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Auf dünnem Eis
Auf dünnem Eis
Seine Kumpels bewerfen sich am Ufer des Dorfweihers mit Schneebällen.
Michael steht abseits und zieht an seiner Zigarette, während er beobachtet, wie Andy Emma mit Schnee überhäuft. Er lässt die beiden keine Sekunde aus den Augen, sieht zu, wie sie stolpern und sich in die Arme fallen. Ihr Lachen dringt zu ihm herüber. Er wirft die Kippe in den Schnee und spuckt ihr hinterher.
„Hey, kommt! Wir testen das Eis!“, ruft Andy.
Die andern bleiben stehen und schauen sich an.
„Zu gefährlich. Es ist noch zu dünn.“
„Quatsch!“ Andy nimmt Emma bei der Hand und zieht sie zum Ufer. Sie wehrt sich, aber Andy lacht übermütig. „Stell dich nicht so an!“
„Lass mich!“ Sie will sich von ihm losreißen.
Andy hält sie fest, lacht noch lauter. Keiner greift ein.
„Hör auf!“, schreit Michael. „Sie will nicht! Kapiert?“
„Nein, du willst es nicht. Und dass du Schiss hast vor dem Eis, ist jedem hier klar!“
Ohne nachzudenken rennt Michael los, stellt sich vor Andy und schlägt zu. Aus Andys Mund rinnt Blut.
„Mann, spinnst du?“
Michael sieht, dass Andy beinahe weint. Gut. Gleich noch mal. Er fühlt sich fantastisch, als er Andys Magen trifft und holt zu einem weiteren Schlag aus, aber er wird von hinten gestoßen und fällt in den Schnee. Blindlings schlägt er um sich, allein gegen alle, spürt in seiner Wut gar nicht, dass auch er getroffen wird. Erst als er auf dem Bauch liegt, den Kopf im Schnee, der sich von seinem Blut rot färbt, wird ihm bewusst was geschehen ist.
„Kommt, wir gehen! Der ist ja total durchgeknallt!“
Jemand versetzt ihm einen Tritt in die Rippen, wahrscheinlich Andy. Er hört, wie sie sich entfernen und steht langsam auf.
„Was hast du dir dabei gedacht?“
Emma. Warum ist sie noch hier? Einen Moment lang wünscht sich Michael, die Haare nicht geschnitten zu haben, dann könnte er sie jetzt wie einen Vorhang über sein Gesicht fallen lassen.
„Das war echt Scheiße!“
„Na und?“ Er sagt es ganz leise, dehnt die Vokale, obwohl er weiß, wie wütend sie wird, wenn er das macht.
Sie verdreht die Augen.
Er möchte eine Zigarette anzünden, aber er ist sich nicht sicher, ob seine Finger dann zittern. Also lässt er es bleiben und vergräbt seine Hände in den Jackentaschen.
Emma starrt ihn herausfordernd an. Gegen diesen Blick hat er keine Chance, darum tut er das Einzige, das er wirklich beherrscht. Er reizt sie noch ein bisschen mehr.
„Du siehst nett aus, wenn du wütend bist.“
Er wartet auf die Kampfeslust, die in ihren Augen blitzt, wenn er sie provoziert, auf ein befreiendes Lachen nach einer gelungenen Antwort. Vergebens. Wortlos dreht sie sich um und geht.
„Hey!“, ruft er.
Emma reagiert nicht.
„Es tut mir Leid!“
Sie muss ihn gehört haben, aber sie geht einfach weiter.
„Ehrlich!“
Sie bleibt stehen, kehrt ihm aber immer noch den Rücken zu. Er rennt hinter ihr her, packt sie am Arm und zwingt sie, ihn anzusehen.
„Was?“ Ihr Blick ist so furchtbar traurig.
„Ich mach’s wieder gut, ja?“
„Und wie willst du das anstellen? Andy ist dein Kumpel!“
Ihm fallen Filme ein, in denen schöne Frauen den verletzen Helden das Blut von den Lippen küssen und die Männer einen passenden Spruch auf Lager haben. Das hier ist anders. Er hat es einmal mehr vergeigt. Emma ist wütend auf ihn, und sein Alter wird ihn fertig machen, wenn er so nach Hause kommt. Er ist nicht der Held, sondern der Idiot. Michael senkt seinen Blick.
„Ich werde mich nicht mehr wie ein Arschloch benehmen“, bricht es aus ihm heraus.
„Ach ja?“
Sie glaubt ihm nicht. Schweigend stehen sie in der Kälte.
„Es hat keinen Sinn“, meint sie schließlich, „ich gehe.“
„Dann geh doch.“ Er klingt nicht so gleichgültig, wie er gerne würde.
Sie zögert einen Moment. Er hält den Atem an. Ganz nah ist sie, hebt ihre Hand, er weicht erschrocken zurück, aber sie streicht ihm zärtlich über die Wange.
„Wisch dir das Blut aus dem Gesicht bevor du nach Hause gehst.“
„Bleib“, flüstert er, doch da ist sie schon zu weit weg um ihn zu hören.
Er steht in der Kälte, presst die Zähne aufeinander und blinzelt sich die Tränen aus den Augen. Dann schlendert er zurück an den See. Ganz langsam.
Betreten auf eigene Gefahr, steht auf dem Schild am Ufer. Das sollte bei ihm zuhause auf der Eingangstür stehen. Oder als Titel über seinem beschissenen Leben. Er reißt das Schild aus seiner provisorischen Verankerung und wirft es mit voller Wucht auf die Eisfläche, will, dass das blöde Ding die Eisschicht durchschlägt und absäuft, aber es bleibt auf ihr liegen. Und plötzlich hat er diesen irren Gedanken.
Wenn er es schafft, über das Eis bis ans andere Ufer zu gehen, wird er ihr sagen, dass er sie liebt.
Er zögert einen Augenblick, dann breitet er seine Arme aus und betritt die Eisfläche. Schritt für Schritt tastet er sich voran. Er atmet stoßweise, und sein Herz schlägt so laut, dass er es hören kann. Jetzt nur nicht nach unten schauen, weitergehen, einen Fuß vor den andern. Die Arme weit von sich gestreckt, den Blick auf sein Ziel gerichtet, konzentriert er sich ganz auf sein Vorhaben. Unter ihm knirscht die harte, unberechenbare Fläche. Er hat keine Ahnung, wie Eis klingt, das gleich brechen wird, aber eine innere Stimme sagt ihm, dass es sich genauso anhören muss.
„Michi!“
Er zuckt zusammen. Das ist Emmas Stimme.
„Michi, dreh dich um und komm ganz langsam zurück!“
Nein! Er schließt die Augen und ballt seine Hände zu Fäusten.
„Michi!“
Er kann jetzt nicht umkehren.
„Michi! Wenn du nicht sofort zurückkommst, hole ich dich!“
Das kann sie nicht tun! Doch, kann sie! Emma kann alles. Sogar ihm zuhören und ihn verstehen. Er kann nicht zulassen, dass sie sich in Gefahr begibt. Nicht wegen einem wie ihm. Michael öffnet seine Augen und dreht sich langsam um. Dort steht sie, die Sonne lässt ihre Haare leuchten, taucht den Schnee und das Ufer in helles Licht. Plötzlich ist es ganz einfach. Er öffnet den Mund, doch bevor er etwas sagen kann, bricht das Eis unter ihm.
Sein Körper versinkt im Wasser, für ein Mal, ein einziges Mal, ist es genau wie in diesen Filmen, alles geschieht in Zeitlupe. Er sieht den blauen Himmel, Emmas entsetztes Gesicht, fühlt ihre Hand auf seiner Wange. Nein, er will nicht sterben! Er rudert mit den Armen und strampelt mit den Beinen, dann ist die Welt weg. Nasse Dunkelheit umgibt ihn, Luft, er braucht Luft, aber da ist keine, nur Wasser. Es gibt kein Oben und kein Unten nur diese Wahnsinnsangst und einen Schmerz in seiner Lunge, der so weh tut, dass er weiß, er wird nachgeben, seinen Mund öffnen, aber es wird nichts nützen, denn da wird nur Wasser sein, nichts als Wasser.
Nein, nicht, fährt es durch seinen Kopf. Da berühren seine Knie den Grund, er stellt sich auf die Füße, es ist ganz einfach, sein Kopf taucht wieder auf. Keuchend holt er Luft, und als er merkt, dass ihm das Wasser nur bis an die Brust reicht, lacht er, obwohl die nasse Kälte sich anfühlt wie eine Million Nadelstiche.
„Komm da raus, du Irrer!“ In Emmas Stimme liegt Panik.
Ein paar Mal bricht das Eis weg, auf das er sich stützen will, dann hält es, er zieht sich hoch und wankt zum Ufer zurück.
„Ich liebe dich“, stößt er hervor, als er vor ihr steht. Es spielt keine Rolle, dass er es nicht über den Weiher geschafft hat. Sie ist hier, und er hat es gesagt.