Auf dem Weg
1.
Leute meinten, sie sei eine Blüte gewesen.
Eine so lebhafte Person.
Ja, ich weiss auch nicht ,warum sie sich nicht mehr sehen lässt.
Nein, sie ist nicht tot. Tot ist sie nicht.
2.
Frühling. Die Stadt blüht auf. Diese kristallklare Frische erfüllt die Luft. Hundekotbelastete Grünstreifen kämpfen gegen die alltäglichen Abgaseschauer an und bringen eine zartes, fast zerbrechliches Grün zustande.
Die ersten Jogger suchen Straßen und Parkanlagen auf, während einige mürrische Mienen durch die Gegend wandern. Jeder in seiner Welt. Straßen füllen sich mit Status und Identität. Mehr und mehr Leute machen sich auf den Weg hinunter. Weg vom Licht. In die Gefilde der Klimaanlagen und Neonröhren.
Sie nicht. Sie fährt keine U-Bahn mehr. Nicht mehr. Nie wieder.
Er lächelt sanft. Weil er zufrieden ist. Er kauft die Blumen, ohne auf den Preis zu achten. Darum geht es ja auch nicht. Immer noch schmunzelnd macht er sich auf den Weg zur Arbeit. Wie jedermann. Arbeit … dieser Begriff für zwei Drittel Ich. Zwei Drittel Folter, zwei Drittel Selbsterfüllung.
Arbeit. Herr Kreuzner ist so was seit langem nicht passiert. Er hat verschlafen und der Brandy hat ihm einen Kater verpasst. In 31 Jahren ist Kreuzner nur einmal zu spät zur Arbeit erschienen. Das war, als seine Frau ihn gerade verlassen hatte. Verschlafen, Hektik schlägt in Panik um. Er eilt zum alten Opel. Der junge Chef, der Neue, der wird wieder sauer sein. Der hat´s ja eh auf ihn abgesehen.
Die Männer schauten ihr auch nicht mehr nach. Die Männer ,die ihr einst die Tür aufhielten und nervös wurden, sobald sie mit ihnen sprach. Nicht mehr, nein. Sie ist nicht da, wird nicht gesehen. Sie ist grau. Wie alles hier. Ein Chamäleon im Dschungel der Normalität.
3.
Das Lächeln verschwindet nicht, doch macht er sich an diesem Morgen ernsthafte Gedanken. Diese emotionale Flut, die jeden das eine oder andere Mal erfasst, trifft ihn mit Wucht. Auf einmal zweifelt er an sich selbst. Hier läuft er mit einem Strauß Blumen, wie jeden Morgen. Um sie jemandem zu geben, auf dem Weg zur Arbeit. Wie jeden Morgen. Jemandem, den er nicht kennt, jemandem, der sie braucht.
Er sieht die Armseligkeit seiner Existenz.
Ein Drogenkind, dass nun versucht, den Engel zu spielen. Lächerlich.
Herr Kreuzner ist tief in Gedanken auf dem Weg zur Post, auf dem Weg zu seinen zwei Dritteln. Seine senfgelbe Krawatte ist mittelscharf.
Er wird mit einer Serie von roten Ampeln bestraft. Warum ich? Mal wieder ich.
Früher hatt sich Herr Kreuzner noch andere Fragen gestellt. Er wollte glücklich werden, seiner Frau alles geben. Der Michaela, die war immer so fürsorglich. Und nun, das erste Mal seit langer Zeit macht sich Herr Kreuzner Gedanken und bereut es ein wenig, seine Exfrau so oft betrogen zu haben. Heirat kam ihm immer so endgültig vor. Und er wusste ja auch nicht, was das alles bedeutete. Eigentlich war es ja eh alles Helgas Schuld. Die Sekretärin. Typisch, ja, aber nicht seine, nicht Kreuzners Schuld.
Der Strudel aus dunklen Gedanken zieht ihn weiter hinunter ins Nichts. Schon ist er zurück in Zeiten, als er den halben Tag halb ohnmächtig war. Wartend auf den nächsten Schuss, den letzten genießend.
Er war stehen geblieben und nahm jetzt auf einer Parkbank Platz. Der Kopf in die Hände versunken.
Zurück in dunklen Zeiten, dreckigen Zeiten. Wie ein Fleck schwarzer Tinte, der sich langsam in seinem Kopf ausbreitete. Mehr Erinnerungen kamen zurück.
Der Drang, die Sucht. Er zuckt.
Sie denkt sich nichts und macht ihre Daunenjacke bis oben zu. Nachdem sie an einem weiteren Supermarkt entlanggetrabt ist, die Sonderangebote auslachend, wartet sie vor dem Hypovereinsgebäude, um die Stra?e zu überqueren. Auf der anderen Straßenseite erstreckt sich die unglaublich massive Hässlichkeit des Rotkreuzkrankenhauses in die siebzehnstockwerkige Höhe. Die Verblichenheit des nicht mehr erkennbaren Grundanstrichs gibt dem Gebäude ein ungesunden, fast kranken Anblick. In ihren Augen.
Sie fühlt sich auch nicht gut. Jedes Mal, wenn sie der U-Bahnstation Rotkreuzplatz auch nur nahe kommt, bekommt sie ein flaues Gefühl im Magen. Seit Paul gesprungen ist, ist nichts mehr, wie es war. Sie hätte gar nicht da sein sollen, wollte ihn überraschen. Seinen leblosen Körper zu sehen, hat ihre Flamme ausgeblasen. Sie ist erloschen und nichts, nichts ist mehr, wie es war.
Sie wollten heiraten und eine Familie gründen. Vielleicht aufs Land ziehen.
Der kühle Luftzug kam, ein höllisches Donnern von weit weg. Weit, weit weg. Aus einer anderen Welt. Seine Welt, nicht die ihre. Er blickte nach rechts. Er sah das Licht am Ende des Tunnels.
Er zuckte und sah den Strauß tiefvioletter Blumen neben ihm. Er wusste nicht, wie sie hießen. Aber darum ging es ja auch nicht. Der leichte Duft wirkte beruhigend. Der Tintenfleck schrumpfte. Der Sog wurde schwächer. Er fühlte sich leichter, erhob sich langsam und nahm sich eine Minute, bevor er unberirrt lächelnd seinen Weg zur Arbeit fortsetzte. Erfüllt von Glück. Nachdem er diese Tintenwellen überwunden hat, fühlt er sich immer stark. Sein warmes Lächeln wird noch ein wenig breiter.
Nun ja, vielleicht war es teilweise auch sein Fehler. Herr Kreuzner hätte einfach stärker sein sollen, müssen. Jetzt ist er allein.
Ein Stein landet auf seiner Brust. Das erste Mal seit langem versucht Herr Kreuzner sich seine Zukunft vorzustellen. Er hatte sich immer aufs Rentenalter gefreut. Der verdiente Lebensabend verziert mit einem feurigen Sonnenuntergang. Blutrot. Nicht für Herrn Kreuzner. Er hat es sich selbst ruiniert. Jetzt, da er denkt, würde er gerne zurückspulen. Noch einmal anfangen. Ein neuer Versuch, etwas aus seinem Leben zu machen. Nicht für ihn, zu spät für Herrn Kreuzner.
4.
Sie hatte mindestens drei Ampelphasen verpasst. Versunken im Meer der Vergangenheit. Es war tiefschwarz. Jetzt kam eine weitere Welle Autos. Verträumt wartete sie, bis die Metallawine vorbeigerollt war und tat einen Schritt.
Er sah sie. Sie sah ihn. Auf der anderen Straßenseite. Grünes Licht.
Als sie sich näherte, begann er zu erkennen. Ihr Gesicht war verquollen, der Mund in unbeschreibaren Kummer verzogen, ein emotionales Schlachtfeld.
Er wusste, dass sie es war, sie brauchte seine Blumen, heute.
Sie blickte mürrisch und starr gradeaus. Ihre Augen waren direkt auf ihn gerichtet. Sie nahm ihn und seine Blumen nicht wahr. Die violetten.
"Entschuldigung", sagt er und reicht ihr den Strauß. Sie blinzelt, nimmt ihn jetzt wahr. Perplex nimmt sie die Blumen an. Ein Lächeln, nein, die Idee eines Lächelns flackert auf. Ein Funke in ihren grünen Augen. Verschwunden in dem Augenblick einer Sekunde.
Herr Kreuzner war zu spät. Der alte Opel brummte.
Sie blickte nach rechts. Sie sah kein Licht.
Sein Gesicht war ruhig. Das Lächeln verschwindet nicht.
Keine Zeitlupe. Keine klassische Musik. Aber es herrschte eine kurze Stille.
Der Opel umarmte die Strassenlaterne fömlich, nachdem er die zwei lächelnden Personen, die mitten auf der Strasse standen, aufgegabelt hatte. Keine Seitenairbags und eine verlorene Blume auf der Windschutzscheibe. Frühling.