Antonia
Es war schon kurz vor halb zwei, und ich hab immer noch nix von ihr gehört.
Genervt drücke ich den Knopf an der Seite meines Handys, um es in den Standby zu schicken.
"Scheißfotze!", denke ich, und stapfe weiter Richtung der aufgestapelten Sturmholzstämme hinter dem Waldstück, abseits der Hauptstraße, gegenüber von den letzten Häusern der Kleinstadt.
Mein Weg führt quer über eine klitschnasse Wiese, dann einmal rechts abbiegen, dem kleinen Waldstück entlang, bis zur Lichtung, wo ich das Holz schon sehen kann. Da kann ich mich in Ruhe hinsetzen, ohne dass mich jemand sieht.
Ich will einfach nur gemütlich einen rauchen.
Eigentlich hab ich gar keine Zeit. Ich müsste schon seit fünfzehn Minuten auf der Arbeit sein. Aber egal – ich sag einfach, ich hab den Zug verpasst oder sowas. Außerdem ist prall alles gleich viel lustiger. Antonia sagt das immer. Von ihr hab ich auch das Bauen gelernt.
Nur ist sie Linkshänderin, und ich check’s nicht so richtig mit meiner schwachen Hand. Meine Tüten sehen dementsprechend bescheuert aus, aber Hauptsache, sie brennen und knallen. Auch das sagt Antonia immer. Ach ja, stimmt.
Ich zieh mit der freien Hand mein Handy aus der Hosentasche, entsperre es und
öffne WhatsApp. Immer noch nix. Genervt schick ich ihr drei Fragezeichen. Die reihen sich unter die anderen Nachrichten, die sie auch nicht gelesen hat, aber angekommen sind.
"Was hat die nur für ein fucking Problem?!", murmel ich halblaut.
"Was treibt sie bloß schon wieder?",schießt es mir im nächsten Moment durch den Kopf," Was soll der Scheiß überhaupt? Gestern Abend haben wir doch noch telefoniert. Sie meinte, ich soll mir keine Sorgen machen, alles sei gut – und jetzt?"
Egal. Erst mal runterkommen. Erst mal einen rauchen.
Der Wind ist scheißkalt, und es dauert ewig, bis ich die Lunte ankriege. Nach ein paar mühsamen Minuten klappt’s endlich. Ich zieh tief, spür den Druck im Hals, halt den Rauch kurz in der Lunge und lass ihn dann langsam raus. Normalerweise liebe ich das – wenn der Rauch so in der Luft hängt, sich auffächert, alles ruhig macht. Aber heute fegt der Wind alles gnadenlos weg.
Nach ein paar Zügen spür ich das Kribbeln, den Druck, der sich langsam löst. Ich nehm mein Handy wieder in die Hand, öffne ihr Profilbild, das ich heute schon hundertmal angestarrt hab.
Antonia. Rote Locken, rundes Gesicht, süßes Lächeln – na ja, sonst süß. Jetzt hasse ich sie einfach. Und nicht nur, weil sie meine Nachrichten ignoriert.
Seit einiger Zeit hängt sie wieder mit ihrem dämlichen Ex ab. Der Typ, der sie geschlagen und fertiggemacht hat, wo’s nur ging. Mit den billigen Knast-Tattoos,
gerade erst wieder draußen. Und obwohl sie mir immer gesagt hat, mit mir wär’s schöner, seh ich auf seiner Facebook-Seite, wie sie zusammen lachen – am Fluss, wie früher.
Sie sieht glücklich aus, aber irgendwie gespielt. Bei ihm reicht ein Blick auf seine Glubschaugen, und ich weiß, dass er wieder was genommen hat.
Widerlicher Bastard, denk ich, und tret den Stummel vom Joint aus.
Langsam mach ich mich auf den Weg. Es ist bald drei, und eigentlich sollte ich mich beeilen, um meine Ausrede wenigstens halb glaubwürdig zu machen. Aber scheiß drauf. Ich hab andere Sorgen. Außerdem bin ich so stoned, dass ich eh langsamer geh, damit der Rausch abklingt.
Bis zur Arbeit sind’s vielleicht fünfzehn Minuten. Bis dahin wird’s schon wieder gehen, rede ich mir ein.
Der Weg führt mich wieder über die nasse Wiese, neben dem Maisfeld. Der Himmel ist grau und hängt tief. Sieht so aus, als würde es gleich wieder anfangen zu regnen.
Meine Schuhe sind durch, alles nass und klebrig. Der Wind haut mir ins Gesicht, als würd er mich ohrfeigen. Endlich komm ich am Fußgängerüberweg an. Noch ein Stück hoch, dann rechts – direkt rein in das mittlere der drei großen Gebäude. Doch so weit komm ich gar nicht.
Franzi ruft an.
Ich lass es erst mal klingeln. Hab keinen Nerv für Tonis Schwester. Aber als sie
nochmal durchklingelt, geh ich ran.
Das Gespräch dauert keine fünf Minuten.
Ich habe bis heute noch deutlich ihren hysterischen Tonfall im Ohr und als ich auflege, steh ich wie angewurzelt da, ohne Atem, ohne Gedanken. Nur Leere. Dann dreh ich mich um und lauf zurück zu den Holzstämmen.
Mein Kopf hämmert. Gedanken flackern ohne Sinn hin und her. Was hab ich da gerade gehört? Kann das sein? Oder hab ich mir das eingebildet? Wie dicht bin ich überhaupt?
Ich setz mich hin, reiß mein Handy raus, checke WhatsApp, Facebook, Instagram. Nichts. Gar nichts.
Tränen steigen mir in die Augen.
„Fuck“, bring ich nur raus, zittrig und halb
wimmernd.
Ich krame den Grinder aus der Tasche, bau mir irgendwas, die Hände beben. Die Tüte sieht scheiße aus, fällt fast auseinander. Scheiß drauf. Jetzt ist eh alles wurscht.
Antonia wird mir nicht mehr schreiben.
Ich zieh den ersten Zug, atme aus – und plötzlich ist da so etwas wie Erleichterung.