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Arnos Lebensstückchen
Arnos Lebensstückchen
Arno hatte sich den Wecker auf 6.00 Uhr gestellt, denn um 8.00 Uhr sollte ihn das Taxi abholen und zum Bahnhof bringen.
Gestern Nacht war nach einem hektisch verlaufenem Telefonat mit dem leitenden Redakteur noch ein dringender Auftrag an ihn ergangen, der bis zur nächsten Redaktionssitzung erledigt sein musste. Als freier Journalist hatte man auf alles jederzeit gefasst zu sein.
Den Wecker brauchte Arno eigentlich nicht, denn er hatte ja Cajun. Und auf Cajun war Verlass. So auch dieses Mal. Mit samtennasser Zunge bekam Arno das Gesicht abgeschleckt und wurde dadurch wach, dass ihm der fischige Atem aus Cajuns Maul in die Nase zog.
Und wie jeden Morgen zwischen noch halbträumender Schläfrigkeit und Wachwerden nahm er sich vor, endlich die Tierfuttersorte zu wechseln, um den Fischgeruch in einen Fleischgeruch zu verwandeln.
Und wie jeden Morgen hatte Arno seinen Vorsatz in dem Moment wieder vergessen, indem er breitbeinig andächtig in die Kloschüssel urinierte, so als verlören sich mit dem wegspülenden Urinstrudel alle Erinnerungen der Nacht und der Grauzone bis zum Wachwerden.
Cajun tänzelte unruhig hin und her, während Arno noch dabei war, in seine Jogginghose zu schlüpfen, die zum Unwillen von Anke stets über dem Badewannenrand hing und somit, wie er ihr klarzumachen versuchte, jederzeit auffindbar und griffbereit war.
Von der Garderobe schnappte sich Arno sein Sweatshirt und zog es über den Kopf. Arno hatte die Tür kaum geöffnet, da schoss Cajun heraus und fegte die Straße entlang Richtung Park.
Von weitem sah Cajun mit seinen dünnen langen Beinen und dem kurzen braunen Fell wie ein junges Reh aus.
Arno zog die Tür hinter sich zu, den Schlüssel zur Eingangstür hatte er immer in seiner rechten Hosentasche. Auch so ein Streitpunkt mit Anke, die fand, dass sämtliche Schlüssel am Schlüsselbord zu hängen hatten.
Manchmal dachte Arno, dass die Idee, Anke bei sich in seiner Loft wohnen zu lassen, ein Fehler war.
Cajun und er waren ein eingespieltes Team. Sie hatten ein morgendliches Ritual. Wie immer wartete Cajun unruhig am Straßenrand, die Nase mal rechts mal links in die Luft haltend, darauf, endlich von Arno den Befehl zu erhalten, über die Straße in den Park rennen zu dürfen. Dort verschwand Cajun dann regelmäßig in den Tiefen der Büsche während Arno gemächlich weiterging.
Doch an diesem Morgen geschah Unterwartetes. Cajun stürzte auf die mit Stiefmütterchen frisch angepflanzten Beete und sprang hinein. Dann stand er steifbeinig wie erstarrt, als wolle er etwas überlegen. Noch bevor Arno Cajun zurückrufen konnte, hatte dieser behende mehrere Stiefmütterchen mit grabenden Pfoten entwurzelt und Arno musste zusehen wie sie in hohem Bogen durch die Luft flogen.
***
“Verdammt, wo ist der dritte Film?” fluchte Arno, “das gibt es doch nicht, wieso sind hier nur noch zwei?” Arno griff wütend ins Regal, wo sich seine Kameraausrüstung befand und tastete hinter der Kameratasche an der Regalwand entlang.
“Mist!” entfuhr es ihm und wie von einem Blitz getroffen, drehte er sich um und seine Stimme bekam einen gefährlichen Unterton: “Anke, hast du einen Film vom Regal hier genommen?” Cajun, der sabbernd an einem Knochen rumnagte, schreckte auf und schaute Arno irritiert an.
“Was hast du eben gefragt?” Anke stieg gerade aus der Dusche und angelte sich ein Handtuch.
“Ob du einen Film hier weggenommen hast, will ich wissen. Ich hab hier immer drei Filme auf Vorrat liegen, für alle Fälle.”
“Ein Film? Könnte sein.” “Wie jetzt? “ Arnos Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, “hast du , oder hast du nicht? Denk nach!”
“Kann schon sein, dass ich einen Film genommen habe,” Anke klang gleichgültig und rubbelte sich weiter mit dem Handtuch ab, so dass der nächste Satz: “ mach doch deswegen kein solches Theater, “ fast vom Froteehandtuch erstickt wurde.
Arno wurde unwirsch: “so geht das nicht , du lässt in Zukunft gefälligst meine Sachen in Ruhe.”
***
Cajun hatte wieder mal seinen Weckdienst pünktlich verrichtet und Arno mit seiner nassen warmen Waschlappenzunge aus dem Schlaf geholt.
‘Was war heute für ein Tag?’ versuchte sich Arno zu konzentrieren und stellte erfreut fest, dass heute nichts anlag, es war Sonntag.
Er kraulte Cajun hinterm Ohr, tätschelte seinen Kopf und flüsterte: “Leg dich auch noch ein wenig hin, heut ist Sonntag“, was Cajun mit einem leisen Winseln beantwortete, dann legte er sich neben Arnos Bett.
Arno lächelte, dass Cajun so gut verstanden hatte, was er von ihm wollte. Wir sind ein gutes Team fand er anerkennend, zog sich zufrieden die Bettdecke weiter bis ans Kinn und drehte sich um.
Sein Blick fiel auf Anke, die ihm zugewandt auf der Seite lag.
Er betrachtete sie. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, so dass die beiden Furchen um ihre Mundwinkel sanfter als sonst aussahen. Ihre Stirn, die oft angestrengte Querfalten hatte, war glatt. Nein, nicht ganz glatt. Wenn er genau hinsah, dann waren da noch Spuren dieser sonst tagsüber tieferen Falten zu erkennen.
Sie hatte es schwer in ihrem Job als Regieassistentin. Ihre männlichen Kollegen gingen oftmals überheblich und dominant mit ihr um. Und so richtig abschalten, wenn sie nach Hause kam, konnte sie dann oft nicht.
Arno hätte sie jetzt gerne ansich gezogen und seine Arme um sie gelegt. Aber dann hätte er sie geweckt und der Zauber ihrer anmutigen Schläfrigkeit wäre verflogen. So verharrte er in seiner Betrachtung, genoss die friedliche Stimmung, die sich in seinem Körper ausbreitete und die wohlige Bettwärme, die ihn umgab.
Nach einer Weile verschwammen Ankes Gesichtskonturen und Arnos Augen fielen zu als Auftakt zu einem frühmorgendlichen Hinwegschlummern in den Sonntag.
***
Als Arno erneut erwachte, hatte die Morgensonne bereits die Loft durchflutet. Kaffeeduft strömte aus der blubbernden Kaffeemaschine und zog in feinen Fäden in seine Nase.
Er streckte sich und blinzelte in Richtung Küche.
Anke hantierte dort herum, klappernd entnahm sie dem Schrank Geschirr und stellte es auf den Holztisch.
“Morgen”, Arno räusperte sich , weil er fand, dass sein Gruß geklungen hatte als würde ein Rabe krächzen. Auch hatte Anke nicht reagiert, vermutlich hatte sie ihn nicht gehört. Also nochmal, beschloss Arno: “Guten Morgen,“ artikulierte er überdeutlich und wer ihn besser kannte, wusste, dass er sonst nicht so pointiert betont sprach.
“Na?”, Anke winkte fröhlich, “endlich ausgeschlafen? War schon mit Cajun Gassi. Das war dringend.”
Arno fühlte sich schuldbewusst. “Gibts Eier zum Frühstück?” lenkte er ab, “Rühreier?”
“Ja, gute Idee,” Anke holte die Eierpackung aus dem Kühlschrank. Arno richtete sich im Bett auf und sah ihr zu. Gerade in dem Moment, als sie das erste Ei der Packung entnommen hatte, fiel ihm wieder dieser Zeitungsartikel ein.
“Warte mal eben, ich will was nachgucken. Was für eine Zahl steht auf den Eiern?” Anke blickte etwas unwirsch auf und hielt inne. “Zahlen auf Eiern?” sie betrachtete das Ei in ihrer Hand und wendete es.
“Ja”, Arno war jetzt bei ihr, “habs gestern im Hamburger Abendblatt gelesen. Wenn eine Null am Anfang steht, ist es ein Ökoei, ne eins steht für Freilandeier, und die vier, das sind die Käfigeier.”
Er nahm ein Ei aus der Packung und drehte es so , dass er die Nummer erkennen konnte. “Guck, da steht die Zahl, eine vier.”
Arno hatte das Ei direkt vor Ankes Augen gehalten, die ihren Kopf zurückbog. “Wo hast du die gekauft?” Arnos Stimme nahm einen inquisitorischen Ton an. “Keine Ahnung,” Anke zog die Schultern hoch, “ich merk mir doch nicht wo ich die Eier kaufe,” erwiderte sie schnippisch und schlug das Ei gegen den Schüsselrand.
“Ich will in Zukunft keine Käfigeier mehr,” forderte Arno und betrachtete angewidert wie Anke Ei für Ei zerschlug und dann mit dem Schneebesen anfing, die Eier zu verquirlen.
“Dann musst du dich in Zukunft selbst um den Eierkauf kümmern, “ bemerkte Anke trocken, den Schneebesen im schepperndem Rhythmus gegen die Schüsselwand schlagend.
***
“Arno, kannst du mir aus einer Patsche helfen? Ich müsste heute Abend zu einer Vernissage, aber eben bekomm ich eine sms von Suzan, dass sie doch schon heute kommt. Übernimmst du die Reportage für mich?”
“Klar, Tom, mach ich, wann genau und wo ist es?”
“Ab 20.00 Uhr. Es ist die Galerie in der Kanalstraße, die Nummer weiß ich jetzt nicht, aber es ist da, wo wir uns letztes Jahr gehörig eins hinter die Binde gekippt haben, weißt du noch?”
“Ach ja, dann weiß ich jetzt wo. Soll das Übliche gemacht werden? Oder irgendein besonderes Interview?”
“Nee, Arno, so wie immer, das übliche Blabla, kennst dich ja aus. Danke, dass du für mich einspringst.”
Als Arno gegen halb neun die drei Stufen zur Galerie hinunterstieg quoll ihm Zigarrenrauch entgegen. Die Stimmung in der Galerie war anders als sonst. Ungewöhnlich, fand Arno und blickte sich um. Das Publikum bestand aus älteren Leuten.
Der bei den Vernissagen mit zunehmendem Alkoholkonsum ansteigende Lärmpegel erschöpfte sich hier in hanseatisch vornehmen Gemurmel.
Auch war kein Geschiebe und Gedränge vor den Bildern, sondern Arno kam es so vor, als sei jeder Besucher mit dem einmal eingenommenen Platz bis zum Ende der Veranstaltung verwurzelt. Alles wirkte stockbeinig steif.
Arno suchte den Raum nach einer Person ab, die ihm mehr über diese Vernissage hätte sagen können. Aber ausmachen konnte er keinen, alle wirkten so als hätten sie hier ausgestellt. Keiner, der sich besonders hervortat.
Hoffentlich werd ich im hohen Alter nicht auch so, dachte Arno, dessen Blick sich auf einen älteren Herrn im blauen Blazer geheftet hatte. Dieser stand steifrückig vor einem Bild als hätte er einen Stock im Rücken.
Das Bild, das er so starr anblickte, war eine Schwarz-Weiß-Bleizeichnung und zeigte eine faltige alte Frau.
Gar nicht schlecht getroffen, diese winzigen lebenstüchtigen Augen der Alten, stellte Arno fest. Zusammen mit dem schmallippigen Lächeln wirkte das Gesicht würdevoll und heiter. Arno trat näher.
Sie hatte Ähnlichkeit mit Oma. Ach, die gute Oma, schon lange tot und damals der gütigste Mensch, den Arno je kannte. Bei Oma durfte er alles und egal, was er tat, Oma hatte ihn lieb. Oma, die sich immer strahlend freute, wenn er sie mal besuchte, ihr von seinen Erfolgen berichtete und die voller Stolz zu sagen pflegte: ‘Ja, mein Arnochen, ist ein guter Junge.’ Dabei hatte er häufig gerade etwas angestellt und ihm war das peinlich, dass sie trotzdem so unbeirrt zu ihm hielt. Arno hatte das Bild unentwegt angeschaut und das Gefühl, dass er, je länger er davor stand , um so sehnsüchtiger an die vergangenen Zeiten mit Oma denken musste.
***
Eigentlich war es noch viel zu kühl und trotz anderer Vorhersage sah es nach Regenwetter aus, aber Arno zog es zusammen mit Cajun an die frische Luft. So saßen sie beide auf der Terrasse, Arno in dem windgeschützten Strandkorb und Cajun vor ihm gekauert auf dem Boden. Über ihnen der graue Wolkenhimmel Hamburgs.
Damals, vor zwei Jahren, als Arnos Freunde zusammengelegt hatten, um ihm diesen Strandkorb zu schenken, hätte er Anke am liebsten erwürgt, denn die Idee für dieses Geschenk stammte von ihr.
Er, Arno und ein Strandkorb. Spießbürgerlicher ging es wohl nicht. Und dann noch ein Strandkorb auf einer Terrasse mitten in der Stadt. Abartig. Arno erinnerte sich , dass er damals am liebsten von seiner Geburtstagsfeier abgehauen und sich besaufen gegangen wäre. Er fand dieses Geschenk nur peinlich. Damals.
Doch ab und zu mal hatte er sich in dieses Ungetüm gesetzt. Man war windgeschützt, saß bequem und das kleine seitlich angebrachte Holzbrettchen, welches man aufklappen konnte, war ein praktisches Tischchen für den Kaffeebecher.
Ja, mit der Zeit, hatte die Bequemlichkeit, die dieser Strandkorb zu bieten hatte, Arno umgestimmt. Jetzt wollte er ihn nicht mehr missen.
Entspannt, mit dem Buch, welches ihm Anke zu Weihnachten geschenkt hatte, saß Arno zurückgelehnt im Strandkorb. Und als gäbe es einen stillen Vertrag mit den Wettergöttern, riss in dem Moment die Wolkendecke auf
als Arno das Buch aufschlug und ein wärmender Sonnenstrahl streichelte milde über sein Gesicht.