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Auch ein Mensch?
So was?
Schwüle, verbrauchte Luft schlägt mir entgegen. Es riecht nach Mensch, Schweiß und dem muffigen Geruch der abgenutzten Sitzpolster. Ich klammere mich an eine der Haltestangen, als die Bahn ruckartig anfährt. Leute stolpern, fallen, kichern. Irgendwo schreit ein Kind. Das fahle Neonlicht lässt die Menschen um mich herum blass und ungesund wirken. Vielleicht sind sie das auch. Ihre Gesichter wirken grünlich, wie die von Zombies. Ich lasse meinen Blick durch die U-Bahn schweifen.
Weit im hinteren Bereich fällt mir ein Junge auf. Er ist vielleicht 13, eventuell 14 und sitzt in merkwürdiger Haltung in einem Rollstuhl mitten im Gang. Sein zusammengesackter, gekrümmter Rücken zieht nicht viel mehr als abschätzende Blicke der Erwachsenen auf sich. Hier mitten in Berlin gewöhnt man sich schnell an so etwas, kommt mir in den Kopf. Kinder schauen ihn mit unverholener Neugier an. Die einzigen ehrlichen Blicke. Neben dem Jungen eine mürrische, manikürte Frau in Rot-Kreuz-Weste. Sie liest eine Illustrierte, während er vergeblich versucht, an eine neben ihr liegende Wasserflasche zu kommen. Das Bild gefällt mir nicht. Immer wieder probiert er sich aufzurichten, doch jedes Mal sackt er zusammen. Ein kleines Mädchen kichert. Die adrett gekleidete Dame neben ihr wird rot, flüstert der Kleinen etwas ins Ohr. Sie guckt zu Boden. Die Rot-Kreuz-Tante blättert um. Angelina Jolie und Brad Pitt lächeln mir von der Titelseite aus zu. Währenddessen erreicht der Junge mühevoll ihren Arm, klammert sich an ihm fest und rutscht wieder, den Stoff des Mantelärmels umklammernd, in seinen Stuhl. Die Illustrierte segelt zu Boden. Barbara Schönebergers Gesicht liegt bunt zwischen Schmutz, Staub und alten Kaugummis. Die Frau schimpft. Ärger im Gesicht geschrieben. Genervt redet sie auf den Jungen ein, der plötzlich anfängt, wie am Spieß zu schreien. Es ist ihr sichtlich peinlich. Fluchtartig drängelt sie sich an der nächsten Haltestelle mit dem Rollstuhl, dem schreienden Jungen und der Illustrierten -die sie schnell noch vom Boden aufgehoben hat- mit einem ganzen Pulk Menschen aus der U-Bahntür. Die Wasserflasche bleibt zurück.
Der Mann neben mir ist schätzungsweise Mitte 60, hat ein Jackett und einen Spazierstock und riecht genau so muffig wie das Polster, auf dem er sitzt. Er hat meinen Blick bemerkt, heuchelt Anteilnahme. „Jaja“, sagt er. „man hat schon seine liebe Not. Aber es muss eben auch Leute geben, die sich um so was kümmern. Ist schon hart, ich meine, selbst am Wochenende…“ So was, denke ich. Die Leute trauen sich nicht, „so was“ beim Namen zu nennen. Vielleicht ist es zu schwierig. Zu ungeklärt. Was ist der Junge denn? Krank? Behindert? Stupide? Bedauernswert? „Ein Mensch.“ Sage ich mehr zu mir als zu ihm. Er schaut an mir vorbei. Hat er mich verstanden?
In Berlin gibt es viele Menschen, da fällt man gar nicht auf im Getümmel. Die Leute interessieren sich nicht für andere. Oder?
Auf einem Sitz weiter vorn sitzt ein Pärchen. Sehr mit sich selbst beschäftigt. Er macht ihr schöne Augen, sie erwidert seinen Blick kokett und presst ihre Lippen auf die seinen. Minutenlange Stille und Zweisamkeit.
Ich halte meine Reisetasche fester, als ein sichtlich angetrunkener Mann an mir vorbeistolpert. Er riecht nach billigem Wein und schlechten Zähnen. Ein Penner, denke ich.
Mit einem Kreischen fährt die U- Bahn an.