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Auch ein Mensch?

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23.02.2010
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Auch ein Mensch?

So was?

So was?
Mit einem Kreischen fährt die U-Bahn ein. Leute hasten, rennen, klettern, drängen durch die Tür. Ich stehe -oder probiere zumindest stehen zu bleiben- mitten im Gedränge, versuche mich durch den Menschenpulk zum Eingang zu schieben. Manche steigen ein, manche aus.
Schwüle, verbrauchte Luft schlägt mir entgegen. Es riecht nach Mensch, Schweiß und dem muffigen Geruch der abgenutzten Sitzpolster. Ich klammere mich an eine der Haltestangen, als die Bahn ruckartig anfährt. Leute stolpern, fallen, kichern. Irgendwo schreit ein Kind. Das fahle Neonlicht lässt die Menschen um mich herum blass und ungesund wirken. Vielleicht sind sie das auch. Ihre Gesichter wirken grünlich, wie die von Zombies. Ich lasse meinen Blick durch die U-Bahn schweifen.
Weit im hinteren Bereich fällt mir ein Junge auf. Er ist vielleicht 13, eventuell 14 und sitzt in merkwürdiger Haltung in einem Rollstuhl mitten im Gang. Sein zusammengesackter, gekrümmter Rücken zieht nicht viel mehr als abschätzende Blicke der Erwachsenen auf sich. Hier mitten in Berlin gewöhnt man sich schnell an so etwas, kommt mir in den Kopf. Kinder schauen ihn mit unverholener Neugier an. Die einzigen ehrlichen Blicke. Neben dem Jungen eine mürrische, manikürte Frau in Rot-Kreuz-Weste. Sie liest eine Illustrierte, während er vergeblich versucht, an eine neben ihr liegende Wasserflasche zu kommen. Das Bild gefällt mir nicht. Immer wieder probiert er sich aufzurichten, doch jedes Mal sackt er zusammen. Ein kleines Mädchen kichert. Die adrett gekleidete Dame neben ihr wird rot, flüstert der Kleinen etwas ins Ohr. Sie guckt zu Boden. Die Rot-Kreuz-Tante blättert um. Angelina Jolie und Brad Pitt lächeln mir von der Titelseite aus zu. Währenddessen erreicht der Junge mühevoll ihren Arm, klammert sich an ihm fest und rutscht wieder, den Stoff des Mantelärmels umklammernd, in seinen Stuhl. Die Illustrierte segelt zu Boden. Barbara Schönebergers Gesicht liegt bunt zwischen Schmutz, Staub und alten Kaugummis. Die Frau schimpft. Ärger im Gesicht geschrieben. Genervt redet sie auf den Jungen ein, der plötzlich anfängt, wie am Spieß zu schreien. Es ist ihr sichtlich peinlich. Fluchtartig drängelt sie sich an der nächsten Haltestelle mit dem Rollstuhl, dem schreienden Jungen und der Illustrierten -die sie schnell noch vom Boden aufgehoben hat- mit einem ganzen Pulk Menschen aus der U-Bahntür. Die Wasserflasche bleibt zurück.
Der Mann neben mir ist schätzungsweise Mitte 60, hat ein Jackett und einen Spazierstock und riecht genau so muffig wie das Polster, auf dem er sitzt. Er hat meinen Blick bemerkt, heuchelt Anteilnahme. „Jaja“, sagt er. „man hat schon seine liebe Not. Aber es muss eben auch Leute geben, die sich um so was kümmern. Ist schon hart, ich meine, selbst am Wochenende…“ So was, denke ich. Die Leute trauen sich nicht, „so was“ beim Namen zu nennen. Vielleicht ist es zu schwierig. Zu ungeklärt. Was ist der Junge denn? Krank? Behindert? Stupide? Bedauernswert? „Ein Mensch.“ Sage ich mehr zu mir als zu ihm. Er schaut an mir vorbei. Hat er mich verstanden?
In Berlin gibt es viele Menschen, da fällt man gar nicht auf im Getümmel. Die Leute interessieren sich nicht für andere. Oder?
Auf einem Sitz weiter vorn sitzt ein Pärchen. Sehr mit sich selbst beschäftigt. Er macht ihr schöne Augen, sie erwidert seinen Blick kokett und presst ihre Lippen auf die seinen. Minutenlange Stille und Zweisamkeit.
Ich halte meine Reisetasche fester, als ein sichtlich angetrunkener Mann an mir vorbeistolpert. Er riecht nach billigem Wein und schlechten Zähnen. Ein Penner, denke ich.
Mit einem Kreischen fährt die U- Bahn an.

 

Hallo LicaAnna,

und herzlich Willkommen auf KG.de.

Dein Text kommt für mich als Stimmungsbild aus der Berliner U-Bahn an. Gut beobachtet, treffend beschrieben, alles geht unter, wird erdrückt in der Masse von Menschen, auch die Menschlichkeit bleibt auf der U-Bahn-Strecke liegen. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Ich finde, das hast Du schön herausgestellt.

Es riecht unangenehm nach Mensch, Schweiß und dem muffigen Geruch der abgenutzten Sitzpolster.

Das "unangenehm" würde ich streichen. Deine Beschreibung muss aussagen, wie unangenehm der Geruch ist und Schweiß und muffige Sitze empfindet wohl niemand als angenehm.

Ihre Gesichter wirken irgendwie grünlich, wie die von Zombies oder so.

Das Wörtchen "irgendwie" schwächt Deine Aussage irgendwie ab. Sag' es doch direkt und einfach: Ihre Gesichter wirken grünlich wie die von Zombies.
Auch das "oder so" kannst Du streichen, ist nicht nötig.

Relativ weit im hinteren Bereich fällt mir ein Junge auf.

Hier kannst Du auf das "Relativ" verzichten.
Weit hinten fällt mir ein Junge auf.

Immer wieder probiert er, sich aufzurichten und doch jedes Mal aufs Neue zusammensackt.

Hier stimmt die Grammatik nicht ganz:
Immer wieder probiert er sich aufzurichten, doch jedes Mal sackt er zusammen.

Das "aufs Neue" ist unnötig.

Die Frau schimpft. Ärger im Gesicht geschrieben.

Das klingt komisch, eher so:
Die Frau schimpft, der Ärger steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Der Mann neben mir ist schätzungsweise Mitte 60, hat ein Jackett und einen Spazierstock und riecht genau so muffig wie das Polster, auf dem er sitzt.

Wie alt der Mann ist, ist eigentlich unwichtig. Da könntest Du einfach schreiben, dass er älter ist.
Vielleicht so:
Neben mir sitzt ein älterer Mann mit Spazierstock, der genauso muffig riecht wie das Polster.

Mir hat diese kleine Episode gut gefallen. Nur mit dem Titel konnte ich mich nicht so ganz anfreunden. Vielleicht könnte die Geschichte einfach "So was" heißen? Das fände ich passend. Kannst ja mal drüber nachdenken.

Viele Grüße
Giraffe :)

 

Hallo Lica Anna
und willkommen auf kg.de :)

Ich finde es immer schwierig in einer Kurzgeschichte Themen zum INhalt zu machen, die den Leser betroffen machen wollen. Das Thema an sich ist richtig und gut, aber der kursiv gesetzte Teil ist das Schwierige. Wenn sich auf subtile Weise beim Leser das Betroffenheitsgefühl einstellt, hat der Autor in meinen Augen einen guten Job gemacht, liest man aber diesen Zwang raus, he, das ist scheußlich, hab Mitleid und sei betroffen, dann gewinnt das eine belehrende Dimension. Und wer wird schon gern belehrt?
Bei deinem Text habe ich den Zeigefinger für meinen Geschmack zu weit im Vordergrund wedeln spüren. Das liegt an den Gedanken deines Prots. Die sind wertend und fertig und lassen mir als Leser keine Wahl mehr für ein eigenes Urteil.

Insgesamt finde ich das Bild auch etwas überzeichnet, aber das ist dir natürlich freigestellt.
Gelungen finde ich das Ende. Der Kreis schließt sich.

Kleinkram:

„Jaja“, sagt er. „man hat schon seine liebe Not. Aber es muss eben auch Leute geben, die sich um so was kümmern. Ist schon hart, ich meine, selbst am Wochenende
groß geschrieben. Leerezichen vor ...
So was, denke ich. Die Leute trauen sich nicht, „so was“ beim Namen zu nennen. Vielleicht ist es zu schwierig. Zu ungeklärt. Was ist der Junge denn? Krank? Behindert? Stupide? Bedauernswert?
Würde ich kursiv setzen, dient der Lesbarkeit

„Ein Mensch.“ Sage ich mehr zu mir als zu ihm.
komma und dann klein weiter

grüßlichst
weltenläufer

edit: der titel - den würde ich auch unbedingt ändern!

 

Hallo LicaAnna und herzlich willkommen im Forum,

mit dem Text habe ich meine liebe Müh, zu hart ist er meiner Meinung nach an der Grenze zwischen Erlebnisbericht und Fiktion. Ich kann nicht wirklich eine Erzählmotivation ausmachen, die über das offensichtliche hinausgeht, Ebenso hält sich die Situationsbeschreibung beim offensichtlichen, standardmäßig zu erwartenden auf.

Geh doch näher an die Personen ran. Bleib ruhig beim Ich-Erzähler, aber lass den Leser miterleben, was er bisher nur aus großer Distanz erfahren darf.

LG, Pardus

 

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