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Anopheles - Das letzte Kapitel

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31.10.2003
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Anopheles - Das letzte Kapitel

Anmerkung des Autors im ersten Kommentar!


Anopheles – Das letzte Kapitel

Weißt du, wie viel Mücklein spielen
in der heißen Sonnenglut,
wie viel Fischlein auch sich kühlen
in der hellen Wasserflut?
Gott, der Herr, rief sie mit Namen,
dass sie all ins Leben kamen,
dass sie nun so fröhlich sind,
dass sie nun so fröhlich sind.

- Altes, deutsches Volkslied -

Ian Catrall schleuderte vom Bett herunter, im selben Moment, als das mannsgroße Insekt, das vor wenigen Sekunden in das Haus eingedrungen war, darauf landete. Ein Fauchen war zu hören, viel zu hoch in seiner Frequenz. Dumpfe Schüsse drangen von außen herein.
Der Angriff war im vollen Gange; Mensch gegen Mücke, ein seit Jahrhunderten andauerndes Spiel, das jetzt seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien. Bedauerlicherweise nicht zum Gunsten der menschlichen Rasse.
Ian hatte eigentlich mit seinem Leben abgeschlossen; Conn, sein Freund und Geliebter, war tot. Alles war sinnlos. Oder?
Ein gewaltiger Stechrüssel tauchte über der Matratze auf. Ian sah die in strenger Reihe angeordneten Zacken, die ihn an ein überdimensionales Sägeblatt erinnerten. Der blutgefüllte Hinterleib der Mücke pulsierte. Auf den Facetten war kurz das Aufblitzen der Schüsse von draußen zu erkennen. Ian riss das Gewehr hoch.
Beißender Gestank erfüllte das kleine Schlafzimmer, nahm ihm fast den Atem. Am unteren Ende des Rüssels bildete sich ein gallertartiger Tropfen, der beängstigend schnell seinen Durchmesser vergrößerte.
Ian krümmte den Zeigefinger, und in einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst eines der Facettenaugen des Rieseninsekts. Breiige Tropfen regneten auf ihn herab. Ian schrie, pumpte mit einer kurzen Vor- und Rückbewegung des linken Arms eine neue Patrone in die Abschussvorrichtung der Schrotflinte.
Draußen explodierte etwas, das Glas des Fensters splitterte. Schreie wurden lauter, tränkten die Luft.

Die Mücke auf Ians Bett wirbelte herum, drehte sich im Kreis, wie ein Köter, der versuchte, seinen eigenen Schwanz zu fangen. Der gallertartige Tropfen löste sich vom Stechrüssel und landete zischend an der Wand. Weißer Qualm stieg auf.
Wieder schoss Ian. Ein gewaltiges Breifeld platzte an die hintere Schlafzimmerwand.
Der Kopf der Mücke war verschwunden, und sie kippte vornüber in das Laken.
Für einen Moment war es still.
Ian keuchte, sah sich gehetzt um. Ein Schatten zischte am vergitterten Fenster vorbei, kurz darauf ein zweiter. Kreischen!
Nicht menschlich, stellte Ian fest.
Schüsse fielen in schneller Reihenfolge. Der Kampf schien an seinem Höhepunkt, wenn es einen solchen überhaupt gab.

Den Schmerz ignorierend, der augenblicklich in seinem Knie entstand, sprang Ian auf die Beine. Er sah das tote Insekt auf der sich schnell rot färbenden Matratze; die extrem langen Hinterbeine zuckten noch immer.
Ian würgte, der Gestank war unerträglich, erinnerte ihn an eine Mischung aus faulen Eiern gepaart mit verwesendem Kadaver. Er drehte sich herum und übergab sich in einer Ecke des Schlafzimmers.
Das Kreischen von außerhalb gipfelte in einem Crescendo. Etwas krachte aufs Dach, gefolgt von einem lauten Poltern im ersten Stock.
Noch einmal würgte Ian, wischte sich den Mund. Ganz flach atmen! Und gleichmäßig!
Er blickte nach oben zur Decke. Winzige Staubpartikel regneten herab. Ein erneutes, bei weitem lauteres Poltern, dann ein Scheppern von Glas. Eines von diesen Dingern musste da oben sein.

Vor dem Haus prallte der gestreifte Körper einer Mücke gegen die Gitterstäbe des Fensters. Ian wurde zu Boden gerissen. Etwas saß zwischen den Flügeln des Insektes. War es ein Mensch? Die Mücke wirbelte wie ein Rodeobulle, das Wesen zwischen den Flügeln schien der Reiter. Ian erkannte zwei Flügelpaare.
Ein Engel! Das da draußen musste ein Engel sein. Also gab es sie doch! Für einen winzigen Augenblick dachte Ian an Conn. Er sah den Halbengel vor seinem inneren Auge, dachte an seine leidenschaftlichen Küsse.
Dann galt seine Konzentration wieder dem Rodeoreiter vor dem Fenster. Der Engel auf dem Mückenkörper riss seinen Kopf nach hinten, sein Unterkiefer spaltete sich längs. Etwas Langes, Dünnes stieß daraus hervor, bohrte sich zwischen die Flügel der Mücke.
Im selben Augenblick war das Bild verschwunden, und das einzige, was Ian durch das Fenster hindurch sah, war ein wolkenbedeckter Himmel, der an vielen Stellen von scheinwerfergleichen Sonnenstrahlen durchbrochen wurde.

Ein hohes Surren aus dem Flur zum oberen Stockwerk riss ihn aus seinen Gedanken. Ian presste das Gewehr gegen die Schulter.
Durch die offene Schlafzimmertür konnte er einen Teil des dahinter liegenden Flurs erkennen; er sah die beiden unteren Treppenstufen.
Keuchend wagte er nicht, sich zu bewegen. Der Lauf der Waffe wankte.
Du musst ihn ruhig halten!
Warum? Ich schieße mit Schrot.
Egal, was da gleich im Türrahmen auftauchte, auf diese Entfernung würde nicht viel davon übrig bleiben.
Wieder kreischte etwas draußen, und ein Windstoß traf die linke Seite seines Gesichts. Ian drehte sich nicht um, starrte gebannt auf den Türrahmen.
Sekunden später drang das Quietschen der Treppenstufen herüber; er konnte es deutlich hören, trotz des Getöses von draußen. Es war soweit, sie kam herunter!

Vorsichtig machte Ian einen Schritt zur Seite, so ließ sich der Flur besser einsehen. Weit hinten lag die herausgebrochene Haustür am Boden. Die Scherben einer zerbrochenen Vase ragten zum Teil unter dem Metall hervor. Wie lange war es her, dass er dort an der Tür gesessen hatte und sich eine Kugel durch den Schädel jagen wollte? Wie lange war es her, dass Conn durch diese Tür verschwunden war?
Ein Schatten tauchte auf der untersten Stufe auf, ganz schwach nur, doch Ian erkannte die Bewegung auf dem Holz. Vorsichtig wich er einen weiteren Schritt zur Seite.
Jetzt befand er sich direkt neben dem Bett. Der tote Mückenkörper darauf schien sich in seinem schlierenhaften Blut zu suhlen. Oder war es das Blut seiner Opfer? Ian fragte sich, ob er die Personen gekannt hatte, deren Lebenssaft nun seine Matratze tränkte? Mit Sicherheit! Und diese Erkenntnis war schlimmer, als der Gestank.
Nicht durch die Nase atmen.
Langsam ging er in die Hocke, den Blick nicht von dem Schatten lassend, der jetzt über dem Fußboden am Ende der Treppe zuckte. Das unterarmdicke Mückenbein auf seinem Bett nahm ihm kurz die Sicht. Ian hielt die Luft an.

„DARRR IST NOCH EINE!“, drang eine Stimme herein.
Ian zuckte nicht zusammen, Schweiß entstand in seinen Achseln. Er spürte es daran, dass es dort kühler wurde.
Der Schatten im Flur war verschwunden, oder lag es daran, dass er mittlerweile den gesamten Boden einnahm? Ian beobachtete die offene Tür. Wer hatte da geschrieen?
Ein zuckender Fühler tauchte am Fuß der Treppe auf, und im selben Moment schossen drei Gestalten in den Hausflur hinein.
Ian erkannte nicht, was es war, dafür waren sie zu schnell. Die Mücke wurde von den Stufen gerissen, und war innerhalb weniger Sekunden nach draußen befördert. Ein erbärmliches Kreischen drang stattdessen herein.

Ian spürte, wie die Waffe in seinen Händen schwerer wurde. Seine Hände zitterten, und kalter Schweiß entstand auf seiner Stirn. Dann verschwamm das Bild vor seinen Augen. Das letzte, was er wahrnahm, bevor er auf dem Holzboden aufschlug, war der Gestank.

In der Sporthalle

Dumpfe Stimmen. Weit weg. Wie unter Wasser.

* * *

Ian wollte die Augen öffnen, doch die Lider lagen wie Bleisäcke in seinem Gesicht. Einfach schlafen …

* * *

„Hallo, Conn.“
Der blonde Halbengel lächelte sanft.
„Bist du gekommen, um mich mitzunehmen?“
Conn trat näher, berührte Ians nackte Schulter.
Es war kalt. So kalt hier draußen.
Conn verschwand in einem gleißenden Lichtschein.

* * *

Was waren das für Stimmen, die allmählich lauter wurden? Klarer!
Wer hielt ihn vom Schlafen ab? Da war etwas Dumpfes in seinem Kopf.
Laute, schrille Stimmen …

* * *

Conn stand am See.
Das schillernde Glitzern stach in Ians Augen. Er musste sie zusammenkneifen, sah den Halbengel nur noch schemenhaft.
„Sie werden bald schlüpfen“, sagte Conn.
Ian trat näher an das Gewässer, sah dunkle Schatten unter der Oberfläche. Es waren viele. Sehr viele!
„Wann?“, fragte er.
Conn blickte ihm tief in die Augen, und Ian erkannte eine unendliche Traurigkeit in ihnen. „Bald!“

* * *

„Caaatraaal …“
Undeutlich. Das Dumpfe in seinem Kopf kristallisierte sich als Schmerz heraus. Ein schriller Schmerz, ähnlich wie die Stimmen.
„Junge … du … miiii…?“
Ein Klatschen! Brennen in seinem Gesicht. Es stach hinter der Stirn.
„Ian! Junge!“
Er kannte die Stimme. Eine alte Stimme.
Klatsch!
„Junge, wach auf!“
Jemand schlug ihm ins Gesicht. Ian öffnete die Augen, keine Bleisäcke mehr. Alles hell. So hell, dass es schmerzte. So hell wie der See …

„Er ist wieder da! Hey, Junge. Erkennst du mich?“
Das glänzend stechende Bild vor seinen Augen wurde klar. Das faltige Gesicht von Malcolm Hansen entstand. Hansen, der Trinkwasserversorger des Ortes.
Ian wollte etwas sagen. Unabhängig davon, dass ihm nicht einfiel was, schien es auch nicht zu funktionieren.
Eine weitere Person tauchte hinter Hansen auf. Schemenhaft. Irgendwie unwirklich, stellte Ian fest. Und … viel zu dünn.
„Wie ist sein Befinden?“, fragte die unwirkliche Person. Die Stimme klang zu hoch für einen Mann. War es überhaupt ein Mann?
Ian versuchte schärfer zu sehen, doch alles was weiter als Mister Hansen von seinem Gesicht entfernt war, wirkte wie die Sicht durch ein falsch eingestelltes Fernglas.
Hansen drehte sich um. „Er wird wach, Colonel.“
Colonel? Die Armee? Was tat die Armee hier? Bisher hatte sich nicht ein einziger Soldat um ihren Ort gekümmert.
Ian hob seinen Arm; Gewichte schienen darum gewickelt zu sein, heißen Tüchern gleich, die ihn nach unten zogen.
Hansen sah ihn wieder an, griff seine Hand. „Hey, Junge. Du bist wieder unter den Lebenden.“
„Wo …“ Ians Hals brannte. „Wo bin ich?“
Ein Schrei drang herüber, lang und hallend. War er doch noch nicht in Sicherheit?
Hansen schien seinen besorgten Blick zu bemerken. „Es ist alles in Ordnung, Ian. Wir sind in der Sporthalle. Alle, die noch leben.“ Er wischte Ian mit einem Tuch über die Stirn.
„Frrragen Sie ihn!“ Der Colonel beugte sich herunter.
Er ist viel zu dünn, schoss es Ian wieder durch den Kopf.

„Frrragen Sie ihn!“, wiederholte er, indem er das „r“ noch länger zog.
„Einen Augenblick, Colonel.“
„Wirrr haben keinen Augenblick.“ Die dünne Person stieß Hansen beiseite und trat in Ians Blickfeld.
Ihm stockte der Atem. Sein Gegenüber hatte einen stromlinienförmigen Kopf ohne Nase. Die untertassengroßen Augen befanden sich fast seitlich des Kopfes, die Pupillen bestanden aus Hunderten von Facetten. Der Mund war winzig im Verhältnis zu den Augen, die Lippen ein schmaler Streifen. In Höhe des Kinns lappten zwei schuppenähnliche Hautfalten übereinander, die sich über den Hals bis hinunter zum Brustbein zogen. Darunter pulsierte es.
Ian erinnerte sich an den Rodeoreiter vor seinem Fenster; irgendetwas Tödliches befand sich unter den Hautfalten.
Die übrige Gesichtshaut des Offiziers war durchsichtig, und Ian konnte unendlich viele, sich kreuzende Bahnen von Adern erkennen. Muskelstränge verdeckten die Sicht auf den dahinter liegenden Schädelknochen.
„Misterr Catrrral“, zischte der Colonel. Seine Lippen bewegten sich dabei so gut wie gar nicht.
Ian erkannte, dass Malcolm Hansen sich aufgerichtet hatte.
Der Colonel beugte sich noch weiter herunter. Sein Kopf war nun ganz nahe an Ians Nase. Er roch nach Vanille.

„Colonel?“
Der durchsichtige Kopf flog herum. Als Ian den Mann im weißen Schutzanzug sah, der hinter dem Offizier aufgetaucht war, registrierte er erst, dass er wieder richtig sehen konnte.
Auch hatte der Schmerz in seinem Kopf nachgelassen.
Der Colonel erhob sich. Er war so hager, dass Ian seine Hüfte mit zwei Händen hätte spielend umfassen können. Der Körper war in einem grauen, gummiähnlichen Anzug gepresst. Er hatte Ähnlichkeit mit einem Taucheranzug, nur schien dieses Kleidungsstück bei weitem dünner zu sein. Jeder Muskel war zu erkennen, und der Körper des Soldaten schien ausschließlich aus Muskeln zu bestehen.
Als er sich zu dem Mann im Schutzanzug umdrehte, sah Ian die zwei filigranen Flügelpaare, die in Schulterblatthöhe aus dem Anzug traten und bis hinunter zu den Waden reichten. Die Flügel erinnerten ihn an eine Libelle.
So sahen also die Engel aus. Die drastische Weiterentwicklung der Halbengel, wie Conn einer gewesen war, verblüffte Ian. Kein Abfallprodukt mehr. Vor ihm stand die ultimative Waffe gegen die Riesenmücken!

Ian stellte zum ersten Mal fest, dass er an Conn denken konnte, ohne einen Anflug von Traurigkeit zu empfinden, doch mochte das auch an der momentanen Situation liegen.
„Ich werde mich um ihn kümmern, Colonel“, sagte der weiße Mann. „Bereiten Sie inzwischen alles vor.“
Der Engel drehte sich noch einmal um, sah Ian aus den Facettenaugen heraus an. Dann war er verschwunden.

* * *

Der See brodelte an einigen Stellen, schien zu kochen; die Luft war getränkt mit konstantem Surren.

Wissenschaftliche Theorien


Sie saßen in einem kleinen Büroraum innerhalb der Sporthalle, ein kaffeeähnliches Getränk dampfte aus alten Plastikbechern auf dem Tisch, der fast den gesamten Raum einnahm. Um ihn herum saßen Malcolm Hansen – er hatte seit dem letzten Angriff eine Art Anführerposition eingenommen -, der Mann im weißen Schutzanzug und Ian selbst. Der Weiße hieß Professor Elias Stokmann, er hatte sich Ian als Entomologe vorgestellt.
Durch ein Fenster mit Plexiglasscheibe konnte Ian in die Sporthalle sehen, die in ein Lazarett umgewandelt worden war. Männer in weißen Anzügen, wie Professor Stokmann, und andere in weißen Kitteln, kümmerten sich um eine unzählige Reihe von Notbetten, in denen schreiende Menschen lagen. Viele hatten keine Gliedmaßen mehr. Die Schreie selbst konnte Ian hier drin nicht hören, er sah es an ihren Gesichtern.
Metallwagen mit diversen chirurgischen Instrumenten standen überall herum. Blutverschmiert. In regelmäßigen Abständen befanden sich Mülltonnen, deren Deckel geschlossen waren. Engel konnte Ian keine sehen.

Professor Stokmann, ein Mittdreißiger und recht gutaussehend, wie Ian fand, stierte auf sein Notebook. „Wir haben inzwischen eine Menge über Culicidae erfahren.“
Hansen sah von seinem Kaffee auf. „Culi… was?“
„Culicidae! Die gemeine Stechmücke. In Ihrem Fall, Mister Hansen, Mister Catrall, handelt es sich sogar um Anopheles.“ Bevor Hansen etwas sagen konnte, fügte Stokmann hinzu: „Malariamücke, auch als Gabel- oder Fiebermücke bekannt.“
„Groß sind sie alle“, sagte Hansen beiläufig.
„Ja, das sind sie alle, Mister Hansen. Nur im Fall Ihrer Anopheles sind sie zudem noch um ein Vielfaches gefährlicher.“
Ian sah auf. Er wusste noch immer nicht, warum er hier saß. Der Professor hatte ihn zusammen mit Hansen hierher gebracht, kurz nachdem der Engeloffizier verschwunden war.
„Was soll das heißen, unsere Mücken sind gefährlicher? Gefährlicher als was, Mister Stokmann?“
„Gefährlicher als alle Anophelesarten, die wir bisher kennen. Wir waren bis dato der Ansicht, dass uns Anopheles in jeglicher Form bekannt ist; durch Zytotaxanomiebestimmung oder DNA-Hybridisierung konnten wir im Bereich der gezielten Vektorbekämpfung durchaus Erfolge verzeichnen. Auch unsere Forschungsbemühungen in der molekularen Entomologie konzentrierten sich darauf, Anopheles genetisch so zu manipulieren, dass sich keine Plasmodien mehr in ihnen entwickeln können, was bislang ebenfalls problemlos verlief. Wir waren der Meinung, Anopheles in seiner jetzigen Form innerhalb kürzester Zeit eingedämmt zu haben.“ Er machte eine kurze Pause. „Bis Ihre Gattung auftauchte.“
„Halt! Halt! Halt!“ Malcolm Hansen winkte ab. „Verschonen Sie uns bitte mit Ihrem Fachchinesisch, Professor. Sie sitzen hier mit Normalsterblichen. Oder was sagst du, Ian?“
Ian blickte auf. Für einen Moment traf ihn Stokmanns Blick.
„Ja“, murmelte er. „Mich würde ebenfalls interessieren, warum ausgerechnet ich hier bin?“ Ian hatte zwar auch nur die Hälfte von dem verstanden, was der Professor von sich gegeben hatte, doch interessierte ihn mehr, was ihn das alles anginge.
Stokmann lehnte sich zurück und verschränkte die Arme im Nacken. „Ich will versuchen, mich klarer auszudrücken. Bitte verzeihen Sie, meine Herren. Auf Ihre Anwesenheit, Mister Catrall, komme ich gleich zurück.
Zunächst einmal: Wir haben bisher keine Möglichkeit gefunden, die Art der hier auftretenden Anopheles zu analysieren. Ihre Molekularstruktur ist bereits derart mutiert, dass wir nicht gezielt gegen sie vorgehen können.
Diese Dinger besitzen bereits in jedem Zyklus eine veränderte Struktur in ihrer DNA. Entschuldigen Sie meine impulsive Ausdruckweise, meine Herren.“ Rote Flecken hatten sich auf dem Gesicht des Professors gebildet. Nach einer kurzen Weile schien er sich wieder gefangen zu haben.
„Gut, wir können die Engel einsetzen. Sie sind indessen in ihrer genetischen Formation so weit fortgeschritten, dass sie es mit jeder Mücke aufnehmen können. Selbst mit Ihrer Anopheles.“
„Aber das ist doch gut“, fiel ihm Hansen ins Wort.
„Ja, sicherlich. Aber bei weitem nicht ausreichend. Wir können mit Hilfe der Engel einen Angriff abwehren, aber nur in begrenztem Maße. Mücken haben den gewaltigen Vorteil, dass der Anstieg der Populationsrate überdurchschnittlich hoch ist. Die Larven der uns bekannten Anophelesarten haben beispielsweise einen Entwicklungszyklus von acht bis vierzehn Tagen, abhängig vom Gewässer und Wetter.
Anhand der Populationsdichte der hier vorkommenden Art, haben wir berechnet, dass Ihre Larven maximal fünf Tage benötigen. Und das unabhängig von den äußeren Umständen. Sie verstehen, was ich damit sagen will, meine Herren?“
„Wir leben gefährlich“, sagte Ian.
In der Sporthalle schrie jemand. Ian sah einige Männer in weißen Kitteln um einen Tisch stehen. Einer von ihnen rannte hektisch zu einem der Instrumentenwagen und kam mit einer Knochensäge zurück.

„Ja, Mister Catrall, Sie leben gefährlich. Und wenn wir keine Lösung finden, hat Anopheles binnen sechs Monate unseren vorherrschenden Platz auf dem Planeten eingenommen. Wir haben Ihre Art übrigens spaßeshalber Anopheles CII getauft. Nach Ihrem Ort hier: Curnie Falls. Die II steht für die beiden „l“ in Falls.“
„Ja, wirklich sehr komisch“, murmelte Ian. Stokmann wurde ihm immer unsympathischer.
Der Professor deutete durch das Fenster in die Halle. „Eine weitere Besonderheit von CII. Neunzig Prozent der Verletzten werden innerhalb der nächsten zwei Tage sterben. Grausam sterben, meine Herren. Wir versuchen es mit Amputationen jeglicher Art, aber erfahrungsgemäß haben wir wenig Erfolg.
Nur ein winziger Tropfen des Drüsensekrets reicht aus, um jede Zelle des Opfers mit Plasmodien zu infizieren. Sobald der Körper befallen ist, beginnen die Zellen sich langsam aber stetig zu zersetzen. Daher versuchen wir es stets durch großzügiges Entfernen.“
Ian spürte, wie sein Magen rebellierte. Hastig trank er einen Schluck Kaffee.
Auch Hansen hatte eine bleiche Gesichtsfarbe angenommen.
„Die Basisreproduktionsrate bei der gemeinen Mücke“, fuhr Stokmann fort, „liegt im Schnitt bei 1 bis 4. Das bedeutet, jeder Infizierte führt zur Infektion von ein bis vier weiteren Personen.“
„Infektion mit was?“
„Plasmodien, Mister Hansen. Viren, die für das Gelbfieber verantwortlich sind. Einer unbekannten und äußerst aggressiven Form des Gelbfiebers. Die Sterberate im Falle einer Infektion liegt bei 100 Prozent.“
Hansen keuchte.
„Die uns bis dato bekannten Anophelesarten haben eine Basisreproduktionsrate von 190! Die Art, die hier bei Ihnen den Ursprung hat, eine von 14.000!“

„Das heißt, wir werden alle sterben?“, warf Ian in den Raum.
„Das Virus bricht zwölf Stunden nach Kontakt aus. Erst dann ist es ansteckend. Und selbstverständlich tödlich.“
„Ja, selbstverständlich. Warum amputieren sie dann überhaupt?“
Stokmann klappte das Notebook zu. „Die Amputationen erfolgen zur Eindämmung der Zersetzung. Und es gibt wahrhaftig Personen, die nicht infiziert sind. Die Chance tendiert gen Null, aber zumindest ist eine vorhanden. Und was bei Weitem noch erschreckender ist, meine Herren, ist die Tatsache, dass die Ansteckung noch Tage post mortem besteht.“
„Und es gibt keine Möglichkeit, die Viecher zu vernichten?“, fragte Hansen. Seine Hände zitterten.
„Ich hoffe, Ihnen ist bewusst, Mister Hansen, wären heute unsere Engel nicht rechtzeitig eingetroffen, dann gäbe es Ihren Ort inzwischen nicht mehr. Wie ich ja bereits zu Anfang erwähnte, besitzt jede neue Generation eine veränderte DNA-Struktur. Uns fehlt das Grundgerüst, die Ursprungsversion sozusagen. Verstehen Sie?“
„Nein“, sagte Hansen.
Ian konnte dem Professor folgen. „Und was können wir tun?“ Er stellte den leeren Plastikbecher zurück auf den Tisch. „Ich gehe einmal davon aus, Sie und Ihre Engel sind nicht aus reiner Nächstenliebe hier aufgetaucht.“
„Ihr Vater, Mister Catrall, hat mit ziemlicher Sicherheit die Art bestimmt.“
Ian schluckte. „Mein Vater? Mein Vater ist seit zwei Monaten tot. Und was hat er mit Mücken zu tun?“
Stokmann sah ihn ernst an. „Er hat für die Regierung gearbeitet!“
Ian sprang auf, so dass der Stuhl polternd nach hinten fiel. Was redete der Kerl da für einen gequirlten Mist?
„Mein Vater war Arzt, Mister Stokmann! Ein ganz gewöhnlicher Arzt, nichts weiter.“
Auch Hansen war aufgestanden. Er legte Ian die Hand auf die Schulter. „Bitte, Ian. Setz dich wieder hin. Was Mister Stokmann gesagt hat, ist wahr.“

Am See

Die zehnjährige Rose Miller torkelte durch das schilfähnliche Gras. Der schwere Patronengurt, der quer über ihre Schulter hing, und der Revolver an ihrer Hüfte machten das Laufen nicht gerade einfacher, zogen ihren Körper wie Bleisäcke nach unten.
Es war Nacht, und der Mond verlieh der Umgebung ein schemenhaftes Aussehen aus miteinander ringenden Schatten, welche den mannshohen Schilfhalmen zu Füßen lagen.
Trotz des klaren Himmels fiel ein feiner Regen, der die spärliche Kleidung des Mädchens unterdessen vollkommen durchnässt hatte. Ihr war kalt, und die meisten ihrer Glieder fühlten sich taub an. Ein Schilfblatt, an dem sie entlang streifte, schnitt in ihren Arm, doch es kam ihr vor wie eine sanfte Berührung; lange war es her, dass sie bei Schmerzen geschrieen oder gar geweint hatte.
Trotz ihres jungen Alters, fühlte sich Rose bereits erwachsen. Zu viel hatte sie erlebt, zu viel, seit es die Mücken gab.

Der heutige Angriff war einer der Schlimmsten gewesen, an den sie sich erinnern konnte. Sie hatte viele aus dem Ort sterben sehen, während sie aus den offenen Fenstern der Wohnung ihrer Eltern versucht hatte, die Biester von dem Haus fernzuhalten. Seit Vaters Tod und der schweren Krankheit ihrer Mutter, war sie für die Verteidigung des Hauses und ihres Lebens allein verantwortlich. Dad hatte ihr damals das Schießen beigebracht, und das zeichnete sich jetzt aus.
Ihre Hand tat weh, ebenso die Schulter des rechten Armes, was wohl am Rückschlag des Revolvers lag.

Nach einiger Zeit wurde der Boden unter ihren Füßen weicher, das Schilf höher. Ihr war nicht bewusst, wo genau sie sich befand. Als die Mücken in das Haus ihrer Eltern eindrangen, war sie aus dem Fenster gesprungen und einfach nur gelaufen. Das war kurz nach Sonnenuntergang gewesen.
Ihre Mutter war ein paar Stunden zuvor gestorben. Der Husten war immer schlimmer geworden, und zum Schluss hatte sie nur noch Blut, vermischt mit dicken Brocken Eiters gegen die Wand gekeucht.
Rose hatte noch versucht, den Sohn von Dr. Catrall zu überreden, ihrer Mutter zu helfen, doch war dieser mit anderen Dingen beschäftigt. Jeder im Ort beschäftigte sich mit anderen Dingen, wenn einmal kein Angriff stattfand. Doktor Catralls Sohn hatte gesagt, dass er ihrer Ma nicht helfen könne, weil er kein Arzt sei, und er hatte Rose wieder nach Hause geschickt. Das eigentliche Sterben ihrer Mutter hatte sie nicht einmal mitbekommen, da sie zu der Zeit mit der Verteidigung des Hauses beschäftigt war.

Mit einem Mal war das Schilf verschwunden, der Boden bestand aus feinem Kies, durchzogen mit sandähnlichem Schlamm. Sie blieb stehen und blickte auf die schillernde Fläche, die vor ihr lag.
Jetzt wusste sie es: Sie stand am Ufer des Snow-Water-Lakes, einem der größten Seen in der Umgebung um Curnie Falls. Und ebenso einem der größten Brutstätten für Mücken, wie der alte Mister Carpenter kurz vor seinem Verschwinden gesagt hatte.
Wie oft hatten ihre Freundinnen und sie hier gespielt? Damals, als sie noch Kinder waren, als es noch Schulen gab, und als die Mücken noch klein waren und man sie mit der flachen Hand erschlagen konnte. Nur gejuckt hatten ihre Stiche; es war sehr nervig. Nur gejuckt.

Rose ließ sich mit den Knien auf den feuchten Boden sinken, vergrub ihre Finger in dem kalten Kies. Die Erschöpfung würde sie bald zwingen, die Augen zu schließen. Wie lange hatte sie nicht mehr geschlafen? Ihre Eltern hatten sich keine Gitterstäbe vor den Fenstern leisten können, und so hatte sie Wache gehalten, jede Nacht, während ihre Mutter im Fieberwahn laut nach ihrem Mann schrie und dabei ihre Blut-Eiter-Mischung spuckte. Tagsüber hatte Rose ein wenig geschlafen, meist nie sehr lange; die Mücken ließen nie lange auf sich warten. Die Zeiten, in denen sie nicht kamen, waren immer kürzer geworden, dafür die Angriffe immer härter und blutiger.

Rose spürte den Durst, der ihr beim Anblick auf das Wasser wieder bewusst wurde. Auf der Oberfläche sah sie die Sterne und den Mond. Sie blickte auf, genoss einen Augenblick lang die unendliche Weite, die sich da über ihr auftat. Es sah aus wie ein riesiges Zirkuszelt mit winzigen Lichtern.
Als sie den Kopf ein wenig drehte, erkannte sie über dem Schilf weit am Horizont Rauchschwaden, die träge gen Himmel stiegen, und an dieser Stelle das schöne Bild des Zirkuszelts zerstörten. Curnie Falls, ihre Heimatstadt, brannte.

Der Durst wurde schlimmer. Vorsichtig tauchte sie ihre Hände in das schwarze Nass und führte sie zum Mund. Es schmeckte herrlich. Der Mond, der sich auf der Fläche spiegelte, blitzte in ihren Augen; der feine Regen kräuselte die Oberfläche an einigen Stellen, so dass es aussah, wie unreine Haut. Hin und wieder wurde das Lichtspiel von einem schwarzen Körper durchbrochen, der aus dem See auftauchte, gleich darauf aber wieder verschwunden war, so dass Rose nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob es sich um eine Sinnestäuschung oder tatsächlich um ein Ding handelte, das da unten im Wasser lebte, sich dort entwickelte, um in ein paar Tagen hervorzubrechen und sich in die Lüfte zu erheben.
Rose wich zurück. Eine Gänsehaut breitete sich in ihrem Nacken aus.
Sie würde sich niemals an die Mücken gewöhnen, falls so was überhaupt möglich war.

Während ihrer Flucht hatte sie die Engel gesehen. Es waren viele, und sie hoffte, dass diese genetische Entwicklung den Mücken schwer zu schaffen machte.
Rose hatte vorher noch niemals einen Engel gesehen, außer dem verschwundenen Freund des jungen Mister Catrall, den sie um Hilfe gebeten hatte. Aber das war ja auch kein richtiger Engel gewesen; bis auf die Flügel hatte er noch immer wie ein Mensch ausgesehen. Mit Conn hatte er sich ihr vorgestellt, als sie sich einmal mit ihm unterhalten hatte.
Die Leute im Ort hatten ihn nicht gemocht, weil er anders war. Mister Catrall hatte das wohl gemerkt. Vielleicht hatte er ihrer Mutter deshalb nicht geholfen.
Ihre Lider wurden schwer, und Rose legte sich neben das Schilf auf den Kies. Sie nahm den Revolver in ihre Hand, legte ihn ganz dicht vor ihr Gesicht, dann schlief sie ein.
Das Wasser brodelte an einigen Stellen, als der Mond kurz hinter einer Regenwolke verschwand.

In Ians Haus

Das Gewehr in seinen Händen schien an Gewicht zuzunehmen. Ian stand im Hausflur auf der am Boden liegenden Metalltür und blickte in sein ehemaliges Schlafzimmer.
Noch immer lag der kopflose Mückenkadaver auf dem Bett, die Matratze unter ihm hatte inzwischen einen dunkelbraunen Farbton angenommen. Die Wand hinter dem Bett war gespickt mit undefinierbaren Fleischklumpen, die Ian an Hundekot erinnerten.
Wie lange war es her, dass er mit Conn auf diesem Bett gelegen hatte? Dass er die Wärme des Halbengels auf seiner schweißnassen Haut gespürt hatte? Seine Küsse, seine Berührungen, sein Dasein. Eine Gedankenflut schien sein Innerstes ertränken zu wollen; es war, als lege sich ein breiter Gürtel um seinen Brustkorb, der von unsichtbarer Hand zugezogen wurde und ihm die Luft nahm. Ian wandte den Blick ab.
Der schwer bewaffnete Soldat, der im Türrahmen stand, starrte apathisch zu ihm herüber. Ian sah ihm direkt in die Augen, doch schienen diese genauso tot, wie der Rest des Gesichtes. Der Soldat wandte sich ab und blickte wieder in die Dunkelheit, die in den Straßen lag, wie wabernder Nebel. Wo waren eigentlich die ganzen Engel?

Im oberen Stockwerk polterte es, und Ian vernahm Stimmen.
Vor einer halben Stunde hatte Professor Stokmann den Engelcolonel und einigen Soldaten den Auftrag erteilt, das Haus von Jeremias Catrall zu durchsuchen.
„Konfiszieren Sie alles, was irgendeinen Aufschluss über seine Arbeiten geben könnte!“, hatte er den hochrangigen Offizier angefahren. Stokmann schien mit enormen Kompetenzen ausgestattet zu sein.
„Aber wenn mein Vater für die Regierung gearbeitet hat“, hatte Ian eingeworfen, „warum haben Sie dann keine entsprechenden Unterlagen?“
Stokmann hatte ihn gereizt angesehen. „Ihr Vater hat uns …“ Er stockte. „Sagen wir einmal: Ihr Vater hat uns nicht alles erzählt.“
Ian hatte nichts dazu gesagt.
„Ich möchte“, war Stokmann fortgefahren, „dass Sie meine Männer in jeglicher Hinsicht unterstützen.“
„Kein Problem.“ Ian war inzwischen alles egal.

„Mister Catrall?“ Ein junger Soldat, dessen Kampfhose über dem linken Stiefel eingerissen war, tauchte am oberen Rand der Treppe auf.
Ian drehte den Kopf und sah ihn fragend an.
„Mister Catrall, der Colonel wünscht Sie zu sprechen.“
Der Soldat wartete geduldig, während Ian sich auf den Weg ins obere Stockwerk machte. Auf der Treppe überfiel ihn ein warmes Gefühl der Geborgenheit. Es roch nach frisch aufgebrühten Kaffee, wie ihn seine Mutter immer gekocht hatte; Ian hörte Kinderlachen. Es war sein eigenes Lachen, sein eigenes, lang zurückliegendes Kinderlachen.
Der Soldat mit der eingerissenen Hose trat zur Seite. Der Colonel mit den Facettenaugen und dem hautengen Anzug trat aus dem Zimmer am Ende des oberen Flurs, und Ian erkannte, dass die Adern unter der durchsichtigen Haut heftig pulsierten.
„Misterrr Catrrrall“, rief dieser jetzt. Dann verschwand er wieder in dem Zimmer, ohne abzuwarten, ob Ian ihm überhaupt folgte. Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass jeder das tat, was er von ihm verlangte.

Ian ging über den Flur auf das Zimmer zu. Es war Dads Arbeitszimmer.
Als er es betrat, schlug ihm ein unbeschreibliches Chaos aus umgefallenen Möbeln, verstreuten Papieren und darin kramenden Soldaten entgegen.
Der Colonel sah Ian an, zumindest vermutete Ian das, da er die Blickrichtung der Facetten nicht einordnen konnte. „Sehen Sie sich das hierrr einmal an!“, sagte der Engel.
Als Ian hinüberging, hielt ihm der Offizier ein Blatt Papier entgegen. Ian erkannte die Handschrift seines Vaters.
Das Papier war über und über mit Formeln übersät, lateinische Worte stachen hervor, einige von ihnen hatte Ian heute schon einmal gehört. Culicidae, Reproduktionsrate, Plasmodien. Die anderen sagten ihm nichts.
„Das ist derr einzige Hinweis, den wirrr bisherr entdeckt haben“, fuhr ihn der Colonel an.
Ian spürte, wie sein Herzschlag schneller wurde; er ließ sich jedoch nichts anmerken.
Der Colonel trat näher an ihn heran. Die Deckenbeleuchtung blitzte hundertfach in seinen Augen. „Wo befinden sich die Unterrrlagen Ihrres Vaterrs?“
„Woher soll ich das wissen?“ Jetzt war auch Ian laut geworden. Irgendwie konnte er diese rollende Stimme nicht so recht ernst nehmen.
Die Soldaten in dem Zimmer blickten auf; für einen Augenblick herrschte absolute Stille.
Das Adern unter der Haut des Colonels schwollen an. „Sie haben die letzten Monate hierrr gelebt, Misterrr Catrrall!“
Ian trat einen Schritt zurück, sah sein Gegenüber an. Die beiden großen Hautlappen, die vom Kinn bis zum Brustbein reichten, öffneten sich einen Spalt; durchsichtige Schleimfäden versuchten, sie zusammen zu halten.
„Ich war nie hier drin“, sagte Ian jetzt vorsichtig.
Der Kopf des Engels zuckte, dann schlossen sich die Hautfalten wieder. Als er fortfuhr, klang seine Stimme gefasster. „Hat Ihrr Vaterr noch anderrrswo Unterrlagen?“
„Ich … weiß es wirklich nicht.“

„Colonel!“, unterbrach einer der Soldaten, der hinter dem Schreibtisch hockte und in einem großen Ordner blätterte.
Der Offizier funkelte Ian noch einmal an, dann wandte er sich dem Soldaten zu.
Eine Weile studierte er das Blatt, das ihm der Mann hinhielt. „Was sagen Ihnen die Namen Morrtimerr Carrrpenterr und Jesse Porrk, Misterr Catrrall?“

Larven im See

Die kleine Rose Miller schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Ihr Keuchen drang laut in ihren Verstand, und sie wusste nicht, ob sie geschrieen hatte.
Sie hatte einen schrecklichen Albtraum gehabt, hatte auf dem kalten Küchenboden im Haus ihrer Eltern gelegen. Eine riesige Mücke stand über ihr, schleimige Tropfen lösten sich aus dem Saugrüssel, der sich ihrem Gesicht näherte.
Neben sich hatte ihre Mutter gestöhnt, und als Rose hinüberblickte, sah sie eine weitere Mücke, die ihren Rüssel tief in den Unterleib ihrer Mutter gebohrt hatte. Da, wo das Sekret in den Körper eingedrungen war, brodelte das Fleisch und verteilte sich träge in einer großen Pfütze über dem Fußboden.
Rose war aufgewacht, als sie die Spitze des Rüssels an ihren eigenen Lippen spürte …

Jetzt lag sie hier auf den kalten Uferkieseln des Snow-Water-Lakes. Der Nachthimmel war inzwischen von einer dichten Wolkendecke verhangen; der Nieselregen hingegen hatte aufgehört.
Rose fröstelte, ihre spärliche Kleidung war nass, und außerdem schmerzte jeder Muskel in ihrem Körper. Instinktiv griff sie nach dem Revolver, doch ihre Hand ertastete nur den leeren Halfter. Erschrocken fuhr sie hoch, wodurch sich ihr Rücken lautstark beschwerte. Wo war die Waffe?
Panik explodierte in ihrem Innern. Du wirst hier draußen ohne Waffe keine Stunde überleben!
Ihre Hände tasteten hektisch über den rauen Boden; ihre Atmung wurde schneller, unkontrollierter. Kurz darauf spürte sie das kühle Metall an ihren Fingern. Sie lachte laut auf, als sie den Revolver an ihre Brust drückte. Die Erinnerung war wieder da: Sie hatte ihn doch vorhin aus dem Halfter genommen, als sie sich zum Schlafen hinlegte. Schnell kontrollierte sie die Trommel, sie war voll.

Einen weiteren Moment später stand sie mühsam auf, stellte dabei fest, dass es wohl keinen Teil ihres Körpers gab, der nicht schmerzte. Ihre Mutter hatte immer gesagt, je älter man wird, umso schlimmer wird’s mit den Knochen. Rose schauderte.
Der dunkle See lag zu ihren Füssen, wie ein wabernder Teppich aus Teer. Sanfte Wellen krochen heran und berührten die Spitzen ihrer Stiefel.
Rose stutzte. Hatte sie sich vorhin nicht extra weit entfernt vom See hingelegt? Jetzt war sie so dicht dran, dass das Wasser sie sogar erreichte. Schritt für Schritt wich sie zurück, ihre Finger umklammerten den Griff des Revolvers.
Die leichten Wellen des Sees leckten über den Kies, als suchten sie nach Rose´ Füßen. Erneut lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.
Jetzt erkannte sie auch, dass der See bis zum hohen Schilf reichte. Vorhin, bevor sie sich hingelegt hatte, war er noch mindestens zehn Meter davon entfernt gewesen. Was hatte das zu bedeuten?
Rose lauschte, doch es war nichts zu hören. Absolut nichts, lediglich das sanfte Knirschen unter ihren Stiefeln.
Das Wasser des Sees muss angestiegen sein! Ja, anders ließ sich das hier nicht erklären. Und wenn es tatsächlich so war, was war dann die Ursache?
Irgendetwas stimmte hier nicht, da war sich Rose ganz sicher. Nur was?

Der Mond brach durch die Wolkendecke und spiegelte sich schillernd auf der Oberfläche. Rose hielt die Luft an. War da ein Knacken im Schilf?
Ruckartig riss sie die Waffe in diese Richtung. In den letzten Monaten hatte sie gelernt, damit umzugehen. Wenn sie etwas treffen wollte, dann traf sie es auch. Und zwar genau dorthin, wohin sie gezielt hatte.
Leise spannte sie den Hahn.
Etwas schlug auf die Wasseroberfläche, und kurz entfuhr Rose ein spitzer Schrei.
Wieder platschte es. Kurz darauf erneut.
Vergessen war augenblicklich das Geräusch im Schilf. Da war etwas im See!
Langsam wandte Rose den Blick hinüber. Und dann sah sie es. Dunkle Körper – etwa von der Größe eines Mannes – tauchten in der Nähe des Ufers aus dem Wasser. Bedächtig, fast zeitlupenmäßig stiegen sie empor, als kämpften sie sich durch einen zähflüssigen Brei.
Rose ließ die Waffe sinken, ihr Mund öffnete sich. Keine Chance! Du hast nicht die geringste Chance. Immer mehr Körper tauchten auf, bedrängten sich gegenseitig. Niemand hat eine Chance!
Rose hatte in der Schule bis Eintausend zählen gelernt, und sie wusste, dass Eintausend schon ziemlich viel waren.
Die Körper, die sie hier sah, waren mehr. Sehr viel mehr als Eintausend!

In der Kirche

„Ruhe, Leute! Ich bitte euch, seid doch ruhig!“
Malcolm Hansen stand vor dem Altar, hatte seine Arme beschwichtigend nach vorn gestreckt und versuchte verzweifelt, die Menschen auf den Kirchenbänken zu beruhigen; Fünfundvierzig hatte er vorhin gezählt, als sie rein gekommen waren.
Hin und wieder standen einige auf, riefen etwas in das Getöse der Stimmen. Hansen sah lediglich ihre erbosten Gesichter und die Hände, die in seine Richtung wiesen. Verstehen konnte er sie nicht.
Neben Hansen standen Professor Elias Stokmann, der Entomologe, und Reverend Hill, der Pfarrer der Gemeinde. Seit dem gewaltsamen Tod von Reverend Hutmaker vor acht Jahren hatte er das Amt für das Seelenheil in Curnie Falls übernommen.
Als der Geistliche merkte, dass Hansen scheinbar nicht Herr der Lage werden würde, trat er nach vorn, legte dem alten Mann die Hand auf die Schulter und brachte ihn somit sanft zum Schweigen. Dann ging er bis zu den Stufen, die hinunter zum Mittelgang führten, und faltete die Hände vor der Brust. Er blickte schweigend auf die tobende Menge zu seinen Füßen; nicht mehr viele waren übrig geblieben, und irgendwie war es ein groteskes Bild, dass die Menschen jetzt in seiner Kirche saßen, während schwere Waffen die Bibeln in ihren Händen ersetzt hatten.
Sanftmütig blickte er hinab, und allmählich beruhigte sich die Menge. Vereinzelte Männer wollten noch etwas heraufschreien, doch wurden sie von ihren Frauen zum Sitzen aufgefordert.

Reverend Hill wartete noch einen Augenblick, dann trat er zurück und bedeutete Malcolm Hansen mit einer Geste, dass er jetzt sprechen könne.
Hansen nickte, Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, und auch sein dunkelblaues Hemd wies im Bereich der Achseln großräumig feuchte Flecken auf.
„Ich danke euch, dass ihr alle gekommen seid.“
„Ist ja auch nicht schwer, die paar Leute noch zusammenzukriegen“, meldete sich Salem Stoke aus der letzten Reihe, während er seine Hände demonstrativ im Nacken verschränkte. Salem war ein Großmaul, wie Hansen fand, und er hatte die unangenehme Eigenschaft, immer irgendeinen dummen Kommentar zu allem abzugeben.
„Danke, Salem“, sagte Hansen lediglich. „Die Sache ist ernst, Leute. Der heutige Angriff war einer der Härtesten, den wir in den letzen Monaten hatten.“
Einige blickten zu Boden. Hansen sah die junge Patricia Malonie. Sie hatte vor drei Monaten Ben Malonie, den Sohn des reichsten Mannes im Ort, geheiratet. Inzwischen war sie die Einzige, die von der Familie übrig geblieben war. Sie saß allein ganz außen in der Bank, direkt unter der traurig blickenden Madonnenstatue. Die Schrotflinte auf ihrem Schoß wirkte stumpf wie ihre Augen.
Hansen fuhr fort. „Wir haben es einzig und allein dem schnellen Eingreifen von Professor Stokmanns Engeln zu verdanken, dass …“
„Vielen Dank, Herr Professor!“, brüllte Salem Stoke von hinten; jetzt hatte er seine Füße auf die Ablage für die Gesangsbücher gelegt. „Schön, dass Sie und Ihre Engel so früh gekommen sind!“
Hansen wollte etwas erwidern, doch beließ er es bei einem strafenden Blick. „Ja, äh…, ich wollte damit sagen, dass wir alle hier heute nicht mehr sitzen würden, ohne die Hilfe von Professor Stokmann.“
Die meisten nickten zustimmend. Stoke zündete sich eine Zigarette an.
„Äh…, Leute, ich habe vorhin von Professor Stokmann erfahren, dass wir … äh…, dass wir …“

Jetzt trat der junge Professor vor. Inzwischen hatte er den weißen Schutzanzug abgelegt, und in Jeans und Turnschuhen sah er noch weniger wie eine wissenschaftliche Kompetenz aus.
„Wenn Sie gestatten, Mister Hansen?“
Sichtlich erleichtert trat Hansen zur Seite.
„Verehrte Bürger von Curnie Falls. Ich bedaure zutiefst die Verluste, die Sie erleiden mussten, doch ist es Fakt, dass die Regierung zurzeit keine Möglichkeiten besitzt, sämtlichen Bürgern des Landes ihren Schutz zukommen zu lassen. Bedauerlich, wahrhaftig. Leider aber unabdinglich.“
Ausgemergelte Gesichter blickten auf. Niemand sagte etwas, und auch Stoke hatte seine Beine wieder auf den Boden gestellt.
„Viele Städte sind inzwischen ausgestorben. Ich erzähle Ihnen nichts Neues. Schließlich haben wir es nicht erst seit gestern mit diesen Mutationen zu tun.
Es ist eine unabdingbare Tatsache, dass sich die Mücken zu schnell vermehren. Doch darf ich hier sagen, dass wir nicht mehr weit davon entfernt sind, Anopheles auszurotten.“

Stokmann blickte in aufhorchende Gesichter, und Hansen stellte mit Wohlwollen fest, dass der Professor bemüht war, mit verständlichen Worten zu sprechen.
„Ich muss gestehen, dass es kein Zufall und auch kein Anflug von Nächstenliebe war, dass wir Ihren Ort heute rechtzeitig erreicht haben.“
„Hab´s doch gesagt!“
„Das haben Sie, Mister Stoke, und ich bestreite ja auch in keiner Weise Ihre ausgezeichnete Menschenkenntnis. Wie gesagt, es hat einen Grund, dass wir unsere Engel in einen unbedeutenden Ort wie Curnie Falls eingesetzt haben.“
Wütendes Gemurmel breitete sich in der kleinen Kirche aus, doch niemand erhob das Wort.
Stokmann grinste, während Hansen und Reverend Hill einen flüchtigen Blick tauschten.
„Wie ich bereits Mister Hansen mitteilte, haben Berechnungen ergeben, dass die Umgebung von Curnie Falls die Brutstätte einer der gefährlichsten Anophelesarten ist, die wir bis dato kennengelernt haben.“
„Was soll das heißen?“, brüllte ein bärtiger Mann in der ersten Reihe. Der kleine Junge neben ihm hielt eine Schrotflinte, die mindestens einen Fuß größer war, als er selbst.
„Genau das, was ich sagte. Bis dato hatten wir eine Chance, der Bedrohung mittelfristig Herr zu werden, doch seit dem Auftreten von Anopheles CII – das ist die hier auftretende Art – stehen wir der Sache nicht mehr annähernd so positiv gegenüber.“
„Aber wir haben sie doch heute zurückgeschlagen“, rief eine Frau. Auch sie war bewaffnet.
Stokmann blickte zu Hansen, der seinen Kopf gesenkt hatte. „Der heutige Angriff war lediglich eine lapidare Vorhut.“
„Eine Vorhut?“, schrie der Bärtige aus der ersten Reihe. „Eine Vorhut? Ich habe heute meine Frau verloren!“ Er sprang auf. „Sehen Sie sich um, Mister. Sehen Sie sich um! Können Sie zählen? Verdammt noch mal, zählen Sie doch einfach mal durch! Wir sind nicht so wenige, weil die anderen heute etwas Besseres vorhatten.“
Stokmann senkte den Kopf. „Der Präsident der Vereinten Nationen hat beschlossen …“ Er machte eine kurze Pause. „Er hat beschlossen, dass der Einsatz nuklearer Waffen unumgänglich ist.“

Die Mücken schlüpfen

Ein schnell ansteigendes Motorengeräusch lenkte Rose´ Aufmerksamkeit vom See in Richtung der abseits liegenden Schotterstraße. Wenig später machte sie das Aufblitzen eines Scheinwerferpaars aus, das sich zuckend durch die Landschaft fraß. Sie ließ den Revolver in den Halfter gleiten und rannte los.
Schreiend und mit den Armen winkend erreichte sie die Straße, als ein Armeewagen hinter einem Hügel auftauchte. Rose kniff die Augen zusammen, als das Licht sie erfasste. Wenig später hörte sie das Bremsen von schweren Rädern auf feuchtem Schotter.
Der Geländewagen hatte ein paar Meter vor ihr angehalten; die Tür wurde ruckartig aufgerissen. Rose erschrak zu Tode, als ein dürres Wesen mit dicken Augen auf sie zusprang.
„Was tust du hierrr, Mädchen?“
Rose wich zurück, wollte nach der Waffe greifen, verlor den Halt und stürzte nach hinten. Das Wesen hatte sie erreicht, griff ihren Arm und hob sie mühelos wieder auf die Beine. Jetzt sah Rose, dass es sich um einen Engel handelte. Noch nie zuvor hatte sie einen von so nah gesehen; im Scheinwerferlicht des Armeewagens sah er gespenstisch aus. Das Licht spiegelte sich hundertfach in seinen großen Augen wider, und Rose sah, dass sich unter dem Gesicht etwas bewegte.
Die Beifahrertür des Wagens öffnete sich ebenfalls, und eine weitere Person sprang heraus. Es war der Sohn des verstorbenen Doktors.

Ian sah das Mädchen mit dem schweren Patronengurt, das er vom gestrigen Tag her kannte. Er überlegte wie sie hieß, doch fiel es ihm nicht ein.
„Mister Catrall“, rief sie ihm entgegen. Der Colonel ließ sie los.
„Mister Catrall, der See! Sie kommen!“
Ian ging auf sie zu, hockte sich und fasste ihre Schultern. Miller! Rose Miller! Genauso hieß sie! Sie hatte ihn gestern vor dem Angriff gefragt, ob er ihrer kranken Mutter helfen könne. Er hatte ihr erklärt, dass er kein Arzt sei und sie wieder nach Hause geschickt. Und jetzt stand sie hier draußen am See.
„Was machst du hier, Rose?“
Sie drehte sich um, zeigte hinunter zum See. Noch immer wirkte der große Revolver an ihrer Hüfte grotesk. „Der See, Mister Catrall. Sie schlüpfen! Ganz viele.“
Ian blickte hinauf zum Colonel. Dieser brüllte zum Wagen hinüber: „Corrporal! Machen Sie den Suchscheinwerrrferr an!“
Sekunden später explodierte ein greller Schein über das Schilf; er ließ die langen Halme wie blanke Knochen erscheinen.
Ian, der Corporal und Rose gingen die Uferböschung hinunter, bis sie den See sehen konnten. Das Wasser schien zu brodeln, genauer gesagt, war gar kein Wasser mehr zu erkennen. Der Scheinwerfer erleuchtete etwa die ersten einhundert Meter des Sees, der nur noch aus sich windenden Leibern bestand.
Ian stockte der Atem.
Es sind Millionen, Junge! Die Worte von Mister Carpenter, als er bei ihm am Küchentisch gesessen hatte, weckten die Erinnerungen an den Tag, an dem Conn verschwand. Millionen! Ian musste mit Entsetzen feststellen, dass der alte Mann Recht gehabt hatte.

Mumiengleich wanden sich die Körper aus dem See; Chitinhüllen barsten, dünne Beine kamen zuckend zum Vorschein. Manchmal drang ein Geräusch wie das Knacken einer Nuss zu ihnen herüber.
„Mein Gott.“ Die dünnen Lippen des Colonels vibrierten leicht. Er hatte seine Flügelpaare ausgebreitet, die filigranen Äderchen darin pulsierten.
Dann schlugen sie so schnell, dass Ian und Rose es nur am entstandenen Wind spürten. Der dünne Körper des Colonels erhob sich in die Luft, und im Bruchteil einer Sekunde war er beim Wagen.
„Brringen Sie Misterr Catrrall und das Mädchen zurück ins Dorrf, Corrporal!“
Der Soldat schwang sich hinter das Steuer.
Ein hohes Surren und der Engel stand wieder neben Ian. Noch immer war Ian fasziniert von der Geschwindigkeit dieser Wesen.
„Sagen Sie im Orrt Bescheid, dass die Mücken geschlüpft sind, Misterr Catrrall. Es wirrd etwa eine Stunde dauerrrn, bis sie flugfähig sind. Die Leute sollen sich vorrbereiten. Derrr Prrofessorr soll die Engel koorrdinieren.“
„Was ist mit Jesse Pork?“, wollte Ian wissen. Sie waren auf dem Weg zur Pork-Farm gewesen, da dieser, laut den Unterlagen von Ians Vater, die Ursprungsart der hier auftretenden Mücken in seinem Stall hielt.
Dad hatte tatsächlich dabei geholfen, diese Dinger zu züchten. Noch immer schauderte es Ian bei dem Gedanken daran. Ausgerechnet Dad.

Der Colonel erhob sich, verharrte etwa zwei Meter über ihren Köpfen. Der Wind, den die Flügelpaare machten, peitschte Ians Haar nach hinten. „Ich werrde raus zurr Farrm fliegen. Sagen Sie das dem Professorr. Sagen Sie ihm, dass wirr die Urrsprungs-DNA lokalisierrt haben. Err soll den Prräsidenten kontaktierren!“
Ian brüllte gegen den Wind an: „Den Präsidenten?“
Ein ungutes Gefühl entstand in seinem Innern, und das Beunruhigende daran war, dass Ian es nicht zuordnen konnte.
„Derr Corrporal wirrd Sie zurr Kirrche brringen! Dorrt findet zurrzeit eine Verrsammlung statt. Derr Pofessorr ist auch da. Err soll dem Prräsidenten alles errzählen! Beeilen Sie sich!“
Noch einmal wehte das Haar, dann war der Engel verschwunden.
Was hatte er gemeint?

Ein anschwellendes, hohes Surren drang vom See zu ihnen herauf, und Ian beeilte sich, Rose zum Wagen zu bringen.

Das letzte Kapitel

Hansen machte einen Schritt nach vorn, griff die Schulter des Professors und riss ihn herum. „Einsatz von Nuklearwaffen?“, brüllte er in das Getöse, das augenblicklich durch das Gotteshaus platzte. „Sie haben gesagt, Doc Catrall hätte die Art bestimmt!“
Eine der Kirchenbänke fiel polternd zu Boden; Frauen schrieen, andere versuchten, ihre Männer zu beruhigen.
Einzig und allein Salem Stoke hatte die Beine wieder auf die Bank gelegt und zog an seiner Zigarette.
Reverend Hill versuchte verzweifelt, seine Schäfchen wieder zur Vernunft zu bringen, rief beschwichtigend in die aufgebrachte Menge, doch erreichte seine Stimme nicht einmal die Personen in der ersten Reihe.

Die gewaltige Detonation eines Schusses ließ die Szenerie augenblicklich erstarren. Das Geschrei verstummte, und nur das metallische Scheppern einer Patronenhülse, welche die Stufen zum Mittelgang hinabkullerte, durchbrach die Stille.
Zwei Soldaten hatten sich aus den Ecken gelöst, und zielten mit ihren Sturmgewehren in die Menge. Ein weiterer, der neben dem Kruzifix an der hinteren Kirchenwand stand, zielte auf Malcolm Hansen, auf dessen Stirn nun ein roter Laserpunkt zu sehen war.
Professor Stokmann löste sich sanft aus dem Griff des alten Mannes. Demonstrativ tat er, als würde er sich Staub von der Schulter wischen.

Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen, wartete wortlos, bis sich die Männer und Frauen wieder hingesetzt hatten.
„Die nukleare Zerstörung ist für Sonnenaufgang vorgesehen. Ich bedaure diese Entscheidung, doch ist sie, wie ich bereits sagte, unumgänglich. Eine Diskussion diesbezüglich würde also nur unser aller Zeit vergeuden.
Ein inzwischen verstorbener Bewohner Ihres Ortes erforschte in unserem Namen die hier auftretende Spezies. Wie es schien, mit Erfolg.
Leider wartete Doktor Catrall mit der Bekanntgabe seiner Forschungsergebnisse, bis es zu spät war. Sie wissen um sein Schicksal, meine Damen und Herren.
Die molekulare Reproduktion der Ursprungs-DNA von Anopheles CII wird im schnellsten Fall ein paar Wochen dauern. Leider viel zu lange, wie Sie mir sicherlich zustimmen werden. Bis dahin wird sich Anopheles CII so weit ausgedehnt haben, dass eine gezielte Vektorbekämpfung quasi nicht mehr möglich ist.
Ich habe einige meiner Soldaten hinaus zum Haus des Doktors geschickt.
Wir hoffen, in seinen Unterlagen die relevanten Ergebnisse zu finden. Somit können wir zumindest eine erneute Ausbreitung von Anopheles CII für die Zukunft ausschließen.“

„Das heißt, es gibt Möglichkeiten, die Mücken zu vernichten, aber es dauert Ihnen einfach zu lange?“, unterbrach ihn Hansen.
Der rote Punkt auf seiner Stirn tanzte gefährlich.
Stokmann beschwichtigte den Soldaten mit einer Handbewegung. „Bedauerlicherweise ja, Mister Hansen. Die Populationsdichte der hier auftretenden Art wird dermaßen schnell ansteigen, dass wir nicht mehr in der Lage sein werden, sie einzudämmen.
Sie können versichert sein, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, würden wir diese anwenden.“
Er wandte sich wieder an die sich in den Bänken befindlichen Leute. „Sie haben bis zum Morgengrauen Zeit, die Stadt zu verlassen.
Wenn Sie innerhalb der nächsten Stunde aufbrechen, haben Sie eine reelle Chance, dem Wirkungsbereich der Bombe zu entfliehen.“
„Wir sind nicht motorisiert“, warf der Bärtige aus der ersten Reihe ein. Er hielt seinen Sohn im Arm.
„Sie haben noch knapp vier Stunden Zeit. Das müsste zu schaffen sein.
Wir haben vor Ort noch zweiunddreißig Engel im Einsatz. Sie werden Ihnen bei der Evakuierung behilflich sein. Jeweils zwei der Engel sind in der Lage, einen von Ihnen herauszufliegen.“
„Wir sollen uns von so einem Ding durch die Luft tragen lassen?“, meldete sich Salem Stoke wieder.
„Nun, Mister Stoke, wenn Sie das Laufen vorziehen …“

* * *

Kurz, bevor die letzten Vorbereitungen getroffen waren, durchbrach das Kreischen des schweren Eingangstors die Diskussion.
Ein kalter Hauch ließ die dicken Kerzen flackern. Ruckartig rissen die drei Soldaten ihre Gewehre in Richtung der Tür; die Laserpunkte tanzten kurz darauf auf der Brust eines kleinen Mädchens, das zitternd aus dem Dunkel auftauchte.
„Nehmt die Waffen runter!“, brüllte Hansen augenblicklich und stürmte die Stufen hinunter.
Stokmann machte eine schnelle Bewegung mit der Hand, und die Soldaten gehorchten.
Zwei weitere Personen tauchten hinter dem Mädchen auf, es waren Ian Catrall und ein Corporal.
Ian schob die kleine Rose beiseite und ging mit schnellen Schritten auf Hansen zu, der ihnen entgegenrannte.
„Ian, Junge!“
„Sie kommen!“, brüllte Ian, und seine Stimme hallte schauderhaft von den Wänden wider.
Auch Stokmann kam die Stufen herunter. Die drei Soldaten verließen ihre Position nicht; sie hatten die Gewehre gesenkt, doch erkannte man die Bereitschaft, sie jederzeit wieder einzusetzen.
Die Leute waren aufgestanden, alle, bis auf einen jungen Mann in der letzten Reihe, der gelangweilt zu ihnen herübersah.

„Wer kommt?“, rief jemand. Ein kleines Kind hatte angefangen zu weinen.
Die aufkeimende Panik war greifbar.
„Ruhe, Leute!“ Stokmann hatte die Arme von sich gestreckte, während er auf Ian zulief.
„Wo ist der Colonel, Mister Catrall?“
Ian war stehen geblieben. „Er ist raus zur Pork-Farm.“
„Jesse Pork?“, fragte Hansen.
„Ja. Mister Stokmann, der Colonel bat mich, Ihnen auszurichten, sie sollen sich umgehend mit dem Präsidenten in Verbindung setzen. Es geht um eine Ursprungs-DNA, die er bei Jesse Pork vermutet.“
Stokmann stutzte. „Was soll das heißen?“
„Keine Nuklearwaffen!“, schrie Hansen in die Menge. Einige jubelten.
„Nuklearwaffen?“ Ian glaubte, sich verhört zu haben. Das ungute Gefühl von vorhin am See war wieder da.
„Die Regierung wollte Curnie Falls ausradieren“, erklärte Hansen. „Weil die künstliche Herstellung der DNA zu lange dauern würde.“
„Stopp! Stopp, meine Herren.“ Stokmann trat heran. „Was heißt, es geht um die Ursprungs-DNA?“, wollte er von Ian wissen.
„Genaues weiß ich nicht. Wir haben in den Unterlagen meines Vaters Hinweise gefunden, dass Jesse Pork die hier aufgetauchte Anophelesart gezüchtet hat.“
„Dieses Drecksschwein“, keuchte Hansen. „Aber das heißt ja auch, dass wir jetzt im Besitz der Original-DNA sind.“

Der Corporal trat heran. „Erzählen Sie vom See!“, flüsterte er Ian zu.
Ian wurde hektisch, beinahe hätte er das Wichtigste vergessen. „Ja, genau. Sie sollen alles für die Verteidigung des Ortes vorbereiten. Die Mücken am See sind geschlüpft.“
Jetzt wurde Stokmann bleich. „Geschlüpft?“
Die Umstehenden in den Bänken traten heran; Schweigen breitete sich aus.
„Die Engel sollen sich bereithalten. Die Mücken sind in …“ Ian sah auf seine Uhr, schluckte, „… sie sind in diesem Augenblick flugfähig.“
Niemand sagte etwas.
Stokmann wirkte hektisch. „A… aber … das kann doch gar nicht sein. Laut unseren Berechnungen …“
Jetzt schnellte Hansen nach vorn und packte den jungen Professor am Kragen. „Ihre scheiß Berechnungen interessieren uns nicht, Professor!“
„Schlag ihm die Fresse ein!“, brüllte eine weibliche Stimme aus der Menge.
Hansen zog Stokmann ganz nah zu sich heran. „Sie rufen jetzt auf der Stelle den Präsident an und sagen ihm, dass er den Angriff rückgängig machen soll.“
Ein roter Punkt tauchte auf der Schläfe von Hansen auf, im selben Moment ertönte ein gewaltiger Knall. Blut spritzte gegen den Altar, und einer der Soldaten ließ sein Sturmgewehr fallen, bevor er mit einem glänzenden Einschussloch auf der Stirn an dem Marmorblock herabrutschte.
Die beiden anderen ließen die Waffen sinken, als etwa vierzig Pistolen- und Gewehrmündungen in ihre Richtung wiesen.
„Und jetzt sagen Sie dem Präsident Bescheid!“, zischte Hansen.

Stokmann schien einen Moment zu zögern. „Okay“, sagte er leise. Dann an den Corporal gewandt: „Holen Sie die Engel, Corporal. Zehn von ihnen sollen die Sporthalle bewachen, der Rest soll unverzüglich hierher kommen!“
Der Soldat salutierte kurz und verschwand durch das Tor.
„Was ist mit der Bombe?“, rief Hansen. Noch immer hatte er den Professor am Kragen.
„Lassen Sie mich los, Mister Hansen!“ Die Stimme von Stokmann war leise.
Hansen gehorchte.
Stokmann drehte sich zu den Übrigen um. „Ich werden den Präsidenten verständigen. Ich werde es tun.“ Er sah wieder zu Hansen. „Ich werde es tun, allerdings nicht, bevor der Colonel zurück ist. Und zwar mit dem Blut des Muttertiers von Anopheles CII.“
Der Bärtige aus der ersten Reihe stürmte nach vorn, spannte den Hahn seines Revolvers und drückte ihn auf die Stirn des Professors. „Sie rufen ihn sofort an, Mister. Oder ich verteile Ihr schäbiges Hirn hier auf dem Kirchenboden!“
Hansen legte seine Hand auf die breite Schulter des Bärtigen. „David, er hat Recht.“
David Borrow sah ihn an. Schweiß stand auf seiner Stirn.
Hansen griff nach dem Revolver an Stokmanns Stirn und drückte ihn vorsichtig herunter. „Er hat wirklich Recht, David. Überleg doch mal. Wenn die Sache mit Jesse Pork nicht stimmt …“
Der korpulente Mann sank auf die Kirchenbank und brach in einen hemmungslosen Weinkrampf aus. Der kleine Junge mit dem großen Gewehr kam heran und legte den Arm um die Schultern seines Vaters.
„Das bedeutet dann jetzt also“, mischte sich Salem Stoke wieder ein, „wenn der alte Pork die Viecher nicht gezüchtet hat, werden wir alle bei Sonnenaufgang verdampfen. Rechtzeitig von hier weg kommen wir ja jetzt nicht mehr, wenn die Engel hier eingesetzt werden.“
Keiner erhob seine Stimme, doch setzte ein leises Gemurmel ein, das in dem hohen Gemäuer wie ein anstimmender Choral wirkte.

Nach einer ganzen Weile zupfte jemand an Ians Jacke. Er sah hinab und blickte in das bleiche Gesicht der kleinen Rose Miller. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, die Lippen waren spröde.
Ian sah sie fragend an.
„Ich … ich glaube, sie kommen“, flüsterte sie.
Der Satz erzeugte einen stechenden Schmerz in Ians Brust. „Seid mal still!“, rief er in die Menge.
Alles verstummte, und dann konnten sie es hören. Ganz leise nur, aber es war da. Ein hohes, stetig ansteigendes Surren drang durch das offene Kirchenportal zu ihnen herein.
Am Horizont sahen sie gegen das Licht des Vollmondes eine riesige flirrende Wolke emporsteigen. Zunächst schien es wie Rauch, der sich rasend schnell ausbreitete, doch dann erkannten sie in der Masse einzelne Körper.
Für einen Augenblick sah es so aus, als hätte sich jeder seinem Schicksal ergeben, doch dann schrie Salem Stoke: „Scheiße, macht das Tor zu!“

Ian und Hansen rannten auf das Portal zu. Gerade, als sie es erreicht hatten, flogen zwei Engel durch die Öffnung, machten eine kaum nachvollziehbare Drehung in der Luft und standen kurz darauf neben Professor Stokmann.
Ian warf noch einen Blick nach draußen, sah für den Bruchteil einer Sekunde die runde Scheibe des Mondes, bevor dieser von der Wolke aus dunklen Körpern vollständig verdeckt wurde.
Hansen schob die schwere Tür ins Schloss. „Bringt ein paar Bänke hier rüber!“
Die Leute machten sich daran, die Kirchenbänke aus den Verankerungen zu brechen.

Stokmann wandte sich den beiden Engeln zu. „Wo sind die anderen?“
„Ich habe sie in der Nähe der Kirrrche Stellung beziehen lassen“, antwortete einer der beiden.
Ian stellte fest, dass beide Engel bis auf die Anzüge dem Colonel glichen.
Dann fiel sein Blick auf die riesigen Fenster, dessen buntes Glas sich matt von dem kalten Gemäuer abhob. Sie sind viel zu groß, als dass man sie verbarrikadieren könnte!, schoss es ihm durch den Kopf.
Als hätte Hansen seine Gedanken erraten, brüllte dieser: „Wir müssen die Fenster irgendwie sichern! Immer drei Leute nehmen ein Fenster ins Visier! Los, los, Beeilung!“

Inzwischen war das Surren draußen derart angeschwollen, dass es durch das Gepolter in der Kirche zu hören war.
Ian hatte sich zwischen den hinteren Bänken positioniert und zielte auf eines der Fenster, welches sich in seiner unmittelbaren Nähe befand. Vor ihm hockte Rose. Nach einer Weile drehte sie sich um. „Mister Catrall?“
„Du kannst ruhig Ian zu mir sagen.“
Das weiße Gesicht lächelte. „Weißt du was, Ian? Ich hab zum ersten Mal ein bisschen Angst.“
Ian ließ die Waffe sinken. Er wollte dem Mädchen über die Wange streicheln, ließ es dann doch und legte stattdessen seine Hand auf das warme Holz der Kirchenbank.
„Ich auch“, sagte er leise. „Aber du wirst sehen, die Engel werden uns beschützen.“

Ein berstendes Scheppern ließ die Kleine aufschreien. Ian sah ihre großen Augen, dann wirbelte er herum. Im selben Augenblick setzten die ersten Schreie ein.
Schüsse bellten, Glas barst.
Ian sah das Fenster auf der anderen Seite; das bunte Glas war verschwunden. Er riss die Waffe hoch, feuerte auf die schwarzen Körper, die unendlichfach hineinströmten.
Ein Insekt saß mit nach hinten gestreckten Beinen auf der Lehne einer der vorderen Kirchenbänke. Ihr Saugrüssel hatte sich durch den Kopf von David Borrows Sohn gebohrt. Sein viel zu großes Gewehr hielt der Junge noch in den zuckenden Händen, die toten Augen waren weit aufgerissen, genauso wie der Mund, durch den Ian jetzt einen Teil des dicken Saugrüssels erkennen konnte.
David Borrow, der Vater des Jungen, der von alldem noch nichts mitbekommen hatte, feuerte indessen auf einen Pulk Mücken in der Nähe des Altars. Die zwei Beinpaare der Soldaten mit den Sturmgewehren ragten unter den Körpern hervor, deren Hinterleibe sich langsam mit dem Blut der Männer füllten. Als David Borrow sich umdrehte, riss die Mücke gerade den Rüssel aus dem Schädel seines Sohnes. Die Augen des bärtigen Mannes weiteten sich, als der Rüssel einer weiteren Mücke, die sich ihm im Bruchteil einer Sekunde von hinten genähert hatte, seinen Brustkorb durchbohrte. David Borrow kreischte ein letztes Mal, während das Sekret sein Fleisch zersetzte und dieses sich gallertartig über den Leichnam seines Sohnes ergoss.
Ian erkannte im Mittelgang den Professor, der Hansen herunterriss, und ihn somit vor einer vorbeizischenden Mücke rettete. Stattdessen erwischte sie den Corporal. Sein Kopf wurde weggerissen, und noch zehn Sekunden später stand er zwischen den Bänken, während der pulsierende Strahl aus seinem Hals die Madonnenstatue hinter seinem Rücken benetzte.

Eine Mücke schoss heran. Ian sah den gestreiften Körper auf sich zufliegen, flackerndes Kerzenlicht spiegelte sich auf den Facetten. Die gewaltigen Flügel vibrierten, waren nicht mehr zu erkennen. Ian wollte schießen, doch der Hahn des Revolvers schlug nur noch auf leere Patronenhülsen. Die Trommel war leer.
Wo, verdammt noch mal, waren die Engel?
Etwas ohrenbetäubendes explodierte neben seinem Kopf, sofort war alles dumpf. Ein Teil des Insektenkopfes platzte weg, die Flügel stellten augenblicklich ihre Tätigkeit ein, doch noch immer schoss das Insekt auf ihn zu.
Ian hechtete zur Seite, sah aus den Augenwinkeln die kleine Rose Miller, die einen scheinbar überdimensionalen Revolver nach vorn gestreckt hatte und immer wieder auf das sich nähernde Insekt feuerte.
Ian fasste zu, erwischte die Schulter des Mädchens, und riss sie zur Seite, nur Sekunden, bevor der schwere Mückenleib zwischen den Bänken aufschlug.

Ian fiel zwischen umgestürzte Kirchenbänke, begrub Rose unter sich. Irgendetwas knackte deutlich unter seinem Körper, und Ian hoffte, dass es lediglich ein Teil der Bank war. Keuchend drehte er sich um.
Und dann sah er die Engel. Pfeilgleich schossen sie durch das offene Kirchenfenster, viel zu schnell für das menschliche Auge. Hatte Ian sie lokalisiert, waren sie im selben Augenblick schon wieder woanders.
Einer der Engel schlug seitlich gegen einen Mückenleib, schleuderte ihn gegen einen Marmorpfeiler, an dem durch die Wucht des Aufpralls eines der Facettenaugen zerplatzte. Noch bevor sie auf dem Boden aufschlugen, klappten die Hautfalten des Engels am Kinn auseinander. Ein etwa armlanger Stachel schnellte hervor, einem erigierten Penis gleich, und drang in den Kopf der Mücke ein. Ganz kurz nur, dann verschwand der Stachel wieder zwischen den Hautfalten. Der Engel ließ von seinem Opfer ab und schoss seinem nächsten Ziel entgegen.
Für einen kurzen Augenblick war Ian begeistert; der tote Mückenkörper neben dem Marmorpfeiler begann sich zischend zu zersetzen.

Ian rollte zur Seite, spürte, wie sich ein Holzsplitter in seinen Rücken bohrte. Er ignorierte den Schmerz.
Er sah das kleine Mädchen zwischen zerborstenem Holz liegen, der schwere Revolver lag etwas abseits. Ihre Augen waren geschlossen; es war das friedliche Bild eines schlafenden Kindes, das kein Kind mehr war.
Ian schüttelte sie, sah Blut an ihrem Arm, an ihrer Stirn. „Rose!“
Etwas Hartes prallte gegen seinen Kopf, schleuderte ihn nach vorn, wo er mit der Stirn gegen eine Bank prallte. Sein Gesichtsfeld verengte sich, alles klang so unendlich dumpf, doch Letzteres konnte auch an dem Schuss liegen, den Rose vorhin neben seinem Ohr abgegeben hatte.
Das Gesicht des Mädchens lag direkt vor dem seinen. Ian wollte etwas sagen, doch es ging nicht.
Dumpfe Stimmen drangen zu ihm herüber, für einen Augenblick wurde es ganz hell, wie grelles Licht in einem Tunnel. Er sah Conn mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Fels hocken; der Halbengel war nackt.
Ian stand ganz weit unten, rief zu ihm hinauf. Nach einer Weile blickte Conn herunter, sah Ian, lächelte.
Ian erkannte die Tränen, die auf der Wange seines Freundes glänzten.

Ein tosendes Surren riss ihn aus seinen Gedanken. Gestank nach verbranntem Fleisch drang augenblicklich in seine Nase.
Schwerfällig drehte er den Kopf und blickte direkt auf den sich senkenden Stechrüssel einer Mücke.
Ian riss die Beine hoch, trat gegen das tropfende Ding. Die Mücke schoss in die Höhe, saß im selben Augenblick einen halben Meter weiter seitlich. Der Gestank war bestialisch, wälzte sich wie eine schwere Wolke zu Ian und Rose hinunter. Noch immer hatte sich das Mädchen nicht bewegt.
Du hast sie getötet! In dem Moment, als du auf sie gefallen bist!
Wieder rollte sich der Hautlappen über dem Stechrüssel nach oben, legte den Blick auf das tropfende Sägeblatt frei. Mücken stechen nicht, durchfuhr es Ian, sie sägen ihren Rüssel ins Fleisch.
Die tropfende Öffnung war nur noch wenige Zentimeter von seinem Brustkorb entfernt. Ian fasste zu, seine Hände umklammerten das unterarmdicke Gebilde.
Die gezackte Seite bohrte sich in das Fleisch seiner Handflächen, doch Ian ließ nicht locker. Wieder bildete sich ein gallertartiger Tropfen am Ende des Rüssels. Ian schrie, versuchte, den Rüssel seitlich wegzudrücken. Der Tropfen löste sich, spritzte auf ein Stück Holz, das sich zischend in einen dunklen Brei verwandelte.

Mit einem Mal wurde der Widerstand in Ians Hände geringer, im selben Moment, als der Rüssel aus seinen Händen gerissen wurde. Ein Engel tauchte hinter dem Kopf des Insekts auf, bohrte seinen Stachel in eines der Facettenaugen. Die Mücke bäumte sich auf, dann fiel sie wie ein knochenloser Fleischklumpen zusammen.
Der Engel schwirrte über ihnen, und Ian erkannte den Colonel. Dieser streckte ihm die Hand entgegen. „Kommen Sie!“
Ian konnte ihn kaum verstehen, alles war so verdammt dumpf. Schüsse klangen wie schwere Detonationen, Schreie, wie unter Wasser ausgestoßene Flüche. Jedes Geräusch schien erstickt, kurz bevor es ins menschliche Ohr eindringen konnte.
Ian blickte zu Rose, die immer noch unbeweglich zwischen zerborstenem Holz lag.
„KOMMEN SIE!“
Etwas Schwarzes zischte hinter dem Colonel her, wirbelte ihn herum. Detonationen grollten donnergleich herüber, mischten sich mit schweren Schreien.
„Nun kommen Sie endlich!“ Der Colonel war wieder über ihnen.
Ian fasste Rose unter die Arme; er war überrascht, wie leicht der Körper des Mädchens war.
„Wir nehmen sie mit“, schrie er in das Getöse.
Der Engel streckte auch den anderen Arm nach unten. Er griff Ians Handgelenk, mit der anderen das des Mädchens.
Ein Ruck durchfuhr Ians Schulter, er schrie, wollte sich losreißen, als er feststellte, dass er bereits mehrere Meter über dem Boden schwebte.
Kurz sah er den Professor, der von zwei Mücken gleichzeitig durchbohrt wurde.
Kein Anruf beim Präsidenten mehr!
Als sie auf das zerborstene Fenster zuflogen, sah er Hansen, der versuchte, unter eine umgestürzte Kirchenbank zu kriechen. Ein Rüssel durchstieß seine Wade, woraufhin sich augenblicklich der Fuß vom Rest des Beines löste.
Zwei Engel landeten zugleich auf dem Insektenkörper.

* * *

Kühle Nachtluft umgab Ian, ohrenbetäubendes Surren hüllte ihn ein. Der klare Sternenhimmel war immer wieder unterbrochen durch Wolken schwirrender Körper. Ruckartige Richtungswechsel vermittelten Ian das Gefühl, sein Arm würde sich jeden Augenblick aus dem Gelenk lösen. Hin und wieder sah er den Körper von Rose, der schlaff in der Hand des Colonels im Flugwind pendelte.
Ian blickte nach oben, sah das verzerrte Gesicht des Engels. „Wirr müssen landen“, rief dieser nach einer Weile.
Kurz darauf spürte Ian Boden unter seinen Füßen. Er fiel auf etwas Hartes und blieb keuchend liegend.
Der Colonel landete, nachdem er Rose sanft auf den Boden hatte gleiten lassen. Seine Flügel zitterten. „Los, hinterr den Felsen!“, keuchte er.

Sehr viel später, als sie erschöpft mit dem Rücken am Felsen lehnten, stellte Ian fest, dass das Surren deutlich leiser geworden war. Er hatte den Kopf von Rose auf seinen Schoß gelegt, spürte ihr leises Atmen.
„Was ist mit der Bombe?“, fragte er den Colonel.
„Sie wirrrd kommen! Bei Sonnenaufgang!“
Der Fels an Ians Rücken strahlte eine stechende Kälte aus. Er blickte auf den Engel, der erschöpft am Boden hockte.
„Etwa zehn Meilen“, sagte dieser ohne den Blick zu heben.
„Zehn Meilen?“
„Derrr Aktionsrradius. Zehn Meilen.“
„Sie meinen, alles wird zerstört?“
„Alles innerrhalb von zehn Meilen.“
„Scheiße.“ Ian blickte in den Himmel. Die Sterne schienen viel mehr zu leuchten als sonst. „Haben Sie das Blut, Colonel?“
„Ja. Derr alte Mann hielt tatsächlich ein Insekt auf seinerr Farrrm. Keine Flügel. Das grrrößte Exemplarr, dass mirr je zu Gesicht gekommen ist.“
„Und Sie haben ihr Blut abgezapft?“ Ian grinste.
Der Colonel tat es ihm gleich, zumindest wirkte es so. Dann deutete er auf die Falte an seinem Hals. „Sie müssen mich zwarrr aufschneiden, aberr dann haben Sie die Urrsprungs-DNA.“ Jetzt lachte der Engel.
„Nun, ich denke, dann sollte Sie sich beeilen, Colonel. Die Sonne geht bald auf.“
„Einen kleinen Moment muss ich mich noch errrholen. Dann können wirr weiterr.“
„Wir?“
„Natürrrlich nehme ich Sie mit, Misterr Catrrall.“
Ian blickte auf das Mädchen zu seinen Füßen.
„Sie muss hierr bleiben“, sagte der Engel und blickte wieder in seinen Schoß. „Für Sie beide habe ich keine Kraft.“
Fast wie in einem schlechten Film, dachte Ian.
Der Colonel stand auf, seine Flügel klappten auseinander, und für einen Augenblick wirkte er wie ein echter Engel. So, wie ihn Ian von Gemälden her kannte. Nur, dass seine Flügel keine Federn hatten.
Auch Ian erhob sich mühsam. Er hatte Rose auf seinen Armen.
„Nehmen Sie sie mit, Colonel.“
Der Engel streckte die Arme aus. „Sie sind sicherrr?“
„Ich habe ihr schon einmal nicht geholfen.“ Er legte den kleinen Körper in die Arme des Offiziers.
„Leben Sie wohl, Misterr Catrrall.“ Die Flügel vibrierten, und der dünne Mann hob vom Boden ab. Ian schloss die Augen.

Nachdem sich der aufgewirbelte Staub gelegt hatte, waren der Engel und das Mädchen verschwunden. Ian erklomm den Fels, neben dem er stand. Er war vielleicht nur vier Meter hoch, doch dauerte es eine ganze Weile, bis er unter schmerzhaftem Stöhnen die Spitze erreicht hatte. Alles an seinem Körper schien weh zu tun.
Ian setzte sich und schlug die Arme um die angewinkelten Beine. In etwa zwei Meilen Entfernung konnte er die Silhouetten einzelner Häuser der Stadt ausmachen. Schwarze Wolken umgaben sie, flirrend und sich schnell verändernd. Die Mücken waren also noch immer da.
Weiter nördlich lag der Snow-Water-Lake. Er war von hier aus nicht zu sehen, doch war da die gigantische Wolke, die wie ein Tornado in den klaren Himmel reichte.
Es sind Millionen, Junge!
Ian wünschte sich auf einmal nichts sehnlicher, als neben Conn sitzen zu können. „Bald!“, hörte er die Stimme des Halbengels sagen.
Tränen liefen Ian über die Wangen, als er sah, dass am Horizont die Sonne aufging.


(Danke Hanniball!)

 

Hallo Salem

- und WAHNSINN, es gibt Kurzgeschichten über Mücken. Und dann auch noch über Anopheles!!! Die Biester stehen mir auch ziemlich nahe ;)
Jedenfalls, angezogen vom Titel, muss ich unbedingt diese Geschichte ausgraben. Die andern beiden Teile werd ich bei Gelegenheit noch lesen :)

Ein paar kleinere Meckereien zum Inhalt hab ich. (Ja, is doof bei einer jahrealten Geschichte damit zu kommen, aber ich alter Klugscheißer kann's mir nicht verkneifen :D)

„Infektion mit was?“
„Plasmodien, Mister Hansen. Viren, die für das Gelbfieber verantwortlich sind. Einer unbekannten und äußerst aggressiven Form des Gelbfiebers. Die Sterberate im Falle einer Infektion liegt bei 100 Prozent.“
So wie die Stelle formuliert ist, könnte man annehmen, Plasmodien wären Viren und verursachten Gelbfieber. Plasmodien sind aber keine Viren und auch nicht für Gelbfieber verantwortlich (sondern für Malaria, wie du in der Geschichte ja ein paar Zeilen vorher gesagt hast. Warum jetzt also dieser komische Satz? Und warum kommt später noch ein paar mal Virus, dann aber wieder Plasmodium?). Und der Vektor für Gelbfieber ist Aedes, nicht Anopheles.
Also die Stelle hat mir extremst nicht gefallen. Eigentlich könntest du den ganzen Kram mit der Infektion raushauen. Anscheinend sterben die Opfer an ihren Verletzungen so ziemlich gleich, nachdem sie auf die Monstermücken getroffen sind. Lass das doch ruhig der tödliche Mückenspeichel sein. Dadurch, dass Plasmodium reinkommt, legst du (zumindest für mich, sonst hat sich ja noch keiner beschwert) Logiklücken mit rein. Oder zumindest fang ich an, mich irgendwelche Sachen zu fragen, die mit der Geschichte gar nix zu tun haben. Zum Beispiel:
Frisch geschlüpfte Mücken sind nicht mit Plasmodium infiziert sondern stecken sich erst an infizierten Menschen an. Wie soll das in deinem Mückenmodell funktionieren, wenn infizierte Menschen so fix sterben? Da rottet sich Plasmodium ganz schnell selber aus. Da müsste dann meiner Meinung nach eine Erklärung rein, dass die neuartigen Monstermücken die Parasiten an ihre Nachkommen weitergeben.

„Die Basisreproduktionsrate bei der gemeinen Mücke“, fuhr Stokmann fort, „liegt im Schnitt bei 1 bis 4. Das bedeutet, jeder Infizierte führt zur Infektion von ein bis vier weiteren Personen.“
Äh, das hab ich nicht kapiert. Uhrzeit oder Brett vorm Kopf, weiß nicht. Kannst du mich erleuchten? :silly:

Dann hab ich auch nicht so ganz kapiert, was die überhaupt mit der "Ursprungs-DNA" anfangen wollen, wenn sie sie haben. Was wird es ihnen nützen? Wie wollen sie mit Hilfe der DNA-Sequenz die Mücken oder wenigstens Plasmodium ausrotten? *kopfkratz*
Ich finde, da gehört irgendein Plan mit rein "wir brauchen die DNA um xxx". Jedenfalls hat mich der Teil verwirrt.

Auch nicht kapiert hab ich:

Anopheles genetisch so zu manipulieren, dass sich keine Plasmodien mehr in ihnen entwickeln können, was bislang ebenfalls problemlos verlief. Wir waren der Meinung, Anopheles in seiner jetzigen Form innerhalb kürzester Zeit eingedämmt zu haben.
Wenn man Anopheles genetisch so manipuliert, dass sich keine Plasmodien in den Mücken entwickeln, dann dämmt man Plasmodium ein. Aber man dämmt damit nicht Anopheles ein. Oder? :confused:

Und noch eine Korinthenkackerei:
Irgendwo im Text bricht eine Mücke wie ein knochenloser Fleischklumpen zusammen. Knochenlos sind Mücken sowieso, deswegen find ich den Vergleich unglücklich.

Es sollte viel mehr über Mücken geschrieben werden.
:thumbsup:

 

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