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Auch ich kannte frohe Tage, glückliche Zeit, lange entschwunden!
„Mein Bruder und Rosa kommen auch!“ Wenn die Mutter das sagte, klang sie stolz – und fing gleich an, für Ordnung zu sorgen und Einkaufslisten zu schreiben. Rosa und Faruq fuhren ein 262er Volvo Coupé und wohnten in einem Haus mit Garten, der größer war als ein Fußballfeld.
Onkel Faruq, der eine Firma in Hamburg leitete, trug einen schweren Goldring am Finger. Er roch nach Zitrone und der Brillantine, mit der er sein dichtes Haar zu einer Bela-Lugosi-Frisur formte. Ich hatte immer ein bisschen Angst vor ihm. Er lachte nie und machte oft Bemerkungen, die ich nicht verstand.
Tante Rosa war klein, hellhäutig und rothaarig. Ich mochte ihren Duft nach Parfum, Puder, Schlagsahne und frischem Schweiß. Wenn sie mich umarmte – was sie gern tat - hatte ich oft Sorge, sie zu zerdrücken, so zart war sie. Einmal, als ihre nackte Schulter mein Gesicht bei einer Begrüßungsumarmung berührte, leckte ich ganz kurz über ein kleines Stückchen Haut, weil ich wissen wollte, ob sie so gut schmeckte, wie sie roch.
Wenn die Familie bei uns zusammenkam – Mutters jüngere Zwillingsschwestern, ihr Bruder und Tante Rosa - durfte ich meist lange aufbleiben. Es gab viel zu essen, und wenn niemand mehr konnte, legte mein Vater Musik auf und füllte die Wasserpfeife. Er überließ Onkel Faruq seinen Sessel, und Tante Rosa saß auf dem Sofa, eingekeilt von den Tanten mit den breiten Hüften und den Fächern, die wie bunte Armverlängerungen vor wogenden Brüsten flatterten. Die Unterhaltungen wurde lebhafter, wenn die Dämmerung einsetzte. Meine Mutter tischte Tschai und Berge von Gebäck auf, das gegessen wurde, obwohl alle mehr als satt waren.
Tante Rosa und mein Vater waren die einzigen, die Wein tranken. Tante Rosa kam aus Genua. „Wenn Faruq sie nicht aus der Oper entführt hätte, wäre sie sicher schon berühmt“, sagte meine Mutter manchmal mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bedauern, und ich sah meinen Onkel dann mit seiner finsteren Mine, schwarzem Mantel und blitzendem Degen auf eine Bühne treten, wo er Tante Rosa packte, über die Schulter warf und mit ihr in den Schatten verschwand. Diese kindliche Vorstellung weckte Zorn in mir. In diesen Momenten hasste ich meinen Onkel mit der gleichen Inbrunst, mit der ich Tante Rosa verehrte.
„Ach, bitte, Rosa, singe für uns“, baten die Zwillingstanten zum dritten Mal. Einen Moment lang herrschte vollkommene Symmetrie: Shirin und Mitra ragten wie zwei dralle, glänzende Putten rechts und links von Tante Rosa auf, ihr zugewandt, die kirschroten Lippen geschürzt, als würden sie jeden Moment die blassen Wangen küssen wollen. Mein Vater schaltete sofort den Plattenspieler aus. Tante Rosa nickte; sie wirkte zu müde, um abzuwehren. Dann stellte sie ihr Glas ab, stand auf und strich den Rock ihres ärmellosen Kleides glatt. Mitten in unserem Wohnzimmer, zwischen Gebäck, Shisha, Reispapierlampe und Flokati begann sie zu singen. Es war jedes Mal ein Wunder, wenn die große Stimme aus dem zerbrechlichen Körper drang.
Ich hielt den Atem an. Wir alle hielten den Atem an und spürten, wie sich die Härchen auf unseren Armen aufrichteten. Klar und süß stieg die Stimme zur Zimmerdecke auf, breitete sich aus und füllte den Raum mit vollendeter Reinheit: „Anch'io dischiuso un giorno - Ebbi alla gioia il cuore…“
Ich hatte keine Ahnung von der Oper und Verdi und ich verstand kein Wort Italienisch, und so war ich mir sicher, dass Tante Rosa von Genua sang und von all dem, was sie dort zurücklassen musste. Ihre Stimme kroch mir unter die Haut, legte sich um mein Herz und zog es hinauf zum Himmel, bis es schmerzte.
Niemand bewegte sich, niemand sprach, niemand schien auch nur denken zu können, während Tante Rosa sang. Meine Mutter und ihre Schwestern lauschten mit halboffenen Mündern. Mein Vater lehnte im Durchbruch zum Esszimmer, groß und breitschultrig, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. Er starrte Tante Rosa mit merkwürdig stumpfem Blick an. Onkel Faruq hatte den Kopf gesenkt und das Gesicht in den Händen vergraben. Ich begriff erst, dass er weinte, als Tante Rosa nach der Arie wortlos den Raum verließ.
Meine Mutter reagierte als erste. „So schön“, sagte sie auf Farsi und strich ihrem schluchzenden Bruder über die Schultern. „Nicht wahr?“ Ratlos hob sie den Kopf und sah meinen Vater an. Der stieß sich von der Wand ab und folgte Tante Rosa. Ich sah, dass sich der Mund meines Onkels wie der eines plärrenden Kindes verzog. Der Anblick faszinierte und erschreckte mich. Ich lief meinem Vater hinterher.
Tante Rosa stand bei der Treppe, mein Vater im Gang.
„Ist deine Entscheidung, Rosa“, sagte mein Vater. Mit einem lässigen Ruck warf er den Kopf in den Nacken und schaffte sich das blonde, halblange Haar für ein paar Sekunden aus dem Gesicht. „Nur solltest du vielleicht jetzt nicht fahren. Du hattest ein paar Gläser.“
„Ich nehme ein Taxi.“
„Soll ich dir eins rufen?“
„Bitte.“
Wie konnte mein Vater Tante Rosa so einfach gehen lassen? Er drehte sich um, sah mich und sagte: „Komm.“
Mit einer Hand schob er mich in die Küche. Als er merkte, dass ich weinte, seufzte er: „Rosa und Faruq lassen sich scheiden.“
Dann nahm er den Telefonhörer und wählte.
Ich habe Tante Rosa nie wiedergesehen. Sie wanderte mit einem ihrer wohl zahlreichen Geliebten nach Amerika aus. Und obwohl sie Onkel Faruq jahrelang betrogen hatte, verlor er kein böses Wort über sie. Niemand tat das. „Sie war eine unglückliche Frau“, sagt meine Mutter heute noch manchmal. „Aber sie hatte die Stimme eines Engels.“ Und dann lächelt sie, und ich bin fast sicher, dass Tante Rosas Gesang noch immer in ihr nachhallt.