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aqua mirabilis
aqua mirabilis
Es geschieht nach einem Tag im Mai. Die Gäste haben das Haus verlassen. Das Gesinde räumt und säubert die Flure gleich schweigenden Schatten. Und weil es das Schicksal jener Schattengeschöpfe ist, möglichst unsichtbar zu sein ist, hüten sie auch so manches Geheimnis. Auch eins über ein Hochzeitsgeschenk, das tatsächlich die wertvollste aller Gaben gewesen ist.
„Eine wunderschöne Feier“.
Helene sieht auf den Hochzeitstisch, der sich unter seiner Last schier biegen will.
„Ja, mein Herz“, antwortet Wilhelm, der ein Pergament aufgerollt in Händen hält und aufmerksam studiert.
„Was hast du da?“, fragt Helene, weil ihr Gatte so offensichtlich für die restlichen Geschenke kein Auge hat.
„Es ist ein Brief von meinem Bruder“, antwortet ihr Wilhelm.
„Von Bruno?“.
Helene ist, als ob ein Erdbeben das Haus erschüttert, sieht wie Wilhelm bei ihren Worten aufhorcht.
„Ja, von Bruno“, bestätigt er, „warum erstaunt es dich so?“
„Mir ist nicht bewusst gewesen, dass du noch einen Briefwechsel mit ihm pflegst, seitdem er dem Orden beigetreten ist“, sagt Helene hastig, spürt wie heiß ihre Wangen brennen, senkt ihren Blick,
„Kannst du mir bitte aus dem Brautkleid helfen?“ fragt sie und dreht ihm den Rücken zu, damit er nicht sehen kann, wie eine feine Röte ihr Gesicht überzieht.
„Entschuldige bitte!“, Wilhelm geht auf seine junge Frau zu, nimmt ihre Hand und deutet einen Kuss an. „Du hast sofort meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Unsere Hochzeitsnacht liegt vor uns und ich dummer Kerl lese stattdessen einen Brief meines Bruders.“
Die Hand Helenes ist kalt und als Wilhelms Finger die Reihe der Perlenknöpfe öffnet, fühlt sie, wie die Kälte gänzlich von ihr Besitz nimmt.
Es ist Nacht.
Helene liegt in ihrem noch unvertrauten Ehebett. Starrt in die Dunkelheit. Fühlt Scham. Versucht, so weit wie möglich von dem Mann an ihrer Seite abzurücken.
Wilhelm ist ein Wissenschaftler. Bei der Arbeit hochkonzentriert, in alltäglichen Dingen zerstreut. Wenn sein Blick Helenes Gesicht oder ihren Körper streift, ist er ebenso geistesabwesend. Er behandelt sie, als sei sie ein kostbares Möbelstück, ist rücksichtsvoll. Helene ist einerseits froh darüber. Aber in der Nacht wird er zu einem anderen Wesen, in dessen Tiefe die Leidenschaft brodelt. Sie spürt genau, er ist nicht liebevoll, wenn er sie küsst. Doch sie kann sich ihm nicht entziehen. Ihr Körper fühlt sich schwer an, ihre Knie zittern. Sie fürchtet diese Unergründlichkeit seines Wesens, wenn es sie hinabzieht, wie in einem Sog. Gegen ihren Willen wirbelt sie hinab. Es ist der Moment, in dem sie ihn töten will und wenn die Lichter hinter ihren Lidern explodieren, genießt sie seinen nahenden Tod.
Es ist Tag.
Helene liegt in ihrem Ehebett. Starrt den Geliebten an. Fühlt noch die Lust. Versucht, ihm so nah wie möglich zu sein.
„Ich möchte dir etwas mitteilen“, sagt sie. Es ist Hochsommer. Sie trinken ihren Tee auf der Terrasse.
„Was denn Liebes?“ Seine Stimme ist tonlos, ohne jene Tiefe der Nacht, an der Helenes Haut sich weidet, wenn er zu ihr kommt. Sie hat sich ein neues Kleid angezogen. Lange hat sie überlegt, wann sie es ihm sagt.
„Ich bin in guter Hoffnung“, sagt sie, verschluckt sich an ihrem Tee, muss husten.
„Wunderbar“, sagt Wilhelm und nickt. „ Ich freue mich. Dann wird dir sicherlich auch die Neuigkeit gefallen, die ich dir zu berichten habe.“
Helene presst ihre Serviette vor den Mund. Tränen steigen ihr in die Augen.
„Ja?“ fragt sie, legt den Kuchen beiseite. Sie mag nichts mehr essen. Die morgendliche Übelkeit scheint sie nun auch am Nachmittag heimzusuchen.
„Du erinnerst dich doch an Brunos Brief?“ Helene bemüht sich, die Fassung zu bewahren.
„Ja“, warum?“, fragt sie, sitzt wie in Marmor gemeißelt, starrt auf die Rosen, ohne die Rabatten auch nur wirklich zu sehen.
„Er hat dem Brief eine Rezeptur beigefügt. Er hat sie „aqua mirabilis" genannt. Das Wunderwasser kann zum Einreiben verwendet und auch getrunken werden. Es ist wirksam gegen Herzklopfen und Kopfschmerzen, wenn man es durch die Nase einschnupft.“
Die Hitze lastet schwer auf Helenes Brust. Sie fühlt, wie ihr Atem immer schwerer wird. Bemüht, die Fassade weiter aufrecht zu erhalten, hört sie Wilhelms Stimme wie aus weiter Ferne.
„Ich habe die Mischung gleich nach unserer Hochzeit angesetzt. Sie ist streng geheim. Und sie muss lange reifen. Ich habe dir übrigens einige Tropfen davon in den Tee getan.“
Helene ist zusammengesackt. Sie stöhnt vor Schmerzen. Wilhelm ist über ihr und packt sie. Sein Gesicht ist zu einer Fratze verzerrt. Er reißt ihr die Kleider vom Leib, presst seine gierigen Lippen auf ihren Mund. Helene möchte schreien.
Möchte, dass er aufhört sie zu schütteln. Der Schmerz in ihrem Schoß wird unerträglich. Irgendwann bedeckt gnädig ein samtiger Vorhang ihr Gesicht.
Als sie erwacht, ist es dunkel. Wilhelm liegt neben ihr, im Ehebett, wie sie feststellt, als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Er hat einen Arm um sie geschlungen. Und obwohl Helene aufspringen möchte, bleibt sie ruhig liegen, weil sie Wilhelm nicht wecken möchte.
Die Schatten schweigen weiterhin, haben niemals verkündet, dass der Bruder, ein keuscher Mönch, das Bett mit seiner Schwägerin geteilt hat.
Ob Brunos Kind noch in ihr ist, oder nun das Wilhelms, bleibt ebenso ein Geheimnis, wie jene Rezeptur.