz zügig Feuer fing, ich wollte seine Jacke, wenn es abends kühl wurde. Ich wollte es, ich wollte Hendrik, für mich ganz alleine. Johanna bekam all das, und sie nahm es lächelnd hin.
Ich teilte mit Johanna ein Zelt, ein Kanu, und hatte sie noch vor unserer Ankunft in Värmland ins Herz geschlossen. Ihr Temperament überwältigte, ihre Lebendigkeit beeindruckte, ihre Wortgewandtheit faszinierte mich. Sie stand vor mir, umarmte mich ohne mich zu kennen, und ich hatte keine Wahl. Ich hatte sie gern. Johanna hieß mich willkommen, in Schweden, bei uns, von der ersten Sekunde an. Sie knüpfte uns alle zusammen durch ihre Vitalität, ihre Unkompliziertheit, ihre Direktheit. Dennoch wähnte ich mich in einem ständigen Kampf mit ihr.
Hendrik war exakt so groß, dass er sein Kinn auf meinen Kopf stützen konnte, als wir am dritten Abend zusammen in den Abendhimmel schauten.
„Meinst du, sie mag mich?“, fragte er mich. Es war nicht nötig, ihren Namen zu nennen. Die anderen reinigten hinter uns die Blechnapfe mit der Stahlwolle, Johanna fotografierte einige Meter vor uns den Sonnenuntergang. War ihr bewusst, dass er exakt ihre Haarfarbe hatte? Ich blieb reglos stehen, fixierte meine Augen auf das Himmelsphänomen und spürte Hendriks Blick auf Johanna ruhen.
„Ich weiß nicht“, flüsterte ich. „Ich weiß es wirklich nicht, Hendrik.“ Ich musste noch nicht einmal lügen.
„Schau dir das an“, rief Hendrik nach einiger Zeit. „Ist es nicht wunderbar?“
Meinte er den Sonnenuntergang, meinte er Johanna? Ich hatte mich an seine Begeisterung noch nicht gewöhnt, für einfach alles, für die Elchfamilie auf der Lichtung, unser improvisiertes Chili, den Sternenhimmel, für Gerhard Schröder und für Johanna. Die Leidenschaft für Schröder teilte ich, die für Johanna auch, wenn ich sie auch bei ihm nicht hinnehmen konnte.
Am nächsten Tag war ich versucht, das simpelste Spiel der Welt zu spielen. War ich nicht eine schwache, ungeschickte Frau in der Wildnis, die die Hilfe eines starken, beschützenden Mannes benötigte, um den Proviant zu tragen, Holz zu hacken, ihr Kanu für die Umtrage zu beladen? Ich ließ es auch deshalb bleiben, weil Johanna es besser vermochte, als ich es jemals können würde, ohne dass sie es bewusst einsetzte, ohne dass sie Hendrik imponieren wollte. Johanna war, wie sie war, ihr Augenaufschlag deshalb so überzeugend, weil ungeplant. Johanna spielte nicht. Ihre Freundlichkeit, das Schmieren der Brote für Hendrik, für mich, ihre Gute-Nacht-Kuss-Runde, die uns alle umschloss – es war echt, alles.
Mir blieben nicht viele Mittel, um Hendrik zu beeindrucken. Bereits tagelang kamen wir alle ohne Seife und Shampoo aus, waren Zahncreme und der Inhalt unserer wasserfesten Tonne unser einziger Luxus, wir sahen uns nur widergespiegelt im See. Johanna blieb schön bis zum Ende, „Outdoorhaare“ nannte ich ihre roten, dichten Locken, die sie nur einmal bürstete. Ich weiß nicht, wie ich aussah, es spielte keine Rolle. Möglicherweise hat diese Selbstverständlichkeit, dass es in diesen zwei Wochen nicht auf Äußerlichkeiten ankam, dazu beigetragen, dass wir uns von Beginn an so nahe waren. Wir teilten unsere Pullover, unsere Bücher, unsere Vorräte und Geheimnisse. Nach drei Tagen wussten die anderen mehr über Jochen, meine Praxis, meine Mutter, als viele meiner engen Freunde. Da wir unser Gesicht nicht sahen, hatten wir auch keine Angst, es zu verlieren.
Als wir in der folgenden Nacht im Sand beisammen saßen, auf den vom Mond bestrahlten Glafsfjorden schauten und das Assoziationsspiel spielten, in unseren Tassen Tee mit Rum, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Alex sagte „Urlaub“, ich dachte „Wandern“, und Hendrik sprach es aus. Manu schloss „Irland“ an, Hendrik und ich antworteten „Joyce“ im Chor. Wir schauten uns in die Augen, ich sah seine Überraschung, fühlte meine, und in dem Moment begriff ich, wie ähnlich wir uns waren. Johanna saß vor Hendrik auf dem Boden, seine Hände waren vor ihrem Bauch ineinander verschränkt, aber sein Interesse galt mir. Beschämt, aber euphorisch machte ich mit „Odyssee“ weiter, Johanna sagte „Homer“ und Hendrik sah mich immer noch an.
Ob Johanna Interesse an Hendrik hatte? Ich weiß es nicht, so vertraut wir uns auch waren. In dieser Nacht, als wir zu zweit im Zelt lagen und wie stets den Tag Revue passieren ließen, nahm ich meinen Mut zusammen und fragte sie. Johanna lachte.
„Ich will Urlaub machen, da kann ich keinen Stress gebrauchen.“ Was bedeutete das? Ich weiß es nicht und wollte es auch damals nicht wissen. Hätte ich mich anders verhalten, wenn ich gespürt hätte, dass Johanna etwas für Hendrik empfand? Vielleicht.
In den nächsten Tagen tat ich das Einfachste und zugleich Schwierigste – ich vertraute meiner Intuition, dass wir zwei uns ähnlich waren, und war ich selbst. Ich verwendete meine gesamte Energie darauf, Hendrik wahrzunehmen, mich wahrzunehmen, und ihm zu zeigen, wer ich war.
„Lass mich hinten steuern. Du bist kräftiger als ich, da solltest du vorne Gas geben“, sagte ich zu Johanna. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie mich an, widersprach aber nicht sondern antwortete „Wenn du meinst.“ Ab diesem Tag saß ich hinten im Kanu und übernahm die Steuerung, auf gleicher Höhe mit Hendrik. Er sah zauberhaft aus, in seiner roten Schwimmweste und seinen Fahrradhandschuhen, sein Halstuch als Sonnenschutz um den Kopf gebunden, oft nur zwei Meter von mir entfernt, Rolands und Hendriks Kanu immer gleichauf, im selben Rhythmus wie unseres.
„Schau mal nach oben“, sagte Hendrik während einer Paddelpause, und ich blickte in den Himmel, vor mir, hinter mir, über mir, nur unter mir befand sich das Gewässer. Der schwedische Himmel war azurblau, umgab uns wie ein dichter Mantel, auch die Wolken waren zum greifen nah.
Von nun an redeten wir, über unsere Reise, über sein Leben in Soest, ich lernte nicht nur Hendrik sondern auch mich selbst neu kennen. Jedes Mal, wenn seine Blicke dennoch ihr galten, wenn er sich immer wieder bemühte, Johanna ins Gespräch einzubeziehen, fühlte ich mich, als würde ich kentern.
Hendrik war ein Frühaufsteher, morgens um sieben ging er bereits schwimmen, wenn wir anderen noch schliefen. An einem Abend, als wir nach dem Essen beim Feuer saßen und ich es kaum ertragen konnte, wie er fasziniert Johannas Erzählung über deren ausgeflippte Mitbewohnerin lauschte, unterbrach ich Johanna:
„Hendrik, ich komme morgen früh mit schwimmen. Weckst du mich?“ Verwundert schaute er mich an und für eine Sekunde hatte ich Angst vor der Antwort. Dann nahm das erhoffte Strahlen sein Gesicht ein.
„Hey, klasse. Endlich muss ich nicht mehr alleine meine Bahnen ziehen und als einzig Sauberer beim Frühstück sitzen.“
Dieses Strahlen galt mir, mir allein, und auch wenn er sich sofort wieder Johanna widmete, es war mir Langschläferin ein leichtes, ab dem nächsten Morgen mit Hendrik aufzustehen, um schwimmen zu gehen.
Lässt sich Ruhe steigern? Nie war es so still wie morgens um sieben. Selbst das Wasser rollte langsamer ans Ufer, die Fische bewegten sich nicht, ganz zu schweigen von den anderen. Der Wind spielte mit den Kiefernwipfeln, Roland schnarchte, ein Tier heulte in der Ferne, sonst nichts. Die Eiseskälte des Glafsfjorden weckte mich in Sekundenschnelle, noch während wir durch das Schilf ins Gewässer wateten.
„Vorsicht, die Steine sind glitschig“, sagte Hendrik und gab mir seine Hand. Ab dem dritten gemeinsamen Morgen, ich war bereits mehrfach ausgerutscht, trug er mich ins Wasser. Ich saugte jede einzelne Minute auf, die wir alleine waren, während wir schwammen, tauchten, vor Kälte hoch und herunter hüpften. Manchmal waren wir zu dritt. Johanna war da, in unseren Gesprächen, seinen Fragen nach ihr. Aber nicht immer.
„Marie?“, fragte er mich, während wir unsere Bahnen schwammen, „Bist du dieselbe wie Zuhause?“
Ich schwieg einen Moment.
„Manchmal denke ich, ich war noch nie so sehr ich selbst.“
Hendrik schwamm auf mich zu.
„Und du?“, fragte ich ihn.
„Geht mir auch so. Ich war lange nicht mehr so entspannt. Erinnert mich irgendwie an die Jugendfreizeiten mit dem CVJM.“
„BDKJ“, widersprach ich. Wir lächelten uns an, ein Tropfen fiel aus Hendriks Haaren.
„Damals hatten wir auch immer dieses ausgeprägte Gefühl von Zusammengehörigkeit.“
Das hatten wir acht in der Tat.
„Überleg doch mal“, knüpfte Hendrik an unser Gespräch vom Morgen an, als wir nach einer Umtrage auf dem Värmeln gegen den Wind paddelten, „Wenn acht zufällig zusammengewürfelte Menschen als Gruppe derart gut funktionieren – muss das nicht in jeder beliebigen Zusammensetzung so möglich sein?“
Fasziniert sah ich ihn an und vergaß den notwendigen Korrekturschlag mit dem Paddel, Johanna und ich trieben auf einen Seerosenteppich zu, irritiert blickte sie über die Schulter und sah mich fragend an.
„Meine Güte. Was das für das menschliche Zusammenleben bedeutet!“, so Hendrik weiter.
Ich hatte wieder Kurs auf die Insel genommen, auf der wir übernachten wollten.
„Genau“, schmunzelte ich. „Lass uns einfach Schröder, Merkel und die anderen vierzehn Tage allein in die Wildnis schicken, und schon sind sie aufeinander angewiesen und Freunde fürs Leben.“
„Du nimmst mich nicht ernst“, empörte sich Hendrik und stieß mit seiner Hand unser Kanu fort. Er ahnte nicht, wie ernst ich ihn nahm. Den Gedanken, dass diese Nähe, die uns ausmachte, in jeder beliebigen Gruppe so entstanden wäre, konnte ich einfach nicht ertragen.
Wir waren etwas Besonderes, diese Wochen waren etwas Besonderes. Sie waren dichter, intensiver als üblicherweise ganze Monate. Oft saß ich abends auf der Frühstückstonne an der Feuerstelle, beobachtete Hendrik, beobachtete Johanna, und konnte mir nicht erklären, warum sie solche Relevanz hatten. Ich war so sehr in Schweden, bei uns, wie man es nur seien konnte. Alles außerhalb unserer Kanus, außerhalb Värmlands Seen und Inseln war längst verblasst. Wir waren unsere eigenen Beobachter und staunten aus der Distanz, was wir taten, vierzehn Tage lang.
Die vorletzte Nacht, die wir nicht in unseren Zelten verbrachten sondern in einer Schutzhütte in der Nähe von Grums, kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Möglicherweise war es diese Nacht, die den Dingen eine andere Richtung gab. Sind es nicht oft die Nächte, in denen solche Entscheidungen getroffen werden? Zu acht quetschten wir uns albernd in den Holzverschlag. Wir sangen, „Marmor, Stein und Eisen bricht“, „Those were the days“, „My way“ und trommelten mit den Händen auf den Lebensmitteltonnen, der Regen begleitete uns. Denn es regnete draußen, ausgerechnet in dieser Nacht, in der es vollkommen gleichgültig war, kein Zelt durchnässt werden konnte. Der Regen tränkte unsere Euphorie, wir spielten unser Spiel, sangen sämtliche Lieder, die wir auswendig kannten, tranken Rum, ohne Tee. Wir rückten noch enger zusammen, als wir es ohnehin schon waren, waren unbefangen wie Geschwister. Als wir so beieinander lagen, ich am Eingang, Hendrik in der Mitte, dann Johanna, legte Hendrik sachte einen Arm um mich, den anderen um Johannas Schulter. Schlief Johanna als erste ein, oder stellte sie sich schlafend? Beide lagen wir in seinen Armen, dennoch war ich diejenige, die bei ihm war in dieser Nacht.
„Du“, sagte ich, nachdem wir einige Minuten geschwiegen hatten und die anderen bereits schliefen. „Liegt es also gar nicht an uns, dass wir uns so nah sind?“ Meine linke Hand hielt ich raus in den Regen.
Hendrik vergaß Johanna, ließ mich los, ließ sie los, drehte sich auf die Seite, sah mich an. Ich weiß, dass wir redeten in dieser Nacht, über Freundschaften, über Nähe, ich erinnere mich nicht an Details. Woran ich mich erinnere ist, dass es in Ordnung gewesen wäre, in dieser Nacht zu sterben.
Am nächsten Morgen öffnete ich die Augen und meine Hand lag in Hendriks. Er war bereits wach und betrachtete mich eindringlich. Ich spürte, dass der Kampf entschieden war, mein Rausch stand mit dem Rum in keinem Zusammenhang. Das nächtliche Unwetter war verflogen, wir schwebten in unserem Kanu über das Wasser. Es war mir Recht, dass wir kaum sprachen an diesem Tag, die anderen vor Müdigkeit und Abschiedsgedanken, ich vor Seeligkeit. Nachdem wir dreimal auf einer Schilfbank gelandet waren, tauschten Johanna und ich die Plätze. Merkte sie, was mit mir los war? Sie sah mich an, als wüsste sie alles. Machte es ihr überhaupt nichts aus? Falls doch, ließ sie es sich nicht anmerken.
Nach unserem letzten Abendessen, als wir an der Feuerstelle saßen, uns unsere Wohnungen gegenseitig beschrieben und sich Roland und Mirko bereits ins Zelt verabschiedeten, war es Zeit für einen Test. Ich stand auf und verschwand mit den Worten „Ich geh noch mal kurz ans Ufer“. Ich sah zu, wie die Sonne, unser Urlaub im Värmeln verschwand und setzte mich auf einen Felsen.
„Alles in Ordnung mit dir?“, näherte sich Hendriks Stimme bald von hinten. Ich lächelte zufrieden. All das, wonach ich mich gesehnt hatte, war eingetreten. Ich hatte gewonnen und war nun bereit für sämtliche weitere Kämpfe meines Lebens.
„Alles wunderbar“, antwortete ich, „brauchte nur mal eine Auszeit.“
„Soll ich gehen?“, fragte Hendrik, nun bereits neben mir.
„Nein, bleib doch hier“, so ich, rutschte auf meinem Stein an den Rand, und zog ihn sanft zu mir hin. An diesem Abend mussten wir nicht mehr reden, es war alles gesagt. Wir hielten uns fest, schauten von unserer Insel aus aufs Festland, die Häuser von Stömne, hörten auf die gleichmäßige Melodie des Wassers und waren beieinander. Der Himmel war sternenklar und wir entschieden uns Stunden später, draußen zu schlafen. Als ich in das Zelt krabbelte, um meinen Schlafsack zu holen, wurde Johanna wach. Wir sahen uns in die Augen.
„Ist es okay?“, fragte ich sie leise und versuchte in ihrem Gesicht eine Reaktion abzulesen.
„Mach dir keine Gedanken“, antwortete sie und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Morgen sind wir ohnehin wieder Daheim. Und zieh dir noch eine Jacke an.“ Ich wusste nichts mit ihren Worten anzufangen. Heute frage ich mich, ob sie dachte, dass alles was zwischen uns war, nur für Schweden galt und Zuhause keinen Bestand mehr hatte.
Die letzten Stunden zogen an mir vorbei, ich erlebte die längste Trunkenheit meines Lebens. Hendrik und ich kreisten umeinander, zogen uns an, stießen uns ab, hin- und her gerissen zwischen Freude und Trennungsschmerz. Johanna verhielt sich unverändert und umschlang uns mit ihrer Wärme.
Wir mussten das Wunderland verlassen, wollten wir uns, wollten wir Schweden auch mit aller Gewalt festhalten. Versuche ich mich an die Rückfahrt nach Deutschland zu erinnern, sehe ich weder Göteborg, noch die Fähre, noch Puttgarden, ich sehe Hendriks Gesicht. Der Abschied war eine Tragödie. Wir schworen uns, in Kontakt zu bleiben, alle miteinander, ich hielt erst die anderen, anschließend Johanna und dann Hendrik minutenlang im Arm, bevor ich mich mit Tränen in den Augen in den ICE nach München setzte.
Als ich zurückkehrte, war die Welt noch die Alte. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Weg für die Neuwahl des Bundestages geebnet, München bereitete sich auf das Oktoberfest vor, New Orleans versank in den Fluten und Deutschland im Chaos. Auf dem Küchentisch lag ein Brief von Jochen.
Manchmal wünsche ich mir, es wäre dabei geblieben. Zwei Wochen jenseits der Realität, gemeinsames Atemholen für alles was kommt, ein paar Tage lang. Aber wir wollten es nicht dabei belassen. Wir begehrten Einlass in den Alltag der anderen, wir lechzten danach, diese außergewöhnlichen Menschen in unser Leben zu lassen. Und wir zogen die Konsequenzen daraus.
Ich habe Johanna und Hendrik nach unserer Rückkehr nur noch einmal gesehen. Zu Beginn schrieben wir uns täglich E-Mails, telefonierten häufig, dann nur noch ab und an, irgendwann ließen wir es bleiben. Mir fällt es schwer, das zu erklären, was ich selbst kaum begreife. Wir wussten nichts mehr miteinander anzufangen. Während unseres einzigen Treffens fanden wir keinen Zugang zueinander, hatten uns nichts mehr zu sagen. Johannas Energie erdrückte mich, Hendrik und ich kamen beide nicht zu Wort, ihr Gesicht wirkte künstlich unter ihrer Schminke. Hendriks Strahlen hatte etwas Dümmliches, seine Ernsthaftigkeit erzeugte Langeweile, und seine Aufmerksamkeit bereitete mir Atemprobleme. Ich konnte es nicht fassen, war wütend über meine eigene Unbeständigkeit, kämpfte um Hendrik, kämpfte um Johanna, einige Wochen lang. Ich schrieb lange Briefe, in denen ich ihre Erinnerungen wecken wollte, half mit Fotos nach, sprach die Bänder ihrer Anrufbeantworter voll und flehte sie an, uns eine Chance zu geben. Schließlich gab ich mich geschlagen.
Ich bemühe mich, die schwedische Variante von Hendrik und Johanna vor Augen zu haben, die schwedische Variante von mir. An meiner Pinnwand hängt noch immer das Bild von uns dreien, Hendrik in der Mitte, einen Arm um Johanna gelegt, den anderen um mich. Ob die beiden noch in Kontakt stehen? Ich hoffe nicht.
Denke ich an unsere Tage in Värmland zurück, fällt mir dieser Artikel über Big Brother ein, ich wünschte, ich hätte ihn aufgehoben.