Annika und der Traum
Annika hatte den ganzen Tag gespielt und herumgetobt. Sie war über Blumenwiesen gelaufen, hatte am Bach Schiffchen gebaut und in Nachbars Garten die süßesten Äpfel genascht. Nun war sie müde und lag in ihrem kleinen Bettchen.
Ihre Mutter war in das Zimmer getreten, um ihr einen Gute-Nacht-Kuss zu geben.
"Sieh nur!" rief Annika ihr zu und zeigte aus dem Fenster. Es stand weit offen, und die Mutter und Annika konnten hoch oben am Himmel die Wolken ziehen sehen. Und je länger sie hinschauten, desto mehr schien es ihnen, als würden sich die Wolken in seltsame Dinge verwandeln: in Berge und Schlösser, in Pferde und Katzen, in Fische und Pinguine gar. So viele lustige und schöne Dinge zogen da am Himmel entlang, daß Annika sich wünschte, ebenso wie die Wolken fliegen zu können.
"Ach, nur ein einziges Mal fliegen können!" seufzte sie sehnsüchtig. "Nur für eine Stunde!"
Die Mutter lächelte und sagte: "Das geht leider nicht, kleine Annika. Nur die Vögel und die Wolken können fliegen. Wir Menschen müssen auf der Erde bleiben. So ist das nun einmal."
Da wurde Annika ein bisschen traurig. Die Mutter strich ihr noch einmal übers Haar, dann ging sie leise aus dem Zimmer.
Es wurde immer dunkler und dunkler und die Nacht brach herein. Am Himmel begann der gute alte Mond seine allnächtliche Reise. Die Sterne, seine treuen Begleiter, zogen ihre funkelnden Kleidchen an und folgten ihm auf seiner Bahn.
Einer kleinen Sternschnuppe, die mit den Sternen reiste, ging, ging alsbald die Puste aus. Sie setzte sich auf eine Wolke, um ein wenig auszuruhen. Wie sie da so saß und um sich schaute, fiel ihr Blick durch das offene Fenster auf die schlafende Annika.
"Ach," dachte die kleine Sternschnuppe. "Was schaut dieses kleine Wesen so traurig drein?" Und weil sie eine sehr mitfühlende Sternschnuppe war, breitete sie ihr silbernes Kleidchen aus und schwebte vom Himmel herab - geradewegs durch das Fenster und auf Annikas Bettchen. Sie pustete ihr sacht ins Gesicht und Annika öffnete die Augen. Verwundert schaute sie auf die Sternschnuppe. Diese trug einen wunderschönen Schweif. Er war übersät mit goldenen Sternchen mit kleinen, nachtblauen Steinen in der Mitte.
"Wie wunderhübsch du bist!" staunte Annika. "Solch einen schönen Traum hatte ich noch nie!"
Die kleine Sternschnuppe fasste Annika an der Hand und fragte: "Hast Du Lust, eine Reise zu unternehmen?"
Annika stimmte begeistert zu, und schon flogen sie beide Hand in Hand mitten in den Nachthimmel hinein. "Gut festhalten!" rief die kleine Sternschnuppe. Immer schneller und schneller flogen sie. Die Häuser und Felder, die Bäume und Wiesen unter ihnen wurden immer winziger. "Rasch, rasch!" drängte die kleine Sternschnuppe. "Meine Freunde sind schon weit voraus!"
Endlich hatten sie den Mond und all' die anderen Sterne eingeholt. "Ein Erdenkind, ein Erdenkind!" freuten sie sich, als sie Annika erblickten. "Komm mit uns. Wir fliegen einmal um die Welt und wieder zurück." Sie nahmen Annika und die Sternschnuppe in ihre Mitte, und los ging die Reise! Einmal die Milchstraße hinauf und wieder hinab, vorbei an bunten Planeten und lustigen Kometen. Einmal durfte sich Annika gar auf den Bauch des Monde setzen und ihn an der Nase kitzeln.
Annika und ihre neuen Freunde flogen um die ganze Welt. Sie sahen die Ozeane und Wälder, die Berge und Felder winzig klein unter ihnen liegen. Sie flogen über das gewaltige Eismeer und dichte Dschungel, und die Eisbären und Pinguine, die lustigen Äffchen und die Tigerjungen winkten ihnen freudig zu.
"Wie schön alles von hier oben aussieht!" freute sich Annika. Die ganze Nacht tanzten und spielten sie gemeinsam.
Auf einmal erschien am Himmelshorizont ein strahlendes, goldenes Licht. "Das ist die Sonne." sagte der gute Mond. "Der Tag bricht an, und unsere Zeit ist nun um. Du musst wieder heim, kleine Annika!"
Annika sagte dem Mond und allen Sternen Lebewohl. Die kleine Sternschnuppe nahm Annika an der Hand und beide schwebten zur Erde zurück.
Bald lag Annika wieder in ihrem Bettchen. "Ich danke dir für diesen wunderschönen Traum, liebe Sternschnuppe!" sagte sie.
"Lebwohl!" antwortete die Sternschnuppe. "Vielleicht auf bald!" Aber Annika war schon wieder eingeschlafen.
Am nächsten Morgen kam ihre Mutter ins Zimmer.
"Hallo, mein Liebes! Hast du gut geschlafen und etwas Schönes geträumt?" fragte sie freundlich.
"Oh ja!" erwiderte Annika. "Ich bin mit den Sternen und dem Mond um die ganze Welt geflogen! Auch unser Häuschen habe ich von oben gesehen. So winzig wie eine Puppenstube sah es aus!"
Die Mutter streichelte Annika über ihr Strubbelhaar.
"Schön, daß dein Wunsch vom Fliegen doch noch in Erfüllung gegangen ist - und sei es auch nur im Traum." sagte sie lächelnd. "Aber nun rasch aus den Federn. Sieh, die Sonne steht schon hoch am Himmel!"
Annika sprang aus ihrem Bettchen und wollte in ihre Hausschuhe schlüpfen. Da sah sie auf dem Fußboden etwas blinken. Sie hob es auf und betrachtete es erstaunt. Es war ein kleiner goldener Stern mit einem nachtblauen Stein in der Mitte. Sie umfasste ihn ganz fest mit ihrer Hand, schaute zum Himmel und sagte leise: "Danke, kleine Sternschnuppe!"
Denn nun wusste sie, daß ihre nächtliche Reise kein Traum gewesen war.
[ 03.06.2002, 09:09: Beitrag editiert von: Pat ]