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Archimedes
Der junge Mann zog vorsichtig einen Zollstock aus der Jackentasche und faltete ihn ganz langsam und nachdenklich, aus. Er senkte den Kopf, nachdem ihm wohl ein Regentropfen ins Auge gefallen war. Zwinkernd machte er drei große Schritte, vom Bordstein der alten Straße, weg. Der Weg führte einmal zu einem kleinen Industriegebiet aber die Industrie starb und zwischen Asphalt und einzelnen, schon schiefen Randsteinen, sprossen fröhliche kleine Pflanzen und Blumen. Die Sonne blickte manchmal zwischen den Wolken hervor und der Löwenzahn, vor Max Füßen, leuchtete in einem goldenen Gelb und die staubigen Blätter glänzten voller Regentropfen. Max schaute weiter gespannt zu wie der komische Mann – er hatte mittlerweile, die gleichen Schritte von der anderen Seite der Straße ausgeführt - einen Punkt auf dem Asphalt malte. Sein Zollstock war wohl zu kurz denn der Weg war mehrspurig, breit und ehemals stark befahren gewesen. Nun verrottete er unter einer hohen Brücke, von der niemand hinabsah und niemand wollte sich die hübschen kleinen Blumen am Straßenrand anschauen oder überhaupt nachdenken, dass es sie geben könnte. Ja, selbst Max interessierte sich kaum für die Schönheit verlassener Orte, ihn reizte einfach die Unbescholtenheit, die ihm hier sicher war.
Jetzt stand der Mann etwa in der Mitte der Straße. Zur Linken eine wilde Hecke und dahinter Wald, der dichter und dichter wurde und in eine dunkelgrüne Masse überging, an dem Punkt wo der Hügel begann und die Tannen das Tal in Schatten warfen, sobald die Sonne tief stand. Zur Rechten des Mannes, saß Max. Er saß auf der Treppe, etwas weiter hinten lugte ein altes Kioskdach schräg und verfault hervor und vor ihm lagen ein Spielzeugauto und eine Spielzeugfigur. In der Hand hielt er eine, im Verhältnis zu seiner Körpergröße, riesige Lupe, die er aber wirklich nur festhielt, da seine gebannte Aufmerksamkeit dem komischen Typ vor ihm gehörte.
„Was meinst du -“ Der Typ schaute Max an und legte den Kopf fragend zur Seite. „denkst du es wird gleich richtig regnen oder ziehen die Wolken vorbei?“
Max, aus seiner Beobachterrolle gerissen, schüttelte schnell seinen großen Kopf und tat sofort, als untersuchte er den Löwenzahn mit der Lupe und es schon die ganze Zeit davor getan hatte und es noch länger vorhätte und ihm natürlich alles Andere egal sei.
Der Mann zuckte mit den Schultern und legte den Zollstock an einem Punkt hin. Nach und nach malte er noch mehr Punkte auf und zog kleine Striche. Erst jetzt fiel Max die große Menge Kreide auf, welche neben dem sonderbaren Landvermesser lag. Sie hätte, seiner Meinung nach, ausgereicht, ein ganzes Fußballfeld voll zu malen. Der Mann nahm für jeden neuen Strich, den er weiter von dem ersten Punkt machte, immer eine andere Farbe. So ging es in alle Himmelsrichtungen und irgendwann reichte der äußerste Strich bis zu den Bordsteinen.
Während die Punkte und Striche ihren Platz fanden, wurde es Max tatsächlich etwas langweilig und er verwandte einige Zeit darauf, eine kleine, kaum genutzte Ameisenstraße mit der Lupe zu bearbeiten. Vielleicht ist auch bei den Ameisen ein Industriezweig weggestorben und es war deswegen so wenig los. Max zielte zuerst auf die erste und wenn sie in stiller Agonie zu qualmen anfing ging er gleich zur nächsten über. Die Tierchen sahen ihre verkohlten Kameraden und liefen trotzdem eine nur unwesentlich andere Route, eine winzige Umgehungsstraße bildete sich konvex um die erste Tote, und dann eine weitere und noch eine und noch eine, sodass Max noch nicht einmal aufstehen musste, um sie alle im Blick zu behalten. Als er sich auch damit zu langweilen begann, schaute er auf und legte die Lupe neben das kleine Auto. Es war übrigens ein rotes Auto, ein Ferrari, dessen Namen Max kannte aber noch nicht aussprechen konnte. Er sagte nur „Tesarossa“. Er meinte damit einen Testarossa, ein kantiges achtziger Jahre Produkt aber dennoch irgendwie elegant und gerade auf drei Zentimeter Länge geschrumpft, mit abgegriffenem Lack, unter dem die silberne Metallegierung glänzte, sehr schön und handlich. Es hatte diese angenehme Schwere, die man erst zu schätzen lernt, wenn alle Gegenstände, wie auf einen Schlag nur noch aus Plastik zu bestehen scheinen. Max zog es sogar seinem gelben Schaufelbagger vor, der zehnmal so groß war; so sehr liebte er dieses kleine Auto. Vielleicht auch weil es schon vor ihm da war. Max fand er in einer alten Box auf dem Speicher aber sein Papa gab nicht zu, dass es seins war und Max piesakte ihn damit bei jeder Gelegenheit.
Nun schaute er hoch und der Mann kniete nun Mitten auf der Straße und malte wirklich etwas aus. Es war kein Fußballfeld aber immerhin ein imposant großer Kreis. Gut, es waren viele Kreise, etwa fünf, die der Mann mit seiner Kreide gezogen hatte und jetzt malte er gerade den kleinsten in der Mitte mit einem großen Stück Kohle aus. Max kam das blöd vor, so war doch der Asphalt fast schwarz an dieser Stelle aber er sagte trotzdem nichts, auch wenn es ihn wirklich juckte diesen Gedanken gehabt zu haben, auf den der Erwachsene da vorn, nicht gekommen ist.
Aber der Mann malte beharrlich weiter und es sah sehr angestrengt und präzise aus. Manchmal leckte er einen Finger ab und zog damit über den Asphalt und korrigierte damit einen falsch gezogenen Strich. Er war gewissenhafter als Max, was das Ausmalen betraf und Max dachte sich, dass das eine viel zu überbewertete Tugend war und Ausmalen überhaupt Zeitverschwendung wäre, weil das Wichtigste mit der Kontur gesagt sei. Den Rest kann sich doch jeder selbst denken. Leider war seine Lehrerin da anderer Meinung und er schnitt in Kunst nicht gerade gut ab. Immerhin freute sich seine Mama noch über seine Bilder, ein kleiner Trost, der ihm die Welt bedeutete.
Der Mann malte jetzt einen Kreis um den ersten, mit dem er wohl zufrieden war, aus. Er war Rot und leuchtete weniger hell als Max es dem Mann gewünscht hätte. Das Rot war zwar zu erkennen aber es war so matt und dunkel, dass es Max traurig machte. Der Maler auf der Straße teilte scheinbar Max Meinung, er richtete sich nämlich auf, soweit es eben ging ohne aufstehen zu müssen, schaute vor sich hin und fing irgendwann an, sich bedächtig am Kopf zu kratzen. Es tropfte nicht mehr vom Himmel und der Mann zog seine leichte Regenjacke aus und schmiss sie lässig auf den Bürgersteig - auf Max Seite. Dann besann er sich, nahm gelbe Kreide und zog ein paar Striche auf dem Rot und es wurde wirklich etwas heller auch wenn es immernoch nicht leuchten wollte.
Als er diesen Kreis fertig hatte, stand der Mann auf, begutachtete sein Werk und fing gleich darauf einen neuen Kreis an, diesmal breiter als die Anderen, naja als der eine Andere, der erste war schließlich nur ein großer Punkt gewesen.
Max legte sich mit dem Rücken auf die Treppe und sah in den Himmel. Er beneidete den Mann auf der Straße, der hatte so viel Freizeit sich auf die Straße zu setzen und Kreise zu malen während er, Max, in die Schule gehen musste und Hausaufgaben hatte und auch noch ne blöde Querflöte spielen sollte und wohl bald gehen würde, weil Mama sonst sauer wird und er schon zu lange wegblieb. Und er dachte daran, dass sein Papa sagte, man könne nur durch harte Arbeit was werden und Max fand es schade, dass man auf ihn so aufpasste und er befürchtete, dass er irgendwann, wenn er groß ist, nicht die Zeit haben würde, Kreise zu malen und in den Himmel zu schauen, weil sein Papa vielleicht recht hat und er vielleicht sein ganzes Leben lang so weitermachen muss und irgendwann vergessen haben wird, wie sich Kreide anfühlt und ja, auch wie Kreide schmeckt. Nämlich nach garnichts. Naja, vielleicht etwas nach Pappe aber nur die Braune Pappe. Die gelbe Postpappe die man als vorgefertigtes Paket kaufen kann schmeckt anders, eklig, nach gelb eben. Aber das muss man wissen, man muss es probiert haben! Dann grinste Max weil ihm einfiel, dass er ja noch klein ist und erst in der dritten Klasse und das sein Papa ja vielleicht doch nicht recht hat und dass er vielleicht noch als alter Mann auf der Straße sitzen und Kreise malen wird. Vorausgesetzt - er mag es irgendwann Sachen auszumalen. Aber allein die Möglichkeit zu haben, ist doch auch schon was. Er schloss die Augen und hörte dem schabenden Geräusch zu, das vom komischen Mann kam, während dieser nach und nach seine Kreise zog.
Als Max wieder aufwachte stand die Sonne wieder anders, er sah sie nämlich nirgendwo. Die Wolken waren fast alle weg und nur ein paar verlorene weiße Punkte zogen über ihm hinweg. Mittlerweile lag er unter dem Schatten der Brücke, die das Tal überquerte und die einen grünen Tannen mit ihren Verwandten, auf der anderen Seite, verband. Diese Brücke ragte wie ein Monster aus dem Boden, stand auf vier riesigen Stelzen aus Beton und Max konnte über sich, die graue Unterseite sehen. Sie war hässlich und selbst das Grau war sich nicht geheuer, es schwankte nämlich an einigen Stellen zwischen weiß und schwarz und konnte sich einfach nicht entscheiden was hässlicher wirkte. Auf Augenhöhe aber wurde das Grau der Brückenpfeiler durchbrochen und verdrängt. Alte Graffiti erzeugte mit seinen verblichenen Farben, den nichts-sagenden, nicht-lesbaren Worten, die nette Illusion von Frische und Rebellion. Aber selbst die war verstummt, weil es niemand mehr las und niemand sich darüber aufregte und es nicht zur gewollten Abgrenzung führte, sondern, sondern jedem als Zeitverschwendung verständlich war. Seit Jahren hat kein Jugendlicher mehr hier eine Sprühdose in der heimlichen Stille der Nacht gezückt. Jetzt Stand die Sonne hinter der hohen Fahrbahn, und Max und das Stück Straße mit dem Kreis, wurden vom riesigen, langem Schatten erfasst. Max dachte, dass es etwas kühler sei wenn die Sonne einen nicht anschien. Aber gerade jetzt in der Mittagszeit ging es eigentlich. Nach einem lauten Gähnen, bei dem er sich streckte, mit den Zehen wackelte, setzte er sich auf und trat beinahe auf seine Lupe.
Auf dem Bürgersteig lag immernoch der Mantel aber der komische Mann war weg. Ebenso stand da noch die große Verpackung mit der Kreide. Alles war wieder fein einsortiert und neben die Jacke gelegt. Allein der kleine Kohlerest lag wie dahingeworfen daneben. Der Mann wird ihn wohl übersehen haben - .
Max stand auf, stieß den Ferrari sanft mit seinem großen Zeh an und dieser fuhr einen Stein weit und blieb in der nächsten Fuge hängen. Als sich Max an den Rand des äußersten Kreises stellte, musste er doch bewundernd anerkennen wie fachmännisch und sorgfältig alles ausgemalt worden war. In der Mitte ein schwarzer Punkt, darum ein roter Kreis, darum ein grüner Kreis und darum ein blauer Kreis und ganz außen ein Gelber. Dazu gingen vom roten Kreis einige Linien nach außen ab, die der Mann wohl auch mit dem Kohlestück gezogen hat. Es sah alles sehr ordentlich und professionell aus und dennoch, Ausmalen war doch nur eine Sache für Leute, die zuviel Zeit hatten. Max Meinung stand da fest.
Er schaute sich das Ganze noch eine ganze Weile lang an, ging sogar einmal rund herum und – als er sich vorsichtig umgesehen hatte, lief er auch einmal quer drüber.
Aber plötzlich kam ihm die Erinnerung und das Bild seiner drohenden Mama vor Augen, doch bitte nicht lange wegzubleiben um noch Querflöte zu üben und er fuhr erschrocken zusammen. Na, dann muss es wohl sein. Max drehte sich auf dem Absatz um und ging die paar Schritte, zu dem Unterstand des alten Kiosks, um seine Sachen zusammenzusuchen. Als er die Lupe nahm, kam gerade die Sonne hinter der grauen Bücke hervor und Max konnte nicht widerstehen noch schnell eine Ameise, die gerade verfügbar war, zu braten.
Gerade als etwas Rauch aufzusteigen begann und das Insekt nicht mehr zappeln konnte, ertönte ein dumpfer Knall hinter ihm. Als ob ein Autoreifen platzt, so wie es in Filmen bei Verfolgungsjagden vertont wird, nur diesmal ohne das Quietschen und die Karambolage danach. Max sprang herum und begriff, auf einen Schlag, den Zweck der Kreise. Nachdem er lange hoch gesehen hat und ihm nun selbst die Sonne in seinen Augen zu brennen begann, holte er tief Luft und trat langsam ein paar Schritte auf den äußeren Kreis zu. Er sah einen Zettel in der Hand des Mannes und nachdem er lange gezögert hatte – denn es war doch seltsam, er war noch nie in so einer Situation und er kannte auch keinen Film oder Zeichentrick oder Comic, der ihm hätte helfen können - nachdem er lange gezögert hatte und sich doch überwand, ging er näher heran und zog den Zettel vorsichtig aus den komischen Fingern. Es war ganz leicht, dabei muss ihn der komische Mann so fest, so lange gehalten haben. Und als Max las, musste er doch grinsen und er packte schnell seinen Ferrari und rannte mit dem Zettel nach Hause.
Spielregeln:
Schwarz - 100 Punkte
Rot - 75 Punkte
Grün - 50 Punkte
Blau - 25 Punkte
Gelb - 0 Punkte.
Game Over.