Aschenputtel gibt es nur im Märchen
Semila war drei Jahre alt. Mit ihren Eltern wohnte sie auf dem Lande. Sie hatte keine Geschwister und selten Freunde, die mit ihr spielen wollten. Die Verwandtenbesuche waren ihre einzige Abwechslung. Wie es sich für die Dorfbevölkerung so gehörte, wurde jedes persönliche Fest gebührend gefeiert. An diesem Sonntag hatte ein Onkel und seine Freundin zur Verlobungsfeier eingeladen. Semila, ihre Mutter und auch der Vater hatten sich fein angezogen. Die Mutter mit ihrem Sonntagsrock, dem dunkelblauen, und einer weißen Bluse ausgestattet; der Vater mit weißem Hemd, seiner Sonntagskrawatte mit rot-gelben Streifen und schwarzer Hose. Semila hatte nur ein Kleid. Es war hellblau mit kleinen weißen Punkten verziert und zarten, kleinen Schleifen am Volant und am Halsausschnitt. Wenn sie es anhatte, fühlte sie sich immer wie eine Prinzessin. Ihre blonden Haare wurden immer praktisch geschnitten; eine Ponyfrisur, die am besten zu ihren glatten Haaren passte. Dennoch standen sie an den Seiten immer ab, obwohl ihre Mutter sie mit Haaröl zu bändigen versuchte. Ihre kleinen Füße wurden in viel zu große Schuhe gesteckt. Sie sollten ein paar Jahre passen, denn Schuhe waren sehr teuer. Vorne an den Spitzen wurde der Leerraum mit Zeitungspapier ausgestopft. Beim Gehen drückte es und deshalb stolperte Semila. Es waren Sonntagsschuhe, natürlich in weiß. Sie war froh, ihre Füße an den Werktagen mit den bequemen Schuhen entspannen zu können. Damit konnte sie laufen, rennen, hüpfen, was ihr sehr viel Spaß machte.
An diesem Sonntag machte sie sich mit ihren Eltern auf den Weg. Der Onkel und seine Freundin wohnten auch auf dem Dorf, aber nicht im gleichen wie Semila. Zwanzig Kilometer konnten sie nicht zu Fuß bewältigen. Die Eisenbahn war die einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie fuhr gerne mit dieser Bahn. Das Rattern und Ruckeln, wenn sie in den Abteilen saß, fand sie sehr lustig. Ihr ganzer Körper vibrierte, wenn der Zug anhielt und wieder anfuhr. Wenn die Fahrt schneller wurde, die Wiesen und Felder beim Hinausschauen aus dem Fenster vorbeiflogen, fühlte sie sich wie ein Vogel, der durch die Welt flog. So stellte sie sich auch das Fliegen vor. Flüge in einem Flugzeug. So etwas kannte sie nicht. Sie träumte dann und sprach nicht viel. Die Eltern unterhielten sich über das bevorstehende Ereignis. Die Mutter war aufgeregt. Sprach in hastigem Tonfall, wobei sie ständig auf ihrem Sitzplatz hin- und herrutsche. Dabei fielen ihr ständig irgendwelche Dinge ein, die sie vergessen hatte oder meinte, sie vergessen zu haben. Gleich wühlte sie in ihrer großen Reisetasche herum, ob die Geschenke für die Verlobungsfeier auch alle da waren. Für die zukünftige Braut hatte sie eingekauft - eine Tischdecke, eine Sammeltasse und ein paar Blumen. Der Onkel, ihr Bruder, bekam kein Geschenk. Es war nicht üblich, Männern Geschenke zu machen. Die Fahrt dauerte nicht sehr lange. Eine halbe Stunde. Am Bahnhof der Ortschaft angekommen, erwarteten sie die Verwandten. Der Onkel hatte sich ein Auto gekauft. Er war sehr stolz darauf es zu zeigen. Die Fahrt mit dem neuen Gefährt gestaltete sich für Semila und ihre Familie recht lustig. Durch die vielen Löcher in der Straße wurden sie ordentlich durchgeschüttelt und die Haare flogen wild umher. Als sie bei dem Bauernhaus ankamen, sahen alle aus, als wären sie in einen Sturm geraten.
Die Verwandten warteten schon.
Semila begrüßte ihre zwei Cousinen Anette und Judith. Anette war weitaus älter - wie alt wusste Semila nicht. Sie sah jedenfalls sehr erwachsen aus. Judith zählte zwei Jahre. Dann gab es noch den Alfred, er war gerade erst aus dem Windelalter herausgewachsen. Anette kannte sie nicht so sehr gut. Ab und zu sahen sie sich, wenn die ganze Familie bei Festen wie diesem zusammenkam. Die Eltern begrüßten sich auch mit einem Handschlag und einem Wie-geht-es-Dir. Umarmungen waren nicht üblich. Dann setzten sich alle auf das Sofa - schön nebeneinander. Aufgereiht wie Hühner - so stellte Semila den Vergleich an und musste oft darüber kichern. Natürlich nur unter vorgehaltener Hand, sonst wäre es peinlich geworden; die Hand des Vaters oder auch der mahnende Blick der Mutter wären sicher. Die Unterhaltung war recht munter. Schließlich hatte man sich eine Weile nicht mehr gesehen und dementsprechend viel zu erzählen. Neuigkeiten wurden ausgetauscht und meistens waren die lieben Kleinen das Gesprächsthema Nummer Eins. Es wurden nur die guten Seiten hochgelobt - die negativen Erlebnisse behielt man für sich. Jeder wollten sein Wunderkind vorzeigen, und das hatte nunmal keinen Makel. Semila langweilte sich. Kinder durften in diesem Kreis nicht laut sprechen. Sie begannen Spiele unter dem Tisch. Die kleine Judith baumelte mit den Beinen. Sie saß neben Semila und neben Judith saß Anette. Der kleine Alfred durfte zwischen den Eltern sitzen.
Das Beinebaumeln hatte Judith ausgeweitet. Abwechselnd das linke, dann folgte wieder das rechte Bein. In rasendem Schwung immer hin und wieder zurück. Semila gefiel es nicht, denn beim Zurückschwingen der Beine von Judith stieß sie jedes Mal mit ihren Absätzen an die rechte Wade von Semila. Es tat weh. Sie sagte jedoch nichts, sondern rückte ein Stück nach links, damit der Abstand sich zwischen ihnen vergrößerte. Das Spiel jedoch gefiel Judith so sehr, dass sie nun noch die Tischplatte anstupste, so dass das auf dem Kaffeetisch schön arrangierte feine Porzellan gefährlich ins Wanken kam. Judith schien wenig beeindruckt davon. Mit einem noch größeren Schwung schaffte sie es dann beim nächsten Mal, dass sich ein Malheur ausbreitete. Judith sah mit einem Schmunzeln, dass ihre Tante - die Mutter von Semila - ein Stück Schokoladentorte abschneiden wollte. Das Messer setzte sie vorsichtig an der dafür vorgesehenen Einkerbung an und drückte die Spitze hinunter. Durch den Ruck, den Judith mit ihren Beinschwingungen ausgelöst hatte, wackelte nicht nur das Geschirr auf dem Tisch, sondern auch die Dekoration auf der Torte. Rote Kirschen befanden sich darauf. Die Tante machte „Oh ...“, wobei die rote Kirsche, die ihr Tortenstück zierte, dem Wackelmoment nicht standhalten konnte und mit einem Ruck in hohem Bogen über den Tisch segelte. Erstaunte Blicke, mit aufgerissenen Augen, folgten der Kirsche, die sich nun als Ziel die gerade eingeschenkte Kaffeetasse des Onkels aussuchte. Es schwappte und spritzte. Die Tortendeko landete mit einer abschließenden Wellenbewegung des dampfenden Getränks auf dem Grund der Tasse. Die Mutter von Semila legte erschrocken ihre Hand auf den Mund; auch die restliche Kaffeerunde, die aus den Eltern von Anette und Judith sowie dem Verlobungspaar bestand, verstummte augenblicklich. Alfred öffnette seinen Mund und wollte gerade anfangen zu schreien. Doch dieses Schauspiel ließ ihn stocken. Alle schauten mit offenem Mund auf die noch schwappende Kaffeetasse, in die die Kirsche verschwunden war.
Semila wusste natürlich, dass Judith durch das Beineschaukeln dieses Malheur ausgelöst hatte und schaute sie böse an. Die Blicke aller waren nun auf Judith gerichtet, die sich aber keine Blöße geben wollte. Mit einem schnellen Die-war‘s! deutete sie mit dem Finger auf Semila. Diese riss nun ebenfalls ihren Mund auf - vor Staunen, dass Judith sie beschuldigte -, währenddessen die Kirsche ihren Wellengang beendete. Die Kaffeerunde schien beendet. Semila wurde von ihrer Mutter ausgeschimpft und aus dem Zimmer geschickt. Draußen sollte sie über ihre Tat nachdenken. Wieder einmal war sie die Dumme, obwohl alle wussten, dass es nicht stimmte. Die anderen feierten weiter. Judith war nun der Mittelpunkt der Gesellschaft. Auch Alfred durfte schreien, wurde nicht ermahnt. Semila war das Aschenputtel. Schade nur, dass der Prinz nicht kam und sie erlöste.
Nachdem die Kaffeetafel sich auflöste, machten die Erwachsenen einen Spaziergang. Anette sollte mit den Kleineren zu Hause bleiben und auf sie achten. Semila stand noch immer draußen. Ihre Tat wiegte schwer. Erst als die Eltern nach Hause fuhren, wurde sie von ihrer Strafe erlöst. Die Verlobungsfeier war für Semila ein schlechtes Omen; so sehr, dass sie als Erwachsene nicht heiratete. Aus dem Aschenputtel wurde keine Prinzessin. Alle Märchen waren nur Träume - Träume von Erwachsenen, die sich niemals erfüllten, so empfand es Semila.