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Auf dem Weg nach Linderhofe
„War voll geil, die Alte“, meinte Tom. „Nur blöd, dass sie nicht mehr wollte.“
„Sei doch froh, dass bei dir überhaupt was läuft. Bei mir herrscht tote Hose. Und frag nich', wie lange schon, ich weiß es nämlich selbst nicht mehr.“ Ben rülpste vernehmlich und wollte noch einen Schluck aus seiner Bierdose nehmen, musste dann aber feststellen, dass sie leer war. Er zuckte mit den Schultern und pfefferte sie ins nächste Gebüsch.
„Nachschub?“, fragte Tom und nahm eine weitere Dose aus seinem Rucksack. „Ist noch genug da.“ Ben griff zu.
„Nich' mehr lange, glaub ich. Dabei hab ich's echt nötig heute.“
Tom schaute ihn an. „Wieso?“
Ben sagte nichts, zog jedoch einen zerfledderten Zettel aus seiner Jackentasche. Tom betrachtete die exorbitant hohe Handyrechnung und nickte dann.
„Verstehe, du brauchst mal wieder Kohle. Dafür hat man doch Kumpels, Alter!“
Bens Miene hellte sich auf. „Sag bloß, du kannst ma' eben 1200 Euro rüberschieben.“
„Nee. Aber ich weiß, wo wir die herkriegen.“
„Ach was.“
„Ja, im Ernst.“ Tom zeigte auf ein einsames Licht in der Ferne. „Da hinten wohnt doch unser Dorfdepp. Der hat sicher ein bisschen Kohle für uns.“
„Glaubste, der rückt die freiwillig raus? Ich möcht mich nämlich nicht mit dem anlegen.“
„Pah, der Typ geht auf die Hundert zu. Zumindest sieht er so aus. Und wenn wir warten, bis er pennt, brauchen wir uns auch gar nicht mit ihm einlassen. Wahrscheinlich hört der uns nicht mal, der ist sicher stocktaub. Außerdem heißt es, dass der Kerl nicht mehr alle Murmeln in der Birne hat. Wohnt wohl schon zu lange allein da oben. Hab sogar schon Leute gehört, die meinen, er hätte seine Alte um die Ecke gebracht. Na ja, was einem die Kneipenjunkies halt so erzählen.“ Tom rülpste zur Bekräftigung seiner Aussage. „Also, was hältst du davon?“
Ben schaute skeptisch in Richtung des einsamen Lichts und kratzte sich am Dreitagebart. „Nee, ich weiß nich'. Echt nich'. Hab seit zwei Monaten nix mehr gemacht und hab auch kein' Bock, wieder erwischt zu werden. Is' nicht lustig im Bau, weißte.“
„Schisser! Wir müssen's nur richtig anstellen, dann erwischt uns nie einer. Hier ist doch sonst kein Mensch, der uns sehen könnte. Und wenn der Alte erst schläft, kann nix passieren.“
„Glaubst'n, der hat die Kohle daheim gebunkert?“
„Klar, Mann! Meine Oma hat auch immer ihre ganze Rente für den Monat zuhause im Sparstrumpf versteckt. Und als ich endlich wusste, wo der war, konnte ich gut mein Taschengeld aufbessern. Und der alte Knacker dahinten“, Tom zeigte noch einmal in Richtung des einsamen Lichts, nur für den Fall, dass Ben vergessen haben sollte, über welchen alten Knacker sein Kumpel redete, „der hat sicher massig Kohle. Der gibt doch nix aus und das Haus hat er wahrscheinlich seit 70 Jahren abbezahlt. Das Ding ist bombensicher.“
Ben seufzte. „Okay, überredet. Also, wie machen wir's?“
Tom kratzte sich den kurzrasierten Schädel. „Hab jetzt nicht so 'nen richtigen Plan. Ich denke, erstmal warten wir, bis der Typ pennt und alle Lichter aus sind, dann gehen wir näher ran und schauen, wie wir reinkommen.“
„Gut. Haste noch'n Bier? Ich will nicht auf'm Trockenen sitzen, bis der Kerl inne Heia geht.“
Tom holte für beide noch eine Dose aus seinem schwindenden Vorrat und sie stießen an.
„Vielleicht bleibt ja für mich auch noch ein bisschen übrig, wer weiß.“
Die beiden tranken schweigend ihr Bier. Plötzlich schaute Ben erschrocken auf.
„Sach ma', was ist, wenn der'n Hund hat oder so?“
„Hörst du einen?“
Ben lauschte. „Nee, aber ...“
„Na also. Wenn der einen Köter hätte, hätte der doch längst ein Geräusch von sich gegeben. Die Viecher wittern Menschen auf 500 Meter.“
Ben schien nicht ganz überzeugt, aber er schwieg und starrte wieder auf sein Bier. Zehn Minuten später ging in der Ferne das Licht aus.
Tom schnappte sich seinen Rucksack, setzte ihn auf und erhob sich ächzend von der Bank.
„Tja, man wird alt“, meinte Ben grinsend.
Tom verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Stattdessen verließ er den Waldweg und trat auf die Landstraße, auf der in der letzten halben Stunde nicht ein einziges Auto vorbeigefahren war. Kein Wunder, führte sie doch lediglich am Haus des alten Mannes, das im Mondschein gut erkennbar war, vorbei in Richtung Linderhofe, wo vielleicht 100 Leute lebten. Auf offener Straße war es etwas windiger als am Waldrand und Ben fröstelte.
Der Mond lugte immer wieder zwischen den schnell am Himmel vorbeiziehenden Wolken hervor, sodass sie genug sehen konnten. Ansonsten war außer in Bösingfeld in der Ferne hinter ihnen nirgendwo Licht zu sehen.
„Muss echt'n komischer Kauz sein. Ich hätt' kein' Bock, mitten in der Pampa zu wohnen“, flüsterte Ben.
„Ich sag ja, der ist nicht ganz richtig im Kopf. Hannes meint, der kommt bloß alle paar Wochen mal mit seinem uralten Golf ins Dorf, kauft 'nen Haufen Vorräte und verschwindet dann wieder. Ist nicht ein einziges Mal in der Kneipe gewesen, sagt Hannes. Und der muss es wissen. Lang genug arbeitet der da ja schon.“
Ben nickte. „Sag ma‘, haste was zu Essen dabei? Ich hab voll Kohldampf.“
„Du denkst jetzt ans Essen? Ben, wenn wir das erledigt haben, kannst du dir reichlich kaufen. Und die Tanke an der Bahnhofstraße hat auch nachts um drei auf.“
Ben brummelte irgendwas Unverständliches und schwieg dann wieder. Inzwischen hatten sie sich dem Haus durch ein kleines Waldstück von hinten bis an den Gartenzaun genähert. Nichts regte sich und abgesehen von den im Herbstwind raschelnden Bäumen und einem kleinen Bach, der sich leise plätschernd durch den verwilderten Garten schlängelte, war auch kein Laut zu hören. Tom nickte zufrieden.
Das Grundstück selbst bot bis auf einen Schuppen und zwei Bäume kaum Deckung, aber Tom zeigte auf die Garage direkt neben dem alten Fachwerkhaus, die er jetzt mit schnellen Schritten ansteuerte. Nach wenigen Sekunden hatte er die Rückseite erreicht und kletterte über den hölzernen Gartenzaun. Tom grinste Ben an, als dieser zu ihm aufschloss.
„Perfekt. Siehst du die Hintertür? Das sind nur ein paar Schritte von hier. Und die sieht nicht sonderlich solide aus. Hab jedenfalls schon stärkere Türen geknackt.“
„Hast du? Wär mir neu“, meinte Ben zweifelnd und folgte Tom über den Zaun.
„Es gibt einiges, was du nicht über mich weißt, glaub mir. Aber mit Türen kenn ich mich aus. Man lernt so einiges, wenn man nicht so'n Schisser ist wie du.“
Ben knuffte ihn in die Seite. „Pass auf, was du sagst, klar? Ich bin halt bloß vorsichtig.“
„Pssst, halt jetzt die Klappe und lass mich machen! Du wartest hier an der Garagenecke! Ich wink dich dann her, wenn ich mit der Tür so weit bin.“
Tom schlich leise über eine ungepflegte Veranda, auf der nichts als ein gammeliger Gartenstuhl stand, auf die Hintertür zu. Er betrachtete sie kurz prüfend, nahm dann einen kurzen Anlauf und rammte mit seiner Schulter dagegen. Es krachte (viel zu laut, wie es Ben vorkam) und Tom stolperte ins Innere, wo er es gerade noch schaffte, die Tür festzuhalten, bevor sie gegen die Wand donnerte.
„Pah, Holztür“, murmelte Tom. Dann winkte er Ben zu sich her, der hinter ihm ins Haus dackelte.
„Da, nimm!“ Tom drückte Ben etwas in die Hand. Ohne große Überraschung stellte dieser fest, dass es eine Taschenlampe war.
„Stell sie nur auf mittlere Helligkeit, das reicht, um sich zurechtzufinden“, erklärte Tom, als würde er so was jeden Tag machen. Wahrscheinlich war das auch so, dachte Ben. Er kannte Tom offenbar viel zu wenig. Dabei war das sein bester Kumpel. Sein einziger, um genau zu sein. Und er brauchte ihn. Hatte er schon öfters, und immer hatte ihn Tom aus der Scheiße geritten. Na ja, fast immer, letztes Mal hatte er auch nicht viel tun können.
„Selbst Schuld“, hatte Tom da schulterzuckend gemeint. „Lass dich halt nächstes Mal nicht erwischen.“ Ben hatte geglaubt, es würde kein nächstes Mal geben, zumal das halbe Jahr im Bau nicht lustig war, aber das nächste Mal fand gerade statt, oder?
„Komm schon“, unterbrach Tom seine Gedanken. „Und nicht vergessen, Taschenlampe nur auf mittlere Stufe. Und nur dann anmachen, wenn ich‘s sage. Ich leuchte für uns beide. Und jetzt Klappe, damit der Alte nicht aufwacht.“
Ben betrachtete den langen, schmalen Flur, von dem mehrere Holztüren mit zahllosen Kratzern und Dellen abgingen. Die billige Raufasertapete an den Wänden war schmutzig und stellenweise eingerissen. Es roch muffig, nach Knoblauch, nach Staub, nach altem Mann. Und nach etwas anderem, das Ben vage bekannt vorkam, das er aber nicht näher einordnen konnte. Er machte die Hintertür hinter sich zu (jedenfalls so weit sie sich mit demoliertem Schloss noch schließen ließ), ohne es überhaupt zu merken. Was einem der Vater einmal eingeprügelt hat, vergisst man nicht. Tom öffnete eine Tür zu seiner rechten. Ben trottete hinterher.
Die beiden betraten ein erstaunlich geräumiges, aber niedriges Wohnzimmer. Die Decke schien kaum höher als zwei Meter zu sein. Zielstrebig steuerte Tom auf einen großen, dunklen Schrank zu und öffnete eine Schublade.
„Leuchte mal“, befahl er Ben. Er tat es. Tom blätterte kurz durch einen Stapel Blätter und zog einen Hefter mit Kontoauszügen heraus, den er kurz studierte.
„Nicht schlecht“, flüsterte er. Er zeigte Ben den neusten Auszug, den der alte Mann vor weniger als einer Woche von der Sparkasse geholt hatte. 14.534 Euro.
„Was hat der so viel Kohle auf'm Girokonto?“, fragte Ben.
„Keinen Schimmer. Alte Leute sind halt so. Die legen ihr Geld nicht in Aktien an. Oder in Frauen.“ Er grinste. „Nur bringen uns die Auszüge nicht viel. Doch ich wette, der hat auch 'nen Haufen Kohle hier gebunkert.“
Im Wohnzimmer hatte er das jedenfalls nicht, und so wandten sie sich der nächsten Tür auf derselben Seite des Flurs zu.
Auch dieser Raum schien nicht viel herzugeben, jedenfalls steckte Tom nur kurz den Kopf in die Tür und schloss sie sofort wieder. „Küche. Da ist eh nix zu holen.“
„Doch, Essen“, meinte Ben. Sein Magen knurrte.
„Vergiss es, ich hab keinen Bock, von dem Alten erwischt zu werden, während du Brotzeit machst. Wir sind eh schon zu lange drin. Schnell rein und schnell wieder weg, so mach ich's immer. Je länger, desto höher das Risiko.“
„Und was nun?“, wollte Ben wissen.
Tom leuchtete kurz mit seiner Taschenlampe durch den Flur. Am Ende lag die Haustür, links daneben eine Tür mit der Aufschrift „WC“, und unter der Treppe, die ins Obergeschoss führte, befand sich nur eine Holztür.
„Den Keller kannste eh vergessen. Da findest du zwar Kohle, aber die bringt dir nur was, wenn du 'nen Ofen hast. Also nach oben. Aber leise. Treppen knarren.“
Tom schaltete seine Taschenlampe aus und tastete sich langsam bis zur Treppe vor. Dann stieg er ebenso langsam die Stufen hoch, wobei er sich immer an der Wand hielt. Nur eine Stufe knarrte, doch Ben konnte nicht erkennen, welche. Schließlich hatte Tom den oberen Flur erreicht und winkte seinen Kumpel zu sich her.
Ben stieg mit klopfendem Herzen die Treppe hoch, hielt sich dabei ebenfalls an der Wand und versuchte, keinen Lärm zu machen. Es gelang ihm nicht so gut wie Tom, der offenbar deutlich mehr Übung hatte. Es knarrte gleich mehrmals, viel zu laut, wie ihm schien, und obwohl Tom nichts sagte, spürte Ben geradezu dessen vorwurfsvollen Blick.
Schließlich war auch er im oberen Stockwerk angekommen. Schweiß lief ihm von der Stirn auf die schmutzige Jacke. Hier gab es vier Türen, auf jeder Seite des Flurs zwei, wobei man, um die andere Tür auf der Seite der Treppe zu erreichen, erst um diese herum gehen musste. Am Ende, zur Straße hin, befand sich ein niedriges, aber breites Fenster, durch das fahles Mondlicht hereinfiel.
Tom ging zielstrebig auf die nächste Tür auf der Treppenseite zu und öffnete sie. Sie quietschte leise. Tom hielt inne. Ben ebenfalls. Hinter ihnen hörte Ben ein kurzes Schnaufen, das dann in ein leises Schnarchen überging und schließlich ganz verstummte. Tom setzte sich wieder in Bewegung und leuchtete kurz in den Raum hinein. Dann winkte er Ben zu sich.
Sie betraten eine kleine Kammer mit einem Bett, einer Kommode und einem Kleiderschrank. Vermutlich das Gästezimmer. Eine dicke Staubschicht lag auf den Möbeln und auf dem Boden. Anscheinend bekam der alte Herr nicht viel Besuch, dachte Ben.
Tom öffnete auch hier alle Türen, während Ben ihm leuchtete. Bis auf eine alte Taschenuhr, die im Antik-Eck in Lemgo vielleicht 50 Euro brachte, fand sich nichts Brauchbares. Sie verließen den Raum. Tom schloss leise die Tür. Diesmal quietschte sie kaum und es war auch kein weiteres Schnaufen des Hausbesitzers zu hören.
Gegenüber des Gästezimmers lag das Badezimmer. Ben fand, dass die Einrichtung fast schon museumsreif war. In der Ecke befand sich ein riesiger antiquiert wirkender Boiler, der offenbar befeuert werden musste, und die uralte Zink-Badewanne stand sogar noch auf Füßen. Auch hier befand sich eine Kommode, doch beim Durchwühlen stellte Tom fest, dass außer der Hausapotheke und einem Jahresvorrat an Seife und Klopapier nichts drin zu finden war.
„Scheiße“, murmelte er. „Der muss seinen ganzen Mammon echt im Nachtschrank aufbewahren.“ Oder auf dem Konto, dachte Ben und erinnerte sich an die 14.000 Euro.
Tom seufzte und trat zurück auf den Flur. Ben folgte ihm und zog die Badezimmertür hinter sich zu.
„Was nun? Gehen wir?“
Tom schüttelte den Kopf. „Nein, jetzt sind wir schon so weit gekommen. Ich geh nicht ohne Geld hier raus.“
„Mann, vergiss es! Nehmen wir halt das nächste Haus. Ich hab eh kein' Bock mehr. Und so dringend muss ich das Geld auch nicht haben. Die Scheiß-Rechnung kann ich auch in zwei Wochen noch bezahlen.“
Tom schien kurz darüber nachzudenken, dann schüttelte er jedoch den Kopf. „Nein. Wir machen folgendes: Du gehst jetzt wieder nach unten und wartest vor der Hintertür auf mich. Ich schleich mich ins Schlafzimmer. Mach ich nicht zum ersten Mal, und wenn die Leute tief pennen, dann hören sie selbst dann nichts, wenn man ihnen das Gebiss vom Nachttisch klaut.“
„Tom, ich finde, wir sollten ...“
„Hör zu, Alter! Du gehst runter, ich geh ins Schlafzimmer, und wenn du irgendwas hörst, dann renn. Kümmer dich nicht um mich, ich komm schon klar. Aber du bist noch unerfahren, also verzieh dich, bevor man dich erwischt. Ich meld mich dann morgen bei dir.“
„Aber ...“, begann Ben.
„Los jetzt“, zischte Tom.
Ben gehorchte seufzend und schlich die Treppe hinunter, die diesmal deutlich weniger quietschte. Der seltsam vertraute Geruch, der ihm beim Betreten des Hauses aufgefallen war, wurde wieder stärker.
Unten im Flur blieb Ben kurz stehen. Ob der Alte erneut schnarchte oder schnaufte, konnte er nicht erkennen. Sein Herz schlug zu laut und das Blut rauschte in seinen Ohren. Doch er hörte, wie sich Tom oben in Bewegung setzte und leise die Tür zum Schlafzimmer öffnete.
Ben wandte sich in Richtung Hinterausgang, als sein Blick auf die Küchentür fiel. Was konnte es schaden, wenn er kurz in den Kühlschrank schaute? Wenn Tom den Kerl aufweckte, könnte Ben trotzdem noch schnell genug von hier fliehen.
Also betrat er die Küche und schaltete die Taschenlampe ein, während ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Hätte er auf Tom gehört und fluchtbereit an der Hintertür gewartet, hätte Ben wahrscheinlich überlebt. Aber er hatte Hunger.
„Du dreckiger Bastard!“, kreischte eine zittrige Altmännerstimme oben, als Ben gerade über einen Joghurtbecher herfiel. Etwas anderes hatte er auf die Schnelle nicht im Kühlschrank gefunden. Er schrak zusammen. Als ein Schuss ertönte, fiel ihm der Joghurtbecher aus der Hand und der Inhalt verteilte sich über den Fußboden.
„Fuck! Mein Arm!“, schrie Tom von oben. Bens Herz raste schneller. Er stolperte in Richtung Küchentür und wäre fast auf dem Joghurt ausgerutscht, konnte sich jedoch an der Anrichte festhalten. Oben ertönte ein weiterer Schuss.
„Hast du etwa schon genug?“, fragte der Alte. Er klang beinahe vergnügt.
„Scheiße! Ich mach dich alle, Mann!“, kreischte Tom. Ben hatte noch nie zuvor einen erwachsenen Mann kreischen gehört.
Als schwere Schritte die Treppe herunterkamen, rannte Ben instinktiv aus der Küche. Leider lenkte ihn sein Instinkt in die falsche Richtung und nicht zum rettenden Ausgang. Er riss die hölzerne Kellertür auf und warf sie hinter sich zu. Sofort wurde es stockfinster. Er stolperte die steile Treppe hinunter, kam ins Straucheln und fiel die letzten paar Stufen. Reglos blieb er auf dem staubigen Boden liegen. Sein Herz raste. Hier unten roch es bestialisch, viel schlimmer als oben im Flur. Der süßlich-modrige Gestank weckte erneut eine Erinnerung in Ben, die jedoch wieder in den Tiefen seines Hirns verschwand, bevor er sie richtig greifen konnte. Oben kreischte Tom immer noch, allerdings keine erkennbaren Worte. Der alte Mann war nun offenbar im Flur angekommen und näherte sich der Kellertür. Ben befürchtete schon, jeden Moment Licht von oben und einen Schatten mit einer Schrotflinte in der Hand zu sehen, doch der alte Mann suchte anscheinend zuerst in der Küche nach ihm.
Die wenigen Sekunden nutzte Ben, um sich tiefer im Keller zu verkriechen. Seine Taschenlampe hatte er oben liegen lassen und hier unten war es stockfinster. Er krabbelte auf allen vieren über den Boden und ertastete schließlich ein Regal vor seinen Händen. Mit einem Stöhnen zog er sich daran hoch. Offenbar hatte er sich beim Sturz den linken Knöchel verstaucht, aber zum Glück nichts gebrochen. Er kroch weiter in die Dunkelheit hinein und tastete sich auf der Suche nach einem Versteck mit den Händen voran. Die Regale waren voller Einmachgläser. Wahrscheinlich Erbsen, Bohnen und Kürbis, dachte er. Seine Oma hatte auch jeden Herbst ganze Wagenladungen voll mit dem Zeug eingemacht. Heutzutage tat das wohl keiner mehr. Außer alten Männern, die seinen Kumpel anschossen. Oder erschossen? Toms Schreie von oben waren inzwischen verstummt.
Ben gelangte in die hintere Ecke des Kellerraums. Offenbar gab es nur den einen. Er ertastete ein Regal vor sich, das anscheinend mitten im Raum stand. Vermutlich die einzige Deckung, die es hier gab, dachte er. Er legte sich hinter dem Regal flach auf den Boden und hoffte auf ein Wunder.
Nur wenige Sekunden darauf öffnete sich die Kellertür und ein trüber Lichtschein fiel auf die Regale. Ben hob vorsichtig den Kopf und blickte über die Einmachgläser hinweg auf den Schatten des alten Mannes. Er hatte keine Schrotflinte, nur eine Pistole, die er in der linken Hand hielt. Aber sonst stimmte das Bild mit Bens Vorstellung erschreckend gut überein. Dann sah er das Auge.
Es schwamm in einer trüben Flüssigkeit in dem Einmachglas direkt vor seiner Nase. Fassungslos setzte Ben sich auf. Die Regale waren wie erwartet voller Einmachgläser, und in allen befanden sich Dinge, die Ben nur allzu vertraut waren. Augen, Finger, Zehen, Zungen, Ohren, verdammt, sogar einen Schwanz sah er. Er hörte ein leises Wimmern und begriff erst nach einiggen Sekunden, dass es von ihm selbst stammte.
„Ah, ich wusste doch, ich hatte zwei Stimmen gehört“, sagte der alte Mann im Plauderton. „Schau dich nur um. Ich habe lange an meiner Sammlung gearbeitet und das Regal ist bald voll. Aber keine Sorge, für dich und deinen Kumpel oben ist noch Platz.“ Der alte Mann hob seine Pistole.
Jetzt wusste Ben, woher er den Geruch kannte. Bei seiner Oma, der mit den eingemachten Bohnen und Kürbissen, hatte er als Kind mal eine tote Maus im Keller gefunden. Die roch genau so wie es hier stank.
Doch die Erinnerung kommt zu spät, dachte Ben, während der alte Mann auf ihn zielte. Nächstes Mal hör ich auf Tom und geh gleich zur Hintertür, war Bens letzter Gedanke.