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Aqualung

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02.11.2001
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Aqualung

Sie wohnte in einem Bezirk, in dem es im Inneren der Häuser schlecht roch. Nach zu wenig Geld, nach Ausbeutung, nach zu vielen Kindern und zu wenig Liebe. Kastanien und manchmal auch Pappeln standen vereinzelt entlang ihrer Straße, die Stämme aufgeschunden und zerkratzt von den Stoßstangen der dazwischen geparkten Gebrauchtwagen.
Das Zimmerfenster ihrer Wohnung war jede Nacht ein helles Rechteck, ein Wegweiser, wenn ich die nassen Fassaden entlang schrammte, hin zu ihr. Die Fläche ihres Bettes nahm mehr als die Hälfte des Zimmers ein. Ein Kasten war da, vollgestopft mit ihrer Wäsche. Ein leeres Regal. Auf dem stand der Käfig mit ihrem Kaninchen darin, bevor ihn mein Vorgänger aus dem Küchenfenster schmiss. Sie war da, wenn ich nachts anklopfte mit überquellenden Augen und blutender Stirn. Wenn ich schon längst genug hatte von der Stadt, aber immer noch nicht genug vom Wein. Sie war einfach, doch nicht deshalb nicht meine große Liebe. Ich verbrachte Stunden bei ihr. Unser Sex war gut, doch ihre Fingernägel zerkratzten zu oft meinen Rücken. Sie wollte das so. Sie machte sich nichts aus dem Blut auf der Bettdecke. Das alte trocknete darauf, doch jede Nacht kam neues dazu. Wie war das? Die Nächte schwangen vor dem Fenster in den Ästen der Bäume, wie schwarze Gondeln. Manchmal wollten wir einsteigen, schafften es aber nur bis zur Bettkante. Das Gold, das sie umgab und das sie im Herzen trug, ließ mich weiter atmen.

Da gab es noch etwas.
Unter dem leeren Regal stand ein Plattenspieler.
Ein altes Gerät, von dem sie mir erzählt hatte, es vor ein paar Jahren von ihrem Vater bekommen zu haben. Bevor sich der endgültig aus dem Staub gemacht hatte, nach exzessiven Prügelorgien. Zwei Musikboxen sorgten für einen passablen Ton. Und sie hatte einiges an Schallplatten. Keine große Sammlung. Meistens Einzelstücke. Jede dieser Platten nannte sie Lieblingsplatte.
Wenn ich in ihre Gasse einbog, die Jeans voll von Erbrochenem, hoffte ich auf eine Platte, die mein Floß war, auf das ich mich retten würde können mit all ihrem Gold. "Aqualung". Es gelang jedes Mal aufs Neue.
Cross eyed Mary, wo bist du?

In den Jahren, die danach folgten, habe ich diese Musik mit mir getragen wie einen Schatz. Kostbar, unverwechselbar. Es gab die Tage des Oktobers, in denen mir alles andere unhörbar schien. "Heavy Horses"-Tage sagte ich zu denen und ich lag oft bis zum Morgen wach und hörte die Herbststürme, roch das Moos darin, die Treppe ihres Hauses.
"Minstrel in the Gallery"-Nächte hießen meine langen Dunkelbereiche in den Wintermonaten, während draußen Jack Frost herumirrte. Ich stellte sie mir vor, wie sie ihr Kaninchen mit nassem Gesicht begrub, den leeren Käfig in den Mülleimer warf.
Aber im August, wenn die Luft über den Feldern flimmerte und in den Flüssen die Forellen groß und stark gegen die Strömung standen, dann zog es mich in die Wälder. Das waren meine "Songs from the Wood"-Tage und ich roch die gebratenen Pilze, die sie damals zubereitet hatte und deren Duft noch einige Nächte danach in ihrer Wohnung hing.
Tage, an denen ich meinte an der Einsamkeit zu zerbrechen, kamen und gingen. "Living in the Past"-Stunden und "Thick as a Brick"-Besäufnisse retteten darüber hinweg. Wenn das nichts half, kramte ich "A Passion Play" aus dem Stapel meiner Schallplatten hervor und dachte an das Blut auf ihrer Bettdecke.

Ich lebe noch, trotz vieler Veränderungen, großer und kleiner Enttäuschungen. Vieles ging völlig daneben und vieles aber war besser als ich erwartet hatte. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wieder die Häuserwände entlang schrammen zu wollen. Hin zu ihr.
Das helle Fensterrechteck, der Plattenspieler. Mit ihr diese eine Platte wieder hören, die sie für mich gespielt hatte, eine Liebeserklärung war, an mich, dem sie den Rücken zerkratzt hatte mit ihren Fingernägeln. Sie, die weit davon entfernt war meine große Liebe zu sein.
So glaubte ich.
Hatte ich damals gespürt, dass sie so knapp daran war, schon beide Füsse in der Türe meines Herzens hatte?
Sie war ein Mädchen von einfacher Art und wenn sie Aqualung gespielt hat, konnte vor ihrem Fenster die Welt mit all ihren Gondeln untergehen und ich liebte sie wie niemanden zuvor.

 

Hi Echnaton,

die Geschichte, gelesen mit der Musik im Hintergrund, erzeugt tatsächlich eine eigenartige Stimmung. Es war im fünften Bezirk. Aus dem beleuchteten Fenster sah man auf die Siebenbrunnenfeldgasse. Dort waren auch die Gondeln verankert.
Hat mich sehr gefreut, dass du die Geschichte gelesen hast.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Hallo Aqualung!

Dich, Jethro Tull und die Kulisse zu kennen, sind wohl die besten Voraussetzungen, diese Geschichte zu lesen. :)
Jedenfalls sah ich mehr einen Film, als ich eine Geschichte las - bis auf die Frau, die ist irgendwie so, wie aus Buntpapier ausgeschnitten und dazugeklebt, d.h. nur umrisshaft dargestellt.

Ich finde, Du hast eine sehr schöne, romantisch-traurige Geschichte geschrieben, die vom Nichtnehmenkönnen oder Nichtsehen einer Liebe handelt, bzw. einem viel zu späten Draufkommen, daß es ja eigentlich Liebe gewesen ist, aber nicht als solche wahrgenommen wurde. Schade...

Aber bitte schreib die
"Strasse"
- mit ß - Du willst ja nicht noch mehr neurechtschreiben, als eigentlich drin steht, in der neuen RS, reicht doch schon das, was sie uns ohnehin angetan hat, völlig aus. ;)

Die Stellen, wo Du Titel mit Tagen, Nächten, Besäufnissen usw. kombinierst, lesen sich schlecht, insbesondere stell ich mir vor, jemand, der den Titel nicht gleich als solchen erkennt, bleibt ordentlich hängen an den Stellen. Wenn Du hingegen statt
Heavy Horses - Tage
Minstrel in the Gallery - Nächte usw.
- das ganze mit Anführungszeichen und ohne Leertaste vor und nach dem Bindestrich schreibst, also "Heavy Horses"-Tage, "Minstrel In The Gallery"-Nächte usw., liest es sich auf alle Fälle besser. ;)

Wußtest Du übrigens, daß man heute für die Schallplatten (!) von Jethro Tull Raritätenpreise von 35 Euro und mehr bezahlt, während Platten anderer Gruppen um 1,50 Euro zu haben sind? Schau mal in die Stumpergasse 51, wenn es Dich interessiert.

Alles liebe,
Susi

 

Liebe Susi,

du hast mich auf sehr charmante Art davon überzeugt, die Strasse auf Straße auszubessern.
Ja, und die Anführungszeichen nehm ich rein und die Leertasten nehm ich raus. Hast ja recht.

Wusstest du, dass ich die komplette J.T.- Sammlung in zweifacher Ausführung original verpackt zu Hause habe? Ich bin ein reicher Aqua, so wie's aussieht.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Also ich schick Dir dann mal eine Liste von denen, die ich hab, kannst mir ja den Rest nächstes Mal mitbringen, oder besser so nach und nach, und mir einen Sonderpreis machen... :)

 

du hast mich auf sehr charmante Art davon überzeugt, die Strasse auf Straße auszubessern.

oha - und ich dachte, ich wäre auch charmant gewesen!

fehlen nur noch die füsse (->füße)

 

Klar linjus, du hast es mir schon früher aufgezeigt.
Doch dein Charme....nein, Blödsinn, danke nochmal.
Habe herumüberlegt, dir überhaupt zu antworten.
Wollte nicht meinen Fünfundzwanziger selber schreiben, habs aber dann doch getan. Jetzt bin ich gespannt, ob sich irgendetwas rot verfärbt. Die Eitelkeit treibt Blüten.....

Liebe Grüße an dich und bleib mir gewogen - Aqua

 

Hallo Aqualung,

die Bilder, die du mit deinen Worten gezeichnet hast, kann und will ein Betrachter der Welt mit rosaroter Brille wahrscheinlich nicht erkennen, aber du hast mich damit sehr angesprochen (das mag damit zusammenhängen, daß meine Brille eher dunkler getönt ist, um mich sowohl vor November- als auch vor Augustsonnen zu schützen).

Ausdruck und Wortwahl sind klasse, und diese Stimmung schleicht sich unauffällig in den Kopf und setzt sich dort fest. Wie manch ein Song aus der Vergangenheit..

:thumbsup:

LG

Die Trainspotterin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Aqualung,

ich muss eine Minderheitenmeinung loswerden: Mir gefällt die Geschichte nicht hundertprozentig. Der erste Absatz ist toll : voll von Gerüchen, genauen Beobachtungen (betrunken die Häuserwände entlang schrammen) und schönen Bildern (Nächte wie schwarze Gondeln).

Gelungen ist auch, wie du die Gefühlswelt von Aqualung mit den Songs verquickst - auch wenn man die Lieder nicht kennt (so wie ich), versteht man, was gemeint ist.

Aber ab und zu finde ich den Ton zu sentimental: "Gold, das sie im Herzen trug", "dass sie schon beide Füße in der Türe meines Herzens hatte". Geht es nur mir so, oder ist der Ausdruck "Herz" wirklich schmalzig, wenn er in übertragener Bedeutung verwendet wird?

Noch was:
"Ich lebe noch, trotz vieler Veränderungen, großer und kleiner Enttäuschungen. Vieles ging völlig daneben und vieles aber war besser als ich erwartet hatte."
Auch das klingt mir zu melodramatisch. Da murmele ich unwillkürlich vor mich hin: Jaja, das Leben! Schlägt es uns nicht immer wieder große und kleine Wunden?

Und, sorry, den Schluss finde ich unlogisch: Wenn sie Aqualung gespielt hat, liebte ich sie wie niemanden zuvor? Ich habe die Geschichte so verstanden, dass Aqualung sie damals nicht als die große Liebe betrachtet hat, was ihm im nachhinein leid tut... Oder kann man jemanden lieben, ohne dass man es merkt? Ich glaube nicht. Vielleicht sollte es besser heißen: ...und wenn ich daran zurückdachte, wie wir gemeinsam Aqualung gehört hatten, schien es mir, als hätte ich sie geliebt wie keine zuvor.

Grüße,
dein leixoletti

 

Hallo Heiko, hi Trainspotterin, hi leixoletti,

Ian A. ist Schotte, Heiko. Ich hab J.T, live in Glasgow gesehen und es war, als ob Schottland gegen das ungeliebte England in die Schlacht ziehen würde.
Stell dir ,Braveheart' vor, und statt den Schwertern Whiskyflaschen.

Danke, Trainspotterin.
Es scheint im Untergrund mehr J.T.- Fans zu geben, als ich dachte. Mein Favorit ist...du weißt es?

Leixoletti,

danke für deine Kritik.
Du hast recht. Für Aqualung war sie damals nicht die große Liebe. Aber seine Gefühle ihr gegenüber waren groß und mit dem Wort Liebe nicht zu erklären.

Liebe Grüße an euch - Aqua

 

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