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Auf der Brücke

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02.01.2002
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Auf der Brücke

Der Weg zu meiner Freundin führt an einer Autobahnbrücke vorbei. Mit ihren dichten Bäumen ist sie ein beliebter Treffpunkt für Pärchen.

An einem Nachmittag im vergangenen Sommer standen dort wieder einmal ein Junge und ein Mädchen. Ich war noch ein Stück entfernt und beobachtete ihren heftigen Wortwechsel. Plötzlich wandte der Junge sich ab und lief davon. Das Mädchen schlug die Hände vor das Gesicht. Seine Schultern bebten.

Ich zögerte. Meine Schritte wurden langsamer. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich die Fremde ansprechen sollte. Für einen Augenblick hatte ich das Bedürfnis, ihr über die Haare zu streichen oder einfach nur zu ihr hinzugehen. Einfach nur hinzugehen und für sie da zu sein.

Dann war der Moment vorüber und ich ging wieder schneller. Kurz hinter der Brücke drehte ich mich noch einmal um. Das Mädchen stand unverändert und rührte sich nicht.

Auf dem Rückweg kam ich erneut an der Brücke vorbei. Am Straßenrand parkten Autos, Menschen liefen hin und her. Ein Teil der Brücke war abgesperrt. Es war der Teil am Geländer.

Ich weiß nicht mehr, wen ich fragte, was geschehen war, und ich weiß auch nicht mehr, von wem ich es schließlich erfuhr. Vielleicht von einem der Polizisten, vielleicht von einem der Sanitäter. Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass ich an diesem Abend lange wach lag. Sobald ich die Augen schloss, sah ich das Mädchen vor mir: Die vom Wind zerzausten Haare, die Hände vor dem Gesicht und die bebenden Schultern.

Wenn ich heute an der Brücke vorbeikomme, stelle ich mich manchmal ans Geländer.

Und wenn ich hinunterschaue, wünsche ich mir, ich wäre damals nicht weitergegangen.

 

Hi! Ich habe mich in deine Geschichte verliebt sorry wenn ich das jetzt so sage aber ich finde sie einfach toll habe null Kritik auszusprechen mach weiter so!
Hoffe auf viele weitere von dir !

 

Hallo Ginny-Rose,

ich muss sagen, dass mir deine Geschichte auch sehr gut gefallen hat. Sie ist zwar etwas kürzer als die meisten hier, aber man sagt ja immer, in der Kürze liegt die Würze.
Du hast mit wenig, aber guten Worten viel ausgedrückt und den Leser zum Nachdenken für das alltägliche Leben angeregt.

Weiter so und viel Erfolg bei deiner nächsten Geschichte. :thumbsup:

Liebe Grüße
Suava

 

Hallo Ginny!

Auch mir gefällt Deine Geschichte sehr gut. Sie läßt sich gut lesen, hat eine mir sehr sympathische Aussage und geht ziemlich unter die Haut.

Verbessern könntest Du eventuell den Einstieg, da er noch nicht so richtig direkt ins Geschehen ist. Das heißt, ich würde die ersten beiden Sätze streichen und die Informationen über den Platz als Treffpunkt in den folgenden Sätzen unterbringen, während die Information, daß die Protagonistin dort oft vorbeikommt, weil es der Weg zu ihrer Freundin ist, am Schluß viel besser wirken würde. ;)

Und falls Du mutig bist, hätte ich noch einen Vorschlag, den Schluß betreffend. Denn Deinen Schluß erwartet der Leser irgendwie. Ein böser Spiegel der Gesellschaft würde es, wenn Du den letzten Satz änderst auf:
"Und wenn ich hinunterschaue, wünsche ich mir, dass meine Freundin bald eine andere Wohnung bekommt." Oder so ähnlich. Wie gesagt, wenn Du mutig bist...;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Ginny-Rose,

zielgerichtet ziehst Du Deine Geschichte durch, das Alltägliche wandelt sich ins Ungewöhnliche. Dann die Zweifel der Protagonistin, sie sind sehr ansprechend, weil man sich in ihre Gefühle hinein versetzen kann. Zum Schluss bleibt die Frage: Wie viel Verantwortung hat man seinen Mitmenschen gegenüber?
Hat mir gut gefallen, nur die schrecklichen ganzzeiligen Absätze - Ginny, wie konntest Du so etwas tun?

Tschüß... Woltochinon

 

Das nenne ich doch mal eine gelungene Kurzgeschichte. :)
Sie ist kurz! Sie lässt sich gut lesen. Sie besteht aus einfachen, gut struktureierten Sätzen. Sie hat einen gewissen Rhytmus. Und last but not least ist ein eindringliches Thema gut umgesetzt. Kein Wort zu viel, schlicht und stilsicher.
Kompliment.

 

Der Weg zu meiner Freundin führt an einer Autobahnbrücke vorbei. Mit ihren dichten Bäumen ist diese Stelle ein beliebter Treffpunkt für Pärchen.

Alternativvorschlag: "Der Weg zu meiner Freundin führt an einer Autobahnbrücke vorbei. Mit ihren dicht stehenden Bäumen ist sie ein beliebter Treffpunkt für Pärchen."

"Diese" fällt unter die Und-außerdem-Regel Nr. 9, d.h. nicht benutzen. "Diese Stelle" zusammen ist eine Umschreibung. Ebenfalls nicht benutzen, wenn es ein Pronomen auch tut.

An einem Nachmittag im Sommer standen dort wieder einmal ein Junge und ein Mädchen. Ich war noch ein paar Schritte von ihnen entfernt, als sich der Junge nach einem heftigen Wortwechsel plötzlich abwandte und davonlief. Das Mädchen schlug die Hände vor das Gesicht. Seine Schultern bebten.

Alternativvorschlag: "An einem Nachmittag im vergangenen Sommer standen dort wieder einmal ein Junge und ein Mädchen. Ich war noch ein Stück entfernt und beobachtete ihren heftigen Wortwechsel. Plötzlich wandte der Junge sich ab und lief davon. Das Mädchen schlug die Hände vor das Gesicht. Seine Schultern bebten."

Ein heftiger Wortwechsel dauert länger. Der Ich-Erzähler ist aber nur ein paar Schritte entfernt. Ort und Zeitdauer passen nicht richtig zusammen. "Schritte" ist eine Wortwiederholung im Folgenden. Frag nicht nach dem "vergangenen" - ich finde, es klingt so einfach besser.

Meine Schritte wurden langsamer. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich die Fremde ansprechen sollte. Für einen Augenblick hatte ich das Bedürfnis, ihr über die Haare zu streichen oder einfach nur zu ihr hinzugehen. Einfach nur hinzugehen und für sie da zu sein.

Alternativvorschlag: "Ich zögerte. Mein Schritt wurde langsamer. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich die für mich Fremde ansprechen sollte. Für einen Augenblick hatte ich das Bedürfnis, ihr über die Haare zu streichen oder einfach nur zu ihr hinzugehen. Einfach nur hinzugehen und für sie da zu sein."

Schritt statt Schritte. Dann ein paar Geschmacksänderungen. (Ich hasse z. B. "Moment".)


Dann war der Moment vorüber und ich ging wieder schneller. Kurz hinter der Brücke drehte ich mich noch einmal um. Das Mädchen stand unverändert und rührte sich nicht.

Alternativvorschlag: "Dann war der Augenblick vorbei und ich ging wieder schneller. Kurz hinter der Brücke drehte ich mich noch einmal um. Das Mädchen stand unverändert und rührte sich nicht."

Erwähnte ich schon, dass ich den "Moment" hasse?

Auf dem Rückweg kam ich erneut an der Brücke vorbei. Am Straßenrand parkten Autos, Menschen liefen hin und her. Ein Teil der Brücke war abgesperrt. Es war der Teil am Geländer.

Nach meinem Gefühl müsste man hier hineinbringen, dass unter den Autos ein Polizeiwagen mit Blaulicht steht und ein Unfallwagen. Aber wie, weiß ich nicht. Andererseits erwähnst du die Polizisten und Sanitäter weiter unten, du vergisst sie also nicht.

Ich weiß nicht mehr, wen ich fragte, was geschehen war und ich weiß auch nicht mehr, von wem ich es schließlich erfuhr. Vielleicht von einem der Polizisten, vielleicht von einem der Sanitäter. Ich weiß es nicht.

Komma nach "geschehen war". Diese "ich weiß nicht"-Wiederholung ist nett - wenn es mir auch bekannt vorkommt. Hast du schon mal benutzt, oder? Oder war's jemand anders?

Ich weiß nur, dass ich an diesem Abend lange wach lag. Sobald ich die Augen schloss, sah ich das Mädchen vor mir. Die vom Wind zerzausten Haare, die Hände vor dem Gesicht und die bebenden Schultern.

Doppelpunkt nach "mir"?

Ich behaupte nicht und keinesfalls, dass meine Änderungen den Text besser machen. Aber bei dieser Vorlage konnte ich nicht widerstehen und musste einfach herumbasteln. Es hat mir halt Spaß gemacht. Danke!

Klaus

 

Hallo zusammen.

Freut mich ja, dass der kleine Text überwiegend positiv aufgenommen wurde.

Woltochinon schrieb:
Zum Schluss bleibt die Frage: Wie viel Verantwortung hat man seinen Mitmenschen gegenüber?
Exakt. :-)

Was die Absätze angeht: Zugegeben, mag auf den ersten Blick "zerrissen" aussehen, weil der Text so kurz ist und es dafür verhältnismäßig viele sind. Es sind allerdings keine Ästhetik-, sondern Sinnabschnitte, die mM nach notwendig sind. Bei einem längeren Text würde das vermutlich ausgewogener wirken.

@Susi:

Wie gesagt, wenn Du mutig bist...
*g* Nun ja - es wäre eine absolut unerwartete Wendung. Und mein Ende ist in der Tat vorhersehbar. Allerdings würde ein anderes Ende den Sinn der Geschichte auf den Kopf stellen - und es wäre eine andere Geschichte.


Zu den Detailanmerkungen:

Sternenkratzer schrieb:
Alternativvorschlag: "Der Weg zu meiner Freundin führt an einer Autobahnbrücke vorbei. Mit ihren dicht stehenden Bäumen ist sie ein beliebter Treffpunkt für Pärchen."
"Diese Stelle" habe ich wie vorgeschlagen durch "sie" ersetzt. (Ich mach es halt anfangs immer umständlicher als nötig.)
Die "dicht stehenden Bäume" gefallen mir auch beser als meine Version. Allerdings kommt im nächsten Satz ein "standen" - "stehen" würde sich somit wiederholen. *grübel*
Sternenkratzer schrieb:
Alternativvorschlag: "An einem Nachmittag im vergangenen Sommer standen dort wieder einmal ein Junge und ein Mädchen. Ich war noch ein Stück entfernt und beobachtete ihren heftigen Wortwechsel. Plötzlich wandte der Junge sich ab und lief davon. Das Mädchen schlug die Hände vor das Gesicht. Seine Schultern bebten."
Angenommen.
Sternenkratzer schrieb:
Schritt statt Schritte.
*g* Das liest sich immer ein bisserl missverständlich.
"Moment" durch "Augenblick" ersetzt. Ursprünglich war das auch meine Idee, aber ich war mir nicht sicher, ob die bewusste Wiederholung von "Augenblick" nicht zu penetrant wirkt, zumal ein Teil des Satzes ("einfach nur hinzugehen ...)" im Folgenden auch nochmal aufgegriffen wird.

Den zweiten "Moment" lasse ich erstmal. *g* Ich mag ihn schließlich ganz gern.

Sternenkratzer schrieb:
Diese "ich weiß nicht"-Wiederholung ist nett - wenn es mir auch bekannt vorkommt. Hast du schon mal benutzt, oder? Oder war's jemand anders?
>:-)

@all: Danke für die Meinungen und Vorschläge. Ich werde den Text bei Gelegenheit sicherlich nochmal überarbeiten.

Ginny

 

Hi!
Der Titel lässt im Grunde genommen deine Geschichte schon ein bisschen erahnen, was aber in meinen Augen dem Text absolut nicht schadet. Obwohl (oder vielleicht gerade weil, ich weiss es nicht) deine Geschichte sehr kurz ist, wirkt sie sehr intensiv. Hat mir gut gefallen :)!

LG,
Marana

 

Ginny-Rose schrieb:
Das Mädchen schlug die Hände vor das Gesicht. Seine Schultern bebten.

Hi Ginny, ich hab nur eines anzumerken. Ich weiß, dass das "seine" sich auf "das Mädchen" bezieht. Aber erst dachte ich, dass mit "seine" der Junge gemeint ist... Man kann sicherlich beides, "seine" oder "ihre" schreiben, aber ich fands kurz etwas verwirrend.

Ansonsten hast du wieder mal voll ins Schwarze getroffen. Bei jeder anderen Geschcihte hätte ich bemängelt, dass man nicht erfährt, warum das Mädchen gesprungen ist. Aber HIER ist es vollkommen egal, denn es geht nur um die Sichtweise und das Denken der Prot. Es ist ega, warum sie gesprungen ist, es zählt nur die beißende Frage: Warum habe ich es nicht verhindert.

 

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