- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
Auch eine Liebeserklärung
An dem Abend suchte mich Bella Amberger nicht in meiner Eigenschaft als Arzt auf, sondern als Freund ihrer Eltern. Oder noch besser: Als ihr Freund. Bella war schon einige Male bei mir gewesen. Dann haben wir Schach gespielt, geplaudert oder auch über ernste Dinge geredet.
Am Anfang hatte ich geglaubt, sie täte es nur mir zuliebe. Was will denn auch ein so junges Ding von einem alten Mann wie mir? Sie ist weder schüchtern noch hässlich, und mit ihren zwanzig Jahren hat sie doch genug Chancen auf Freunde in ihrem Alter. Bei unseren Gesprächen fielen dann auch oft Namen von jungen Leuten aus ihrem Bekanntenkreis.
Seltsamerweise hatte sie anfangs gefürchtet, dass ich sie nur wegen ihrer Eltern eingeladen hätte:
„Ich habe Angst gehabt, dass Sie mir nur einen Gefallen tun, weil ich sonst niemanden zum Schach spielen habe. Wo ich doch so oft verliere! Macht es ihnen eigentlich Spaß?“
Zum Glück haben wir darüber gesprochen und gemerkt, dass wir beide von unseren Treffen profitierten. Und gerade jetzt war ich dankbar, dass Bella öfter kam, weil meine Frau zur Kur war und ich mich oft allein fühlte.
So war das auch an jenem Abend, als Bella mich besuchte. Ich war einsam und hatte mich gefreut, dass sie sich per Telefon angemeldet hatte. Jetzt saßen wir nach einer Partie Schach bei einem Glas Wein und sprachen über dieses und jenes. Bella liest gern und interessiert sich für dieselben Dinge wie ich. Auch die Schwermütigkeit, die manchmal in ihr aufkommt, kann ich nachempfinden. Und an diesem Abend wurde sie wieder von Minute zu Minute ernster.
„Wissen Sie, Werner, es gibt wenige Leute, die mich verstehen können, wenn ich traurig bin. Mein letzter Freund zum Beispiel hat mich einfach abgeschoben. Er sagte, er habe genug Probleme und könne mich einfach nicht gebrauchen. Aber ich glaube, er wusste bloß nicht, was er sagen sollte.“
„Ja, bestimmt war er selbst unsicher“, sagte ich und genoss wieder, dass sie mich beim Vornamen nannte. Das war noch neu. „Manche Leute können das gar nicht verstehen. Meine Frau nennt sich einen „praktischen und realistischen Menschen“ und deshalb könnte sie nicht so düsteren Gedanken nachhängen.“
„Bei meinen Eltern ist das auch so. Bis mein Opa gestorben ist; danach hat sich meine Mutter völlig verändert. Sie hat viel über den Tod geredet, den Sinn des Lebens und so. Ein ganz anderer Mensch ...“
Ich dachte an Marianne Amberger. Ja, in der Zeit hatte sie sich verändert. Das hatte sogar ich bemerken können. Sie war vorher eine etwas mollige, fröhliche Frau gewesen, für ihr Alter sehr frisch und , wie man heute sagt, voller Elan. Dann, nach dem Tod ihres Vaters, magerte sie ab und wurde ernst ...
„Sie ist ziemlich gealtert in der Zeit. Und die schwarze Kleidung hat das auch noch betont. Zum Glück hat sie sich jetzt wieder gefangen.“
Nach einer Pause fuhr Bella leise fort: „Hoffentlich wird sie meinen Tod besser überwinden.“
„Ihren Tod? Was meinen Sie damit?“
„Ich hab’ das doch schon mehrmals angedeutet. Ich glaube, dass ich nicht mehr lange leben werde, keine fünf Jahre mehr ... Ich habe das Gefühl. Mein Onkel ...“
Marianne Ambergers Bruder hatte mit sechsunddreißig Jahren einen Autounfall gehabt. Er war ums Leben gekommen, als Bella neun Monate alt war. Leider weiß ich zu wenig über die Sache, denn ich wohnte früher in einer anderen Stadt, und der Todesfall wurde nur einmal kurz erwähnt.
„Mein Onkel hat das bestimmt auch geahnt. Manche Menschen sehen voraus, dass sie bald sterben.“
„Aber Bella! Sie sind doch noch vor kurzem gründlich untersucht worden, sowohl bei mir in der Praxis, als auch bei dem Kollegen Sonnemann. Bis auf die Kreislaufschwäche ist doch nichts festgestellt worden, und an niedrigem Blutdruck ist noch niemand gestorben.“
„Man kann doch etwas übersehen haben. Oder ich kann auch bei einem Unfall ...“
„Sicher, aber die Möglichkeit gibt es für jeden. Der Statistik nach ...“
„Die meisten Menschen denken, warum soll gerade ich zu den paar Prozent gehören, die früh sterben? Aber ich frage mich, wieso gerade ich nicht?“
Wir schwiegen eine Weile, und ich nippte an meinem Glas. Wieso beschäftigt sich ein so junger Mensch auf diese Art mit dem Tod, dachte ich. Das fragte ich sie dann auch.
„Ich habe irgendwie das Gefühl, auserwählt zu sein. Ich meine, vorherbestimmt für einen frühen Tod. Deshalb genieße ich das Leben jetzt, jeden Tag. Ich lebe intensiv, ohne Gedanken an Morgen.“
Ich schwieg. Ein Kamerad kam mir in den Sinn, Kurt.
Er hatte dasselbe gesagt, damals, kurz vor dem Krieg. Ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe, deshalb lebe ich jetzt intensiv und denke nicht an Morgen. Aber das hatte für ihn Alkohol und Frauen bedeutet.
„Was denken Sie denn jetzt?“, fragte Bella und sah mich mit ihren hellblauen Augen an. Sie hatten dieselbe Farbe wie Kurts, aber ihr Blick war viel intensiver.
„Ich dachte an Ihren Vater, Bella. Sie wissen ja, ich kenne ihn von früher, aber dann hatte ich ihn für lange Zeit aus den Augen verloren.“
„Und woran haben Sie gedacht?“
„An früher, an den Krieg“, wich ich aus. „Aber, verraten Sie mir, was verstehen Sie unter intensiv leben? Alkohol? Drogen? Sex?“
Sie lächelte kurz und winkte ab. „Nein, Werner. Einfach das, was ich habe, zu genießen. Mich an dem zu erfreuen, was ich jetzt erlebe. Wer weiß, wie es Morgen ist? Wer weiß, ob ein Morgen ist?“
„Und was ist mit ihrem Freund, Bella? Lieben Sie ihn nicht?“
„Doch, er ist ein wundervoller Mann. Ich kann mit ihm über alles sprechen, fair streiten und so. In wichtigen Dingen stimmen wir überein, zum Beispiel, dass wir uns den Haushalt teilen. Und lieb ist er und zärtlich ...“
Sie machte eine Pause und sagte dann:“ Ja, er ist wirklich ein Mann, für den es sich zu sterben lohnt. Ich würde mein Leben für ihn geben.“
„Würden Sie auch wagen, für ihn zu leben?“
Sie sah mich verständnislos an, mit großen Augen, total verblüfft. Dann fragte sie langsam: „Sie meinen, ich flüchte in den Tod?“
„Ich meine, Sie haben mehr Mut zum Sterben als zum Leben.“
Nachdenklich saß sie eine Weile da. Schweigend, dann nickte sie plötzlich, als habe sie einen Entschluss gefasst.
„Sie haben vielleicht Recht. Er ist wirklich ein Mann, für den es sich zu leben lohnt. Ich werde mein Leben mit ihm teilen.“