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Atemschaukel
„Mein Großvater war im Ersten Weltkrieg Soldat. Er wusste, wovon er spricht, wenn er in Bezug auf seinen Sohn Matz oft und verbittert sagte: Ja, wenn die Fahnen flattern, rutscht der Verstand in die Trompete. Diese Warnung passte auch auf die folgende Diktatur, in der ich selber lebte. Täglich sah man den Verstand der kleinen und großen Profiteure in die Trompete rutschen. Ich beschloss, die Trompete nicht zu blasen“ berichtet Helga Müller zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises. Erst mit dem Nobelpreis 2009 taucht der Name Herta Müller in meiner Wahrnehmung ein – war doch selbst mir, dem notorischen ZEIT-Leser der Artikel Die Securitate ist noch im Dienst vom 23. Juli 2009 durchgegangen, wie auch schon ihre Atemschaukel* aus dem gleichen Jahr.
Der Roman zeichnet die Deportation eines 17-jährigen Mannes auf fünf Jahre in ein sowjetisches Arbeitslager in der Ukraine nach, was fürs Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen nach dem Zweiten Weltkrieg stehen mag. Quelle zum Roman sind vor allem Notizen zu mündlichen Erinnerungen des Lyrikers Oskar Pastior. Die gemeinsame Arbeit an diesem autobiografischen Werk fand 2006 mit seinem Tod ein Ende. Dennoch liegt ein eigenwilliges Werk vor, das weit aus dem breiten Strom populärer, aber i. d. R. flachsinniger Veröffentlichungen herausragt, ein Roman wider allen mainstream – was auch gar nicht anders sein kann, ist doch Pastior ein Dichter großer Formvielfalt, der mit Sprache experimentiert – manche wähnen ihn der Tradition des Dada – und Müller eine Erzählerin zeitkritischer Stoffe in einer mächtigen Prosa, die weder vor lyrischen Tönen noch vor herbem, gar derbem Humor zurückschreckt – Erscheinungen, welche ihr das Leben hierorts auch nicht einfacher machen würden. Sicherlich sähe mancher gerne, dass hiermit der Rezension genug sei –
hält doch der scheinbar alles verschlingende Krake mainstream als einzig mögliche Definition der Rezension die Besprechung eines neu erschienen Buches, womit meine Tendenz, auch ältere, immer wieder lesenswerte Werke auszugraben und zu besprechen, schon keine Rezension mehr sein können, da ihnen der Makel des Alterns anhaftet. Aber nicht nur Lebewesen, auch ganze Bibliotheken altern, während einige Bücher gar nicht altern können, wie schon die Ilias (wie sonst ließe sich eine abgrundtief miserable, auf heutigen billigen und flachsinnigen Geschmack der Unterhaltungsindustrie abgestimmte, sprich: kommerzielle Version Troias erklären?)! Aber gepfiffen! Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um, singt schon lange Wolf Biermann, legitimer Nachkomme Heines und Brechts. Aus vielen anderen Beiträgen sollte zu erkennen sein, dass ich nicht dazu neige, Inhalte nachzuerzählen –
der Leser kann doch selbst lesen oder sollte er dümmer sein als ich?, die Form ist bei all den vorherrschenden versammelten Trivialitäten das wichtigere als der Inhalt (mag auch Berg – um ein Beispiel zu nennen – den Inhalt wichtiger nehmen) und jetzt kommen wir zu der Form auch dieser kleinen Arbeit: Selbstverständlich gibt es essayistische Momente, ist doch das engl. essay nix anderes als ein Versuch (Experimente lassen grüßen) bzw. Aufsatz, das essay subject ist allemal eindeutig das Thema des Aufsatzes: Der Roman Atemschaukel ist nicht allein durch die DDR Vergangenheit aktuell, sondern auch auf kg.de, ließe sich doch auch hier Engstirnigkeit, vor allem Denunziantentum nachweisen. Zum IM wird man nicht nur berufen sondern geboren und somit von Geblüt! Wie sonst kann erklärt werden, dass eine Beschwerde (womöglich anonym) das Moderatorenteam zur Zensurbehörde umfunktionieren kann?
1953 im Banat geboren, erfährt das kafkaeske Leben der Herta Müller unterm despotischen System Ceauşescu 1987 auf freiheitlich-demokratischer Grund- und Bodenordnung eine Fortsetzung, dass sie wegen des problematischen Umgangs im Durchgangslager in der Beerde die Welt nicht mehr versteht. Wie mag’s da einem ergehn, der nicht einmal die Sprache versteht? Zudem findet sich das buchstäbliche Auf- und Einfanglager gegenüber einem ehemaligen Parteigebäude der NSDAP …
Erst seit 2001 zeichnet Herta Müller Gespräche mit ehemaligen Deportierten aus ihrem Heimatdorf auf. „Weil es an die faschistische Vergangenheit Rumäniens erinnerte, war das Thema Deportation tabu. Nur in der Familie und mit engen Vertrauten, die selbst deportiert waren, wurde über die Lagerjahre gesprochen. Und auch dann nur in Andeutungen. Diese verstohlenen Gespräche haben meine Kindheit begleitet. Ihre Inhalte habe ich nicht verstanden, die Angst aber gespürt“, erinnert sie sichi [*, S. 299.] Sie weiß, dass auch Oskar Pastior ins Arbeitslager deportiert wurde zum Wiederaufbau der Sowjetunion - wie alle andern deutschstämmigen Rumänen im Alter von 17 bis 45 Jahren auch. Es soll eine gemeinsame Arbeit der beiden werden und wird doch das Denkmal für alle Zwangsdeportierten. Schon zu Beginn muss auch dem Einfältigsten klar sein, dass der Icherzähler für Oskar Pastior steht, der wie der Protagonist 1968 Rumänien verlässt [vgl. *, S. 9], eher ein Schüler Karl Kraus, der einmal sein Verhältnis zur Sprache auf den Nenner brachte „Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken empfange, und sie kann mit mir machen, was sie will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem Wort springt mir der junge Gedanke entgegen und formt rückwirkend die Sprache, die ihn schuf. Solche Gnade der Gedankenträchtigkeit zwingt auf die Knie und macht allen Aufwand zitternder Sorgfalt zur Pflicht. Die Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht sie sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den Schoß“ [Aphorismen], was gleichermaßen auf Herta Müller zutreffen mag – man vergleiche Passagen der Nobelpreis-Rede.
Während der Arbeit an der Atemschaukel gibt die Müllerin 2008 an, die Securitate – der angeblich 1989 verbotenen rumänischen Geheimpolizei, wie die Stasi auch – bedrohe sie. Erwiesen ist, dass Banater Schwaben, denen sie seit der Veröffentlichung des Schwäbischen Bades im Mai 1981 als Nestbeschmutzer gilt, sie anonym belästigen.
Zwischen dem lapidaren „Anfang Januar 1950 kam ich aus dem Lager nach Hause“ und dem staubtrockenen Einstieg in den Roman „Alles, was ich habe, trage ich bei mir. / Oder: Alles Meinige trage ich mit mir. / Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht. … / Es war noch Krieg im Januar 1945. Im Schrecken, dass ich mitten im Winter wer weiß wohin zu den Russen muss, wollte mir jeder etwas geben, das vielleicht etwas nützt, wenn es schon nichts hilft“ [*, S. 264 bzw. S. 7] werden fünf Jahre Zwangsarbeit geschildert, in dem der Icherzähler – angelegentlich mit Leo(pold) bezeichnet - die Todesangst durch Lebenshunger übersteht – er hat der Großmutter wiederzukommen versprochen. Das Lager – irgendwo in der Steppe - ist eine äußerst praktische, wenn auch bürokratische Welt. Mit der Zeit vergessen die Insassen ihren Stand und verlieren allen Dünkel. Unter der Regie des „Hungerengels“ wird selbst die Gleichheit von Mann und Frau durchgesetzt, man ist weder männlich noch weiblich, wird einfach sächlich und Objekt. Und der Hunger vermag auch den Titel zu definieren wie zu erklären: „Und der Hungerengel hängt sich ganz in meinen Mund hinein, an mein Gaumensegel. Es ist seine Waage. … Der Hungerengel stellt meine Wangen auf sein Kinn. Er lässt meinen Atem schaukeln. Die Atemschaukel ist ein Delirium … Der Hungerengel schaut auf seine Waage und sagt: / Du bist mir noch immer nicht leicht genug, wieso lässt du nicht locker. / Ich sage: Du betrügst mich mit meinem Fleisch. Es ist dir verfallen. Aber ich bin nicht mein Fleisch. Ich bin etwas anderes und lasse nicht locker. Von Wer bin ich kann nicht mehr die Rede sein, aber ich sag dir nicht, was ich bin.“ [*, S. 87] Mit 22 Jahren verlässt Leo(pold) die Zwangsgemeinschaft der Gleichen. „Es war das große innere Fiasko, dass ich jetzt auf freiem Fuß unabänderlich allein und für mich selbst ein falscher Zeuge bin“ [*, S. 283], dem der Viehwagenblues korrespondiert: „Im Walde blüht der Seidelblast / Im Graben liegt noch Schnee / Und das du mir geschrieben hast / Das Brieflein, tut mir weh.“ [*, S. 19 u. a.]
In jungen Jahren bedurfte ich ein, zwei Seiten Solschenizyns Archipel Gulag, um endlich einschlafen zu können, Herta Müller hat mich bei der Stange und vor allem wach gehalten – vergleichbar nur dem SS-Staat des Eugen Kogon in mythischer Zeit. Mögen all diese Werke – außer in der Thematik - nicht vergleichbar sein, dass die verehrte Zeit – die noch weitere Werke zum Thema aufführt – auch einen Verriss anbrachte mit Argumenten wie, hier werde mit Lyrik des 19. Jahrhunderts gearbeitet, kurz: Kitsch produziert, kann nur Gelächter hervorrufen: war das 20. Jahrhundert mit seinen Gräueln nicht die Fortsetzung des 19. – wenn auch auf technisch höherem Niveau?, - um polemisch schließen zu können „Das Zeitalter der Gulag-Literatur, die uns den Atem verschlägt, hat sein natürliches Ende gefunden und lässt sich mit solchen Harfenklängen und Engelsgesängen im Secondhand-Betrieb nicht mehr zurückholen“ in einem Wochenblatt, das knapp ein halbes Jahr später als Vorlauf zur Guttenberg-Kür ein Frl. Hegemann in den literarischen Himmel erhebt. Freilich findet sich hier auch eine positive Rezension: „Wer die Bücher dieser Autorin liest, entdeckt etwas Altmodisches in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur: Es gibt immer noch eine Dichtung, genauer, es gibt immer noch eine Form dichterischer Empörung, der es um so große Dinge wie Recht und Gerechtigkeit, um die Gefährdung von Menschenwürde und Freiheit geht. Herta Müller beherrscht diese Form. Sie stammt aus einem Land, aus dem diktatorischen Rumänien, das jene Tugenden mit Füßen trat, und sie kam in einem Land an, das mit dieser Katastrophe viel mehr zu tun hatte, als wir zu wissen glauben. Atemschaukel hat diesem Kritiker den Atem verschlagen.“
So isset!
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* Herta Müller: Atemschaukel, München 2009
Die Rede zum Nobelpreis findet sich vollständig unter http://www.fr-online.de/kultur/jede...m-teufelskreis/-/1472786/2821916/-/index.html
Der Artikel zur Securitate ist unter http://www.zeit.de/2009/31/Securitate im Internet eingestellt.
Ergänzend hierzu sei http://de.wikipedia,org/wiki/Herta_Müller#cite_note-6 samt weiterer Durchnummerierung zu nennen.
Herta Müller Kitsch oder Weltliteratur? Findet sich unter http://www.zeit.de/2009/35/L-B-Mueller-Pro (wie mag der Verriß enden?)
Nachtrag:
Da klopfe sich freilich niemand an die Brust, dass Zwangsarbeit hierzulande nicht möglich wäre! Sicher, die Väter des Grundgesetzes haben nicht umsonst mit Art. 12 III wie die Väter der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte in Art 4 II, 3 jede mit Zwangsmitteln durchsetzbare hoheitliche Heranziehung zur Arbeit verboten –
mit Ausnahmen etwa im Rahmen „herkömmlicher“, für alle gleichen öffentlichen „Dienstleistungs“-Pflicht. Arbeitspflichten von Strafgefangenen und militärische „Dienstpflichten“ fallen erst gar nicht unter die EMRK.
Art. 12 III GG lässt bei gerichtlich angeordnetem Freiheitsentzug Zwangsarbeit zu. Selbstverständlich nicht im Sinne der Ausbeutung, sondern Resozialisierung.
Was, wenn die sowjetischen Eroberer eines vormals mit Nazideutschland verbündeten Staates keine andere Sicht der Dinge gehabt haben?
Das zarte Pflänzchen Sozialstaat verdorrt zugunsten einer Pluto- und Technokratie, die für die meisten undurchschaubar ist – und wohl auch so bleiben soll.