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Anna und die Schatten

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09.12.2001
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Anna und die Schatten

Träume sind Seifenblasen unserer Seele.
Sie zeigen uns wer und was wir sind.
Unsere Träume, sind frei wie unsere Gedanken.
Nicht an die Wirklichkeit gebunden und für
keinen einzusehen, wenn wir das nicht wollen.
Wir brauchen sie, denn durch sie atmet unser Geist.

Anna träumte. Sie läuft eine Wiese entlang und tanzt durch bunte Blumenmeere. Sie trägt ein weißes Kleid und einen Strohhut. Die Sonne scheint auf ihr rotbraunes Haar. In der Ferne stehen Bäume. Vögel kreisen über der Wiese. Plötzlich fliegen die Vögel davon. Anna glaubt, daß Wolken vor die Sonne fliegen, denn es wird dunkel. Die Sonne verschwindet. Aber es sind keine Wolken, die sich vor die Sonne geschoben haben, es sind die Schatten. Immer mehr Schatten legen sich über die Sonne. Dann liegen die Schatten auch auf der Wiese. Anna fürchtet sich, sie läuft vor den Schatten davon...
Anna erwachte schweißgebadet. Zum dritten Mal in dieser Woche hatte sie einen dieser Träume. Eigentlich waren es immer verschiedene Träume gewesen. Sie hatten nur eines gemeinsam: noch ehe Anna schließlich angsterfüllt und schweißgebadet erwachte, waren es dunkle Schatten gewesen, die Annas Träume beendeten.
Anna stand auf und zog ihre Kleider an. Schnell ging sie nach unten und frühstückte. Gleich danach besuchte Anna den Großvater, um ihm von ihren Träumen zu erzählen. Häufig wußte der Großvater Rat und konnte Anna helfen, wenn sie Probleme hatte. Der Großvater war oft für Anna da. Ihr Vater war im letzten Jahr ganz plötzlich gestorben und die Mutter mußte arbeiten, um die Familie zu ernähren. Deshalb half der Großvater so oft und so viel er konnte.
Als Anna bei ihm ankam hatte er bereits einige Spiele bereitgestellt und Tee für beide gekocht. Der Großvater war immer darauf vorbereitet, wenn Anna ihn besuchte. Sie fragte sich oft, woher der Großvater immer wußte, daß sie kam. Vielleicht war es auch so, daß er immer darauf vorbereitet war, daß sie kommen könnte. Anna war gerne beim Großvater. Er wohnte in einem großen und geräumigen Haus am Rand der Stadt, dort wo der Wald begann. Manchmal gingen sie zusammen in den Wald und Großvater erzählte Anna von den Tieren, die im Wald lebten und von den Feen und Zauberern, die angeblich früher im Wald gelebt hatten. Der Großvater meinte, der Wald sei früher ein Zauberwald gewesen und man konnte, als er noch ein Kind gewesen war, dort allerhand Geschöpfe treffen.
Anna erzählte ihm von ihren Träumen und von den Schatten. Der Großvater saß in seinem Schaukelstuhl und zog an seiner Pfeife. Als Anna die Schatten erwähnte, hob er die Augenbraue und blickte besorgt auf sein Enkelkind. „Schatten sagst Du? Mhmm, wie genau haben sie ausgesehen?“
„Sie waren...“, Anna überlegte, „... nun sie waren... sie sind zu Anfang grau und sobald sie sich über meinen Traum gelegt haben, werden sie schwarz, schwärzer noch, als die dunkelste Nacht. Und sie kommen immer plötzlich, ganz urplötzlich.“
„Ich weiß Anna.“ antwortete der Großvater. „Die Schatten kommen leiser noch als der Schnee, der auf die Erde fällt.“
„Du kennst die Schatten?“ fragte Anna.
„Es ist lange her, Anna, und ich dachte sie würden vielleicht niemals wiederkommen, aber ja, ich kenne die Schatten.“
Es klingelte an der Tür. Helen kam zu Besuch. Helen war Annas Freundin. Oft waren sie beide beim Großvater, denn Helens Mutter war krank und sie war dem Großvater sehr dankbar, wenn er sich um das Kind kümmerte. Anna erzählte ihrer Freundin von ihren Träumen, doch sie wußte schon Bescheid. Auch sie hatte von den Schatten geträumt. Sie hatte geträumt auf einem großen schwarzen Hengst zu reiten. Sie ritt schnell wie der Wind in ihrem Traum. Und plötzlich wurde sie verfolgt. Die Schatten waren hinter ihr und fast hätten die Schatten Helen eingeholt, wenn sie nicht vorher aufgewacht wäre. „Das ist schlimm!“ sagte der Großvater. „Wenn auch Helen schon von den Schatten träumt, dann bedeutet das, daß die Schatten wieder da sind, alle.“
„Wer oder Was sind die Schatten?“ fragte Anna und lutschte ein Himbeerbonbon.
„Ich weiß es nicht.“ antwortete der Großvater. „Ich war dabei als sie vor vielen Jahren verjagt worden sind. Aber ich habe es nicht getan. Ein Freund von mir hat sie vertrieben, doch ich weiß nicht genau wie.“
„Was können sie uns tun?“ fragte Helen. „Sind sie gefährlich?“
„Wenn wir die Schatten gewähren lassen, Lisa, dann werden sie immer gefährlicher. Sie werden in euren Träumen bleiben und immer mehr von euren Träumen erfüllen. Und wenn sie sich an euren Träumen satt gefressen haben, dann rauben sie eure Seelen und meine auch. Sie müssen aufgehalten werden!“
„Aber Du hast gesagt, daß du nicht weißt, wie es geht.“ widersprach Helen.
„Aber ich weiß, wer uns helfen kann, wer uns helfen muß!“
Damit ging der Großvater aus dem Zimmer. Man hörte ihn die Treppen zum Dachboden hochsteigen. Dann knarrte und rumpelte es oben. Schließlich kam er zurück. Anna und Helen saßen in der Küche des Großvaters und schmierten sich Honigbrote. Sie hatten schon Angst vor den Schatten, aber sie wußten auch, daß der Großvater bei ihnen war. „Da ist es!“ sagte er lächelnd und hielt den Mädchen ein Glas vor die Nasen. Es war ein großes Einmachglas mit einem Gummiring. Das Glas war fast leer. Drinnen war nur noch etwas silbrig glänzender Staub.
„Es ist nur noch wenig, aber für eine Nacht dürfte es noch für euch beide reichen. Es muß!“ meinte der Großvater halb zu sich selbst, halb zu den Mädchen. „Was ist es denn?“ fragte Anna irritiert, denn sie verstand nicht, was das sollte mit dem Glas. „Schlafsand, das sieht man doch.“ antwortete der Großvater. „Ihr sollt träumen. Doch während ihr träumt, sollt ihr noch etwas tun. Ihr müßt jemanden suchen in euren Träumen, jemanden der uns helfen kann.“ erklärte Großvater. „Wen?“ fragte Helen kurz.
„Oh, Namen hat er viele, wichtig ist, wer er ist, es ist der Wächter eurer Träume. Der Sandmann sozusagen. Er kann uns vielleicht helfen. Geht schnell nach Hause und erzählt euren Eltern, daß ihr heute bei mir schlafen wollt. Erzählt ihnen aber nicht, was wir vorhaben. Sie verstehen es nicht. Sie bemerken die Schatten vielleicht nicht einmal. Die Schatten sind für viele Erwachsene unsichtbar. Schwört, daß ihr niemandem etwas verraten werdet!“ Der Großvater blickte so ernst hinter seiner Hornbrille hervor, wie die Mädchen es noch nie gesehen hatten.
„Ich schwör’s!“ schwor Helen.
„Ich auch.“ schwor Anna.
Eine Stunde später waren beide wieder beim Großvater. Natürlich hatte niemand etwas dagegen, daß die Kinder beim Großvater schliefen. Immerhin war Wochenende und wenn der Großvater auch manchmal etwas seltsam war, er kümmerte sich immer liebevoll um die Kinder.
Die Mädchen lagen im Bett. Der Großvater kam mit dem Einmachglas und streute das letzte bißchen Pulver in die Gesichter der Kinder. „Das juckt...“ fand Lisa und war auch schon eingeschlafen. Auch Anna konnte die Augen nicht mehr offen halten. Der Großvater nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben die Mädchen um ihren Schlaf zu bewachen. „Ihr müßt ihn finden, sonst ist alles verloren...“ murmelte er sich in den Bart.
Anna öffnete die Augen. Sie lag vor einer Steintreppe. Oben an der Treppe war eine große, schwere Holztür. Daneben eine Klingel an der mit großen Lettern ein Name auf einem Schild angebracht war: HERR KORN stand darauf. „Ui, wo sind wir hier?“ fragte sich Helen hinter Anna. Diese wollte gerade antworten, als es urplötzlich dunkel wurde hinter den Mädchen und als sie sich umdrehten, da waren die Schatten direkt hinter ihnen. Anna rannte die Treppe hinaus. Helen wollte ihr folgen, doch eine schwarze Hand griff aus den Schatten heraus und schnappte das Mädchen. Kurz hörte man sie noch um Hilfe schreien. Dann war es still. Die Schatten bewegten sich die Treppe hinauf auf Anna zu. Anna wollte schnell die Tür öffnen und in das dazugehörige Haus laufen. Doch die Tür war verschlossen. In ihrer Verzweiflung drückte sie die Klingel an der HERR KORN geschrieben stand. Eine leise Melodie spielte. Die Schatten schienen inne zu halten, zu warten was passierte, dann bewegten sie sich weiter auf Anna zu. Die Schatten hatten das Mädchen fast erreicht, als die Tür geöffnet wurde. Eine Fackel wurde nach draußen gehalten. Es wurde hell auf der Treppe. Die Schatten wichen zurück. Jemand zog Anna in das Haus. Zugleich stellte er die Fackel auf der Treppe ab. Sie hielt die Schatten fern. Aus den Schatten konnte man Gemurmel hören, wütendes Gemurmel und das leise Weinen eines kleinen Mädchens.
„Willkommen in meinem Haus, junge Dame. Was verschafft mir die Ehre deines Besuches, Anna? Du bist doch Anna? Ich kenne dich aus deinen Träumen.“ sprach eine dunkle Stimme, die zu einem Mann gehörte, der tief in einer rotsamtenen Kutte verborgen war.
„Ich suche Hilfe. Hilfe!“ brachte Anna hervor. „Wir... ich suche den Sandmann.“
„Du hast gefunden, wen du suchst. Ob ich dir helfen kann, das weiß ich nicht. Mein Name ist Herr Korn. Ich bin für die Träume verantwortlich. Ich bin der Sandmann.“
Herr Korn nahm seine Kapuze herunter. Darunter verbarg sich das Gesicht des ältesten Mannes, den Anna sich vorstellen konnte. Der Großvater sah schon alt aus, doch Herr Korn sah aus, als sei er der Großvater des Großvaters und sogar noch dessen Großvater. In der rechten Hand hielt er ein Buch, in der linken eine Uhr und blickte auf das Mädchen hinab. „Du kommst wegen der Schatten, nicht wahr? Wer hat dich geschickt?“ fragte er.
„Mein Großvater hat mich geschickt. Und ja, ich komme wegen der Schatten. Sie haben...“
„Sie haben deine Freundin mitgenommen.“ Beendete Herr Korn den Satz. „Anna, die Schatten sind in den Träumen aller Menschen. Doch es gelingt ihnen selten, die Herrschaft über die Träume der Menschen zu erlangen. Doch wenn es ihnen einmal gelingt, dann werden sie gefährlich, furchtbar gefährlich. Und ich... ich bin Schuld daran.“ Herr Korn sank in sich zusammen. Sein faltiges Gesicht wurde traurig. Anna blickte in seine tiefschwarzen Augen. Darin sah sie... es war als ob kleine Sterne in der Nacht seiner Augen leuchten würden. Und gleichzeitig blitzten sie voller Verzweiflung und Niedergeschlagenheit.
„Warum?“ fragte Anna. „Warum ist es Deine Schuld?“
„Weil ich der Wächter der Träume bin. Ich halte Wache. Immer und immerfort. Dann kann eigentlich nichts passieren. Doch vor wenigen Wochen bin ich eingeschlafen, nur für einen kurzen Moment. Und dennoch haben es die Schatten geschafft innerhalb dieser kurzen Zeit in die Träume der Menschen zu gelangen. Und nun, nun stehen sie sogar vor meiner Tür und wollen mich zum schlafen bringen. Wenn ich einschlafe, dann steht den Schatten niemand mehr im Weg. Und ich bin müde, so unglaublich müde... ich möchte schlafen.“
„Aber wieso? Warum bist Du ausgerechnet heute müde. Warum nicht früher. Warum überhaupt?“ fragte Anna.
„Weil ich ein alter Mann bin. Ich habe das Buch zu Ende gelesen. Ich habe keine neuen Träume mehr. Ein anderer muß die Träume der Menschen bewachen. Doch die Schatten stehen vor der Tür. Ich kann das Buch niemandem geben, der die Träume lesen kann.“ erklärte Herr Korn.
„Kann ich das nicht tun? Ich kann lesen... ich werde die Träume bewachen, wenn du mir erzählst, wie das geht.“ bot Anna an.
„Das geht nicht Anna. Du bist ein Kind. Du mußt selbst träumen, denn Träume sind wichtig für Kinder. Wenn du die Träume der anderen bewachst, darfst Du selbst nicht einschlafen. Ein Kind kann die Träume nicht lesen.“
„Und wenn... wenn es mein Großvater tut?“ fragte Anna.
„Mhmm!?“ überlegt Herr Korn. „Das könnte funktionieren. Aber wie sollen wir ihm das Buch geben. Woher soll er wissen, was er tun soll. Woher wissen wir, daß er es wirklich will?“
„Wir müssen es ihm sagen, irgendwie.“ fand Anna.
„Ja, nur wie?“ überlegte Herr Korn. Es wurde kälter im Raum. Draußen war die Fackel ausgegangen. Die Schatten kamen näher.
Herr Korn blickte auf. Er richtete sich zu voller Größe auf. „Ich habe eine Idee!“ donnerte seine Stimme durch das Haus. „Doch zuerst brauchen wir Zeit!“. Herr Korn nahm das Buch und öffnete die Eingangstür. In den Schatten vor der Tür murmelte und zischte es. Herr Korn las aus dem Buch:

„Wer den Menschen die Träume nimmt, der nimmt ihnen ihre Hoffnung. Wer ihnen die Träume nimmt, der nimmt ihnen den Glauben. Wer ihnen die Träume nimmt, der nimmt ihnen das Leben. Aber kein Mensch ist wirklich gänzlich ohne Hoffnung. Kein Mensch ist ganz ohne Glaube. Kein Mensch ist völlig ohne Leben. Kein Traum wird jemals vollkommen den Schatten verfallen. Verschwindet!“

Die Schatten zogen sich zurück. Es blitzte und zischte und irgendwas tobte in den Schatten. Dann waren sie verschwunden. „Das wird sie eine Zeit lang aufhalten.“ meinte Herr Korn. „Was ist mit Helen?“ wollte Anna wissen. „Helen werden wir dann wieder zurückbekommen, wenn wir die Schatten vertrieben haben.“ erklärte Herr Korn. „Aber, was ist, wenn uns das nicht gelingt?“ fragte Lisa. „Dann,“ antwortete Herr Korn, „sind wir ohnehin alle verloren.“
Herr Korn führte Anna in eine große Halle. Darin schwebten tausende kleiner Seifenblasen. Sie lagen auf dem Boden, hingen an der Decke und schwebten in der Luft. „Das sind die Träume der Menschen!“ erklärte Herr Korn. Anna staunte, dann fiel ihr etwas ein: „Aber wie sollen wir die Träume meines Großvaters finden?“
„Oh das ist leicht.“ erklärte Herr Korn und rief den Namen des Großvaters. Nichts geschah. Herr Korn rief erneut. Wieder nichts. „Oje,“ jammerte Anna, „wahrscheinlich schläft er nicht und paßt auf uns auf.“ „Er muß schlafen, sonst erreichen wir ihn nicht.“ sagte Herr Korn. Beide warteten. Doch der Großvater hatte keinen Traum, er schien nicht einschlafen zu wollen. Dann blitzte eine Seifenblase vor Anna kurz auf und verschwand wieder. Herr Korn faßte Mut: „Das muß er sein. Er kann sich nicht mehr lange wachhalten. Wenn die Blase wiederkommt, dann mußt Du in den Traum hineinschlüpfen und ihm sagen, daß er zu uns kommen soll.“ „Ich kann doch nicht in eine Seifenblase schlüpfen. Das geht doch nicht!“ widersprach Anna.
„Du mußt es nur wollen. Alles geht. Wir sind in deinen Träumen. Alles ist möglich, wenn du es willst.“
Die Seifenblase erschien kurz. Anna bekam sie zu fassen. Es machte einmal kurz PLOP und Anna war verschwunden. Herr Korn spürte Kälte über seinen Rücken laufen. Als er sich umdrehte waren die Schatten hinter ihm. Er wurde müde, die Augen wurden ihm schwer. „Zurück mit euch... verschwindet... ich... ihr werdet...“ und dann war Herr Korn eingeschlafen. Es donnerte über seinem Haus. Die Mauern wurden grau und es regnete tiefgelbe Regentropfen vom Traumhimmel. In den Schatten begann wieder das Gemurmel. Dann lachten die Schatten.
Anna sah die Großmutter vor sich. Doch die war schon lange tot. Aber es war ein Traum. Alles war möglich, Sie gab der Großmutter einen dicken Willkommenskuß. Dann sah sie den Großvater. „Du mußt mir helfen?!“ rief sie ihm zu, doch der Großvater hatte nur Augen für die Großmutter. So lange hatte er sie schon nicht mehr gesehen. So sehr hatte er sie vermißt. Und nun war sie hier. „Bitte!“ rief Anna. „Sonst ist alles verloren.“ Der Großvater regte sich nicht. Dann nahm die Großmutter seine Hand und legte sie in die Hand des Mädchens. Die Großmutter küßte den Großvater und nickte Anna zu. Dann war sie verschwunden. Wo die Großmutter eben noch gestanden hatte, da waren plötzlich die Schatten. Anna und der Großvater begannen zu laufen. Sie liefen durch den Traum des Großvaters. Durch sein Traumhaus, einen Traumgarten und versteckten sich in einem Traumschuppen. Anna erzählte dem Großvater von Herrn Korn und von den Schatten, wie sie Lisa entführt hatten und daß jemand die Träume lesen mußte, weil Herr Korn zu müde war. „Ich will helfen, wenn ich kann. Doch wie?“ fragte Großvater. Anna schloß die Augen. „Seifenblase, Seifenblase!“ rief sie und dann blitzte eine Seifenblase vor ihren Augen auf. Sie packte mit der einen Hand den Großvater und mit der anderen griff sie in die Seifenblase... und dann waren sie im Haus von Herrn Korn.
Dort war es grau und dunkel geworden. Herr Korn lag leblos auf dem Boden. Die Augen waren geschlossen. Er atmete zwar noch, doch sein Schlaf war tief und traumlos. Anna kniete sich zu ihm nieder und schüttelte ihn, doch er wachte nicht auf. Sie suchte das Buch, doch es war verschwunden. Anna weinte und kurz darauf standen Anna und der Großvater vor den Schatten. Wenig später waren sie von den Schatten umgeben. Leere umgab die beiden. Ihre Herzen wurden traurig und ihre Seelen leer. Anna griff mit den Händen in die Leere der Schatten. Sie war etwas überrascht, als sie eine Hand zu fassen bekam. Es war Helens Hand. Mit der anderen Hand ergriff sie den Arm des Großvaters. Dann standen sie zu dritt in den Schatten und hielten sich in den Armen. Sie fürchteten sich. Um sie herum nur Dunkelheit. Die Augen wurden ihnen schwer. „Ohne das Buch sind wir verloren.“ sagte Anna. „Denn ohne das Buch kannst du keine Träume lesen, Großvater!“ Betrübt sah sie in die Augen ihres Großvaters. Dann schien es ihr, als würde der Großvater plötzlich wachsen, ähnlich wie es Herr Korn getan hatte, als ihm eine Idee gekommen war.
„Unsinn!“ sagte der Großvater. „Es macht keinen Unterschied, ob ich Träume lese oder sie einfach so erzähle!“ Und der Großvater begann zu erzählen. Es wurde immer kälter in den Schatten und immer dunkler, doch der Großvater erzählte, er erzählte und wenn er auch am ganzen Körper zitterte, er hörte nicht auf zu erzählen. In der Dunkelheit der Schatten leuchtet in weiter Ferne ein kleines Licht. Und je länger der Großvater erzählte, desto heller wurde es. Erst war es kaum zu sehen, dann ein kleiner matt glänzender Punkt, dann wurde es größer, dann heller und der Großvater erzählte weiter und weiter. Es schien ewig zu dauern. Und schließlich strahlte das Licht wie eine kleine Sonne in den Schatten. Es wurde wärmer und heller. Die Schatten wurden immer kleiner. Bald waren sie nur noch am Rande des Raumes zu sehen. Und da lag auch das Buch im Raum. Der Großvater nahm es in die Hände und begann daraus zu lesen. „Für euch werde ich besonders schöne Träume lesen!“ sagte er und küßte die Mädchen. Doch die schliefen bereits...
Als Anna erwachte lag Helen neben ihr. Sie schloß ihre Freundin in die Arme, glücklich, daß alles überstanden war. Neben dem Bett der Mädchen saß der Großvater in einem Stuhl und schlief. Sie wollten ihn aufwecken, doch er behielt die Augen geschlossen. Es gelang ihnen nicht, den Großvater zu wecken. Als später die Eltern der Mädchen kamen, sagten sie, daß der Großvater schon ein alter Mann gewesen sei und daß alte Menschen nun einmal irgendwann sterben müßten. Und daß der Großvater jetzt sicher im Himmel sei.
Aber Anna und Lisa wußten, daß der Großvater nicht tot war. Er war nicht im Himmel, er war in ihren Träumen und in denen der anderen Menschen. Er wachte darüber, daß die Schatten nicht mehr kamen. Und nie wieder waren die Schatten in den Träumen der Kinder erschienen.

 

Wundervolle Geschichte! Hervorragend geschrieben, tolle Bilder, insgesamt beeindruckend.
Weiter so, bitte! :)
Nur eins irritiert: Du schreibst immer mal wieder "Lisa", obwohl die Mädchen Anna und Helen heißen...
Gruß,

chaosqueen :queen:

 

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