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Auf der anderen Seite der Wand

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enfantterrible

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Auf der anderen Seite der Wand

Auf der anderen Seite der Wand

Ich bin auf der anderen Seite der Wand. Und ich weiß alles über dich. Ich weiß, dass du morgens, bevor du aus dem Haus gehst, noch schnell deine Mails checkst und die Schlagzeilen auf Bild.de liest. Ich weiß, dass du ein Parfum namens Fahrenheit benutzt und ich weiß, bei welchem Online-Shop du es bestellst. Ich weiß, wie hoch deine Handyrechnung ist und ich weiß, wann du im letzten Monat welche Nummern angerufen hast. Ich weiß, über was du deine Hausarbeiten in den letzten Semesterferien geschrieben hast, und ich weiß auch, dass du dir hin und wieder im Internet Pornos anschaust. Was ich bis jetzt nicht weiß, ist, was genau du machst, wenn du dir diese Filme anschaust. Aber ich kann es mir vorstellen.
Ich weiß natürlich, dass du Student bist und ich kenne deinen Stundenplan. Ich weiß, wann du wo welches Seminar hast. Und auch sonst weiß ich meistens ziemlich genau, wann du aus dem Haus gehen wirst, jedenfalls dann, wenn du dich per Mail verabredet hast. Ist dir noch nie aufgefallen, dass du mich ziemlich oft auf dem Flur triffst, wenn du deine Wohnung verlässt? Und hast du tatsächlich schon mal jemanden kennengelernt, der sich von oben bis unten durchstylt, nur um in seinen Briefkasten zu schauen oder um den Müll runterzubringen? Bevor ich dich kennengelernt habe, habe ich nicht einen einzigen Lippenstift oder Lidschatten besessen. Ich kenne dein Beuteschema, ich weiß, auf welche Art von Frauen du stehst. Ich weiß es, weil ich mir die Profile der Mädchen angesehen habe, mit denen du im Internet chattest. Dein Typ bin ich jedenfalls nicht. Aber ich versuche es zu werden. Ich kenne mittlerweile alle so genannten Frauenseiten im Internet, und ich kann deren Frisuren- und Make-Up-Ratschläge wohl mittlerweile auswendig. Es sind nur Äußerlichkeiten, die ich temporär modifiziere, langgewachsene Haare kann man wieder abschneiden und Lidschatten kann ich abwischen. Äußerlichkeiten sind ein Kampfmittel, dessen Handhabung ich gerade erlerne.
Um es gleich klarzustellen: Ich bin keine fleischgewordene Lisbeth Salander. Lisbeth ist eine Romanfigur, und ich bin ein Mensch. Auch sonst gibt es weing Parallelen zwischen ihr und mir: Weder bin ich entmündigt noch bin ich bisexuell noch habe ich psychische Probleme. Ich hätte gern studiert, habe aber das Abitur nicht geschafft, was wohl daran lag, dass meine Schulbesuche ein selten zu beobachtendes Ereignis waren. Eine Lehre kommt für mich ebenfalls nicht infrage, da müsste ich ja schon wieder in die Schule. Also jobbe ich in einem Coffeeshop in der Innenstadt.
Es ist auch nicht so, dass ich gezielt angefangen habe, die Computer der Nachbarn zu hacken. Wie gesagt, ich bin nicht Lisbeth Salander. Nach dem Einzug in meine Wohnung war ich nur schlicht und einfach derartig pleite, dass ich mir erst mal keinen Internetanschluss leisten konnte. Also habe ich mein ThinkPad versuchsweise nach einem ungesicherten Drahtlosnetzwerk in Reichweite suchen lassen, dass ich mitbenutzen konnte. Ich fand auch eines, und das sogar nahe genug, als das die Signalstärke akzeptabel war. Auf der anderen Seite der Wand eben.
Du bist einer der wenigen männlichen Wesen deiner Altersgruppe, die wirklich keinerlei Ahnung von Computern haben. Nicht nur, dass dein Netzwerk ungesichert war und ist, dein Computer ist es bis jetzt auch. Es hat mich nur ein paar Klicks gekostet, auf deine Festplatte zuzugreifen, ich tat es eines Abends, als ich mich schrecklich langweilte. Am Anfang fand ich dich nicht gerade sympathisch, aber je mehr ich mich auf deiner Festplatte umgesehen habe, je mehr deiner Mails ich gelesen und je mehr deiner Fotos ich gesehen habe, desto mehr hast du dich in meinen Kopf geschlichen. Inzwischen habe ich mir selbst eine Flasche Fahrenheit gekauft und habe eines deiner Hemden genommen, als du sie im Keller zum Trocknen aufgehängt hast. Selbiges habe ich mit dem Parfum eingesprüht und auf mein Kopfkissen gelegt. So ist es nachts fast, als ob du neben mir liegen würdest.
Ich arbeite gerade daran, deine Webcam dazu zu bringen, sich fernsteuern zu lassen. Die Idee dazu hat mir eine gewisse amerikanische Schule gegeben, die so ihre Schüler überwacht hat, jedenfalls habe ich das gelesen. So könnte ich sehen, wie es in deiner Wohnung so aussieht. Eingeladen hast du mich ja noch nie zu dir, du grüßt mich ja nicht mal, wenn du mir im Flur begegnest. Wenn du deine gewissen Filme guckst, schalte ich die Kamera auch aus. Versprochen.

 
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Moi enfantterrible,

für mich liest sich dieser kleine Text mehr wie ein Entwurf, hinter dem sich eine Geschichte verstecken könnte. Aber diese ist nicht ausgearbeitet.

Das ist ein gängiges Thema - erotische Obsession, Überwachung - gefaßt in eine kleine Idee, einen winzigen Ausschnitt, der vielleicht oder vielleicht nicht von existierenden Charakteren inspiriert wurde. Dagegen ist ja an sich nichts zu sagen. Was mir aber fehlt, ist eine Geschichte, die über die Beschreibung der Überwachungsmöglichkeiten hinausgeht, eine eigenständige, schlüssige Psychologie, die Deine Hauptfigur für mich spannend machen würde. Du gehst sehr wenig in die Tiefe; beschreibst trotz der Form der Selbstreflexion nur äußere Handlung - und auch davon gibt es wenig. Weder die story, noch die Figur entwickeln sich irgendwo hin. Und alles läuft dazu auch noch ins Leere aus.

Daher ist es für mich ein Fragment, eine kleine Phantasie, eine Art spin-off mit etwas anderem Dreh zu einer existierenden Vorlage.

Übrigens: (das hier wär Dein Job gewesen)
Wenn man einen Titel oder eine fikionale Figur eines anderen Autoren im Text verbrät oder erwähnt (auch wenn es hier in Abgrenzung sein soll), muß dies im Erstkomm mit voller Angabe als eine Art disclaimer erscheinen:

Lisbeth Salander ist die weibliche Hauptfigur aus Stieg Larssons Die Verblendung
(und 2 weiterer Teile, aber das wär mal egal).

 

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