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Auf der Suche nach dem Glück
Ich bin ein Mädchen. Eins, das mit seinen Eltern in einer verschissenen Straße unserer Stadt lebt. Sagen jedenfalls meine Mitschüler immer, wenn sie in den Pausen hinter mir herjagen, weil ich meinen verschossenen Rock schon eine Woche trage. Wir bewohnen eine zweieinhalb Zimmerwohnung in einem Haus mit grau verputzter Fassade. Unsere Wohnung liegt im dritten Stock. Das ist die Etage, in der es im Treppenhaus nach Kohl und Kümmel riecht. Zwanzig Treppenstufen tiefer stinkt es nach Knoblauch und Zwiebeln. Oder, nach den eingeschlafenen Füßen der Kanaken, denen man die Schuhe im Laufen besohlen kann, sagt Vater.
„Sie sind stinkendfaul, verschlafen den Tag“, sagt meine Mutter, wenn wir abends im Park auf eine Gruppe von Ausländern treffen. Männer, die seltsam lachen und auf einem Teppich sitzen. Meine Mutter zieht mich, wenn ich stehen bleiben will, am Arm. Spät abends und bis tief in die Nacht geistern Stimmen durch das Haus. Die Gespenster kommen von unten, kriechen durch den Warmluftschacht. Selbst wenn ich dessen Lamellen schließe, verstummt ihr Wispern nicht. Es klingt, als seien sie auf der Suche. Vater sagt, es sind unsere Nachbarn, die Kanaken, die ihre Musik mit ohrenbetäubender Lautstärke laufen lassen. Dann und wann klopfen meine Eltern gegen die Wand und der Nachbar hämmert ebenso dagegen. Ich schlafe spät ein. Höre noch die Klospülung und schließlich das Bett meiner Eltern ächzen. Ich will nicht zuhören. Doch ich presse mein Ohr gegen die Wand. Sie grunzen, denke ich und nachdem die Klospülung noch einmal gerauscht hat, wird es endlich still. Ich stehe auf, schleiche mich in das Zimmer meiner Eltern. Vorsichtig lege ich mich zu ihnen. Nicht lange. Nur ein bisschen. Sie sollen es nicht bemerken.
Weil ich morgens oft müde bin, gehe ich nicht gern zur Schule. Aber wenn ich dort bin, gefällt sie mir doch. Nur die Pausen könnte man ausfallen lassen. Am schlimmsten sind die Regenpausen. Wir müssen dann im Klassenzimmer bleiben. Ich habe keine Chance, mich zu verdrücken. Versuche trotzdem unsichtbar zu werden. Aber die Kinder spüren mich auf, springen über Tisch und Bänke, nehmen mein Pausenbrot, halten es mit spitzen Fingern in die Höhe. Alle sehen den Dosenfisch zwischen den Klappstullen.
„Renate Fischgranate!“ dröhnen sie in allen Oktaven.
Sie sind meine alltägliche Hölle. Kleine Pfeile spuckend lärmen sie weiter. Treffen immer wieder mich. Ihre Spitzen haben Widerhaken. Ich bleibe also mit zu Boden gesenktem Blick stehen, gepackt von Entsetzen bei der Vorstellung, die Widerhaken würden mich blutig reißen.
Ich habe Mutter gebeten, mir lieber Wurstbrote zu machen. Lange habe ich mit mir gerungen, sie deswegen zu fragen. Und als sie mir verspricht, Leberwurst aufzustreichen, bin ich selig. Doch sie hat es vergessen.
Eine Woche lang habe ich mein Pausenbrot fortgeworfen. Bis die Lehrerin es mir untersagt hat.
Meine Eltern arbeiten viel. Während mein Vater auf der Baustelle malocht, säubert meine Mutter Arztpraxen, Schulen, und die Umziehräume einer Fischfabrik. Vater sagt, damit ich es besser habe. Sie sparen auf ein Häuschen im Grünen.
In unserer gemeinsamen Zeit am Abend bei Tisch schweigen wir uns unter dem Schein einer Hängeleuchte an. Mutter kocht unser Essen am Sonntag vor. Ich rühre mit meiner Gabel Muster in den aufgewärmten Kartoffelbrei. Sehe fleischige Raupen. Vielleicht schmecken sie besser, wenn sie rot sind, denke ich, als ich das Fleisch in den Mund schiebe. Aber Ketchup gibt es nicht bei uns. So kaue ich mit langen Zähnen und versuche die Gummiraupen in einem Stück herunter zu würgen. Ich achte darauf, nicht mit dem Besteck über das Porzellan zu kratzen. Auch wenn ich es gerne täte. Ich mag es, wenn Töne hoch und runter tanzen. In dem Moment wo das Kratzen aufjault und stirbt, flimmern die Härchen meiner Arme, stellen sich vor Wonne auf. Gerne hätte ich Flöte gelernt, aber Vater und Mutter sind müde. Die Feierabendruhe ist heilig.
Ich darf nur reden, wenn ich gefragt werde. Meine Antworten habe ich mir schon zurecht gelegt. Abends. Im Bett. Dann stelle ich mir vor, was meine Eltern mich fragen werden. Ich erzähle, dass ich fast zur Klassensprecherin gewählt worden bin. Nur eine Stimme fehlte!
Leider bleibt das, was ich erzählen möchte oft ungesagt. Was soll ich denn antworten, wenn Mutter anordnet:
„Nach der Schule musst du einkaufen“, Sie schreibt mir keinen Einkaufszettel. Sie weiß ich werde nachsehen, was im Kühlschrank fehlt. Einmal habe ich nur das Licht darin gesehen. Das Weiß hat mir in die Augen gestochen. Ich habe blinzeln müssen, auch wegen der Tränen, die plötzlich herausschwemmen wollten, als hätte ich den Wasserhahn überdreht. Trotzdem habe ich nur bunte Flecken erkennen können. Farbige Kleckse aus dem Tuschkasten. Sie verliefen, wurden immer größer, kamen auf mich zu, sprangen in mein Gesicht, vermengten sich zu einer Schwärze. Ich habe vor Angst gezittert, bin einen Schritt zurückgetreten, habe befürchtet das Schwarz würde ebenso schmerzen, wie das Weiß.
„Alles klar, ich kümmere mich, was ich einholen soll!“, antworte ich schnell. Freue mich, ihr zu gefallen. Mein Vater tätschelt mir die Wange und erinnert mich daran, aus dem Vorratskeller die Kohlen herauf zu holen. Ich mache es gerne, nicke ihm zu. Mein Vater ist stolz auf meinen Eifer. Zur Belohnung streicht er mir übers Haar. Ich mag den Druck seiner Hand.
Wir haben ein paar Bücher. Sie sind magisch. Verführen mich. Ganz tief in mir wächst etwas heran, wenn ich lese. Es prickelt. Hokospokus? Die Geschichten erzählen nicht nur, sie berühren mich. Ich bekomme Fieber, wenn Hanni krank wird oder rudere mit den fünf Freunden auf eine Insel. Das Buch, ist wie eine Befreiung meiner Sinne. Als die fünf Freunde im Sommer barfuss durch einen Regenschauer laufen und in Pfützen springen, kitzeln meine Fußsohlen mal heiß, mal kalt. Mutter hätte mir nie erlaubt es ihnen gleich zu tun, denke ich. Könnte ich doch krank werden! Und doch wünsche ich es mir. Die Geschichten erlauben es, werden wirklich, aber auch wahr? Wo beginnt die Fantasie?, will ich wissen, als ich das kühle Nass zwischen den Zehen spüre, frage meine Mutter, ob die Erlebnisse wahr sind. Sie starrt mich hilflos an, scheint überrascht zu sein, stottert, ich möge den Vater fragen, der kenne sich besser in diesen Dingen aus.
Ich verstehe nicht, warum Mutter mir nichts erlaubt. Ich sehe, ihren Mund, die Lippen dünn. Verkniffen. Was ist denn so falsch daran? Meine Zehen kneifen, krallen sich am Fußboden fest. Es tut weh. Aber ich kann nicht damit aufhören. Früher habe ich an meinen Nägeln gekaut. Da hat Mutter mir eine stinkende Paste auf die Hände geschmiert. Es hat bitter geschmeckt. Seitdem kralle ich mit den Zehen heimlich unterm Tisch.
In den Ferien lungere ich zu Hause herum bis meine Eltern wiederkommen. Mutter meint, ich sei alt genug, alleine zu Hause zu bleiben. In der Wohnung ist es still. Man hört die Wanduhr ticken. Manchmal halte ich das Pendel an. Nur um zu fühlen, dass ich noch bin. Ich halte die Luft an. Die Zeit baut sich vor mir auf. Ein Ungeheuer, grün mit glänzenden Zähnen, verschlingt mich. Schnell stoße ich das Pendel wieder an. Erst sirrt die Luft, als es schwingt, dann tickt die Uhr. Ich atme auf. Laufe wie ein Löwe im Käfig umher. Denn ich langweile mich. Spiele trotzdem nicht mit den Kindern in unserer Straße. Auch wenn es mich juckt, sie zu fragen, als ich sehe, wie sie geschmeidig um den Ball tänzeln.
„Sie sind laut und unverschämt“, sagt Mutter, wenn sie uns im Treppenhaus nicht grüßen.
Ich höre Gelächter, sehe sie den Fußball gegen Wände kicken. Die Kinder laufen Rollschuhe auf der Straße. Ich drücke meine Nase an der Fensterscheibe platt, erinnere mich an den autofreien Sonntag, als ich abseits der kreischenden Schar gestanden habe. Ein Mädchen mit blauschwarzen Haaren unter dem Kopftuch hat mir die Rollschuhe angeschnallt. Es hat mich ermutigt, es auch zu versuchen, weil es himmlisch sei. Doch ich habe alles falsch gemacht. Ich bin über den Gullideckel gerollt und hingefallen. Es hat hässlich in geknirscht, als mein rechter Unterarm gebrochen ist. Als ich am Abend den Tisch eindecken sollte, ist mir der Teller aus der Hand gefallen. Ich bin wie versteinert gewesen, als meine Mutter mir deswegen eine schallende Ohrfeige verpasst hat. Dann hat sie die Schwellung gesehen. Ist mit mir zum Arzt gefahren. Ihre Vorhaltungen sind durch den ganzen Bus zu hören gewesen. Ich habe mich entsetzlich geschämt, als ich gesagt habe, Nurray habe mich gedrängt.
Ich mag Nurray. Sie ist die einzige in meiner Klasse, die mich nicht ärgert. Ihre Mutter arbeitet am Fließband in der Fischfabrik. Auch Nurray wird geärgert. Nicht, weil sie nach Fisch stinkt, wie ich. Sie riecht nach Knoblauch.
Als mein Vater seine Arbeit verliert, muss ich nicht mehr die Kohlen aus dem Keller holen. Dafür laufe ich drei Mal täglich zum Konsum, um jeweils einen Sechser Pack zu holen.
Vater trinkt sein Bier unten im Park. Zusammen mit den anderen arbeitslosen Männern vertrinkt er die Stütze. Mein Vater wettert unaufhörlich gegen die Türken, die ihn so schändlich um seine Arbeit betrogen haben.
Mutter jammert ihm vor, sich bei Herrn Özdemir, dem Polier, zu entschuldigen. Dann würde man ihn auch wieder einstellen.
Diese Möglichkeit ängstigt mich. Ich bin glücklich, wenn Vater tagsüber da ist. Ich höre ihm zu, finde er hat Recht, seinem Ärger über die Ungerechtigkeit im Leben, Luft zu machen. Denke an meine Bücher, die Staub angesetzt haben, an meine Mitschüler, an Nurray und Mutter, die sich abrackert und doch nichts hat. Manchmal darf ich ein Bier mittrinken. Es schmeckt bitter. Nach Wahrheit, denke ich. Wenn ich es ausgetrunken habe, finde ich, mein Leben ist schöner geworden.