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Sie kommen. Langsam steigen sie den Berg herauf, gehen den gewundenen Pfad durch den Wald. Von meinem Aussichtspunkt kann ich sie auch hören, aber ich halte mich versteckt. Noch ist es nicht meine Zeit.
Sie kommen. Mein Herz würde jubeln, wenn es könnte. So viele Menschen, so viele Möglichkeiten!
Da, die ersten. Jung sind sie; der Mann trägt lange, dunkle Locken und ein weites, grobes Hemd, und ein Trinkhorn hängt an dem Riemen an seiner Seite. Das dunkelrote Gewand der Frau reicht ihr bis zu den Knöcheln, und sie hat ihr Haar aufwendig geflochten. Sie halten sich bei der Hand und lachen; nichts für mich.
Die nächsten rücken heran, wie eine Armee in schwarzen Hemden. „Wahre Helden“ auf ihrer Brust, ein ganzer Pulk. Auch sie scheinen fröhlich zu sein, aber so genau kann ich das aus meinem Versteck nicht sehen. In Gespräche vertieft, dann wieder mit Rufen quer über die ganze Horde, schieben sie sich vorwärts wie ein riesiges Tier. Ich kann sie später noch auskundschaften; jetzt verschaffe ich mir erst einmal einen Überblick.
Kein Burgtor wird ihnen den Einlass verweigern. Sie schreiten voran durch den leeren Bogen, der einst das schwere Holzportal umrandete, an der Mauer entlang bis zu der Stelle, an der man das ganze Tal überblicken kann. „Ach, guckt mal“, ruft einer von ihnen begeistert, wie weit man von hier sehen kann.“ Schon hat er die anderen an seiner Seite, „ohs“ und „ahs“ werden ausgestoßen, und sie scheinen sich zum ersten Mal ihrer Umgebung bewusst. Doch nur für einen Augenblick, dann setzt das Raunen ihrer Gespräche wieder ein.
Allmählich füllt sich der Pfad mit Menschen, wie ein bunter Wurm windet er sich die Anhöhe herauf, begleitet von einem ständigen Gemurmel. Viele junge, ganz in schwarz, dann wieder Frauen in weiten, bunten Kleidern und Männer in karierten Röcken und schweren Stiefeln. Sie drängen sich in den Vorhof der Burg, auf das Metallgitter und die kleine Pforte zu, das von steif stehenden Männern bewacht wird, die Papierstücke abreißen und Gepäck kontrollieren.
„Warum darf ich das nicht mit reinnehmen?“, empört sich ein Jüngling und hält die Flasche mit dem braunen Getränk fest in seiner Hand.
„Nur eine Flasche pro Person, in Plastik, bis 0,5 Liter, nicht alkoholisch“, leiert die Wache hinunter.
Beim nächsten, der sein Gebinde nicht zurücklassen will, dieselbe Litanei.
„Mann, dafür habe ich mir extra ein Sixpack gekauft? Ist doch nur Saft! Wirklich nur eine?“ Er steht unentschlossen da, zuckt mit den Schultern und meint schließlich: “Okay, das überlege ich noch mal.“ Das Gebinde unter dem Arm drückt er sich in die Menge hinter ihm, geht dann auf Neuankömmlinge zu. Wild gestikulierend, zieht er vier Mädchen näher an die Burgmauer heran, genau unter mein Versteck, und ich verstehe: „Nehmt doch jeder eins mit, und gebt mir drinnen zwei zurück. Dann haben wir alle was davon!“
Meine anfängliche Freude über die Menge weicht einer Angst, ob bei all den Ankömmlingen nicht der richtige dabei sein könnte. Ich liege hier auf der Lauer wie ein wildes Tier auf der Suche nach dem Außenseiter, dem einen kranken, lahmenden Mitglied der Herde. Doch was ich sehe, sind Frohsinn und Vorfreude. Niemanden kann ich bisher in Erwägung ziehen, und so schiebe ich mich zurück hinter die Mauer, auf der Suche nach einem abgelegenen Ort. Doch die Menge schwappt auch hier herein, an den Ständen mit Waren und Getränken vorbei ins Innere der Burgruine, sucht sich Lagerstätten auf den schrägen, mit Gras bedeckten Flächen oder sichert sich Plätze direkt vor der Bühne. Ein Gaukler im bunten Kostüm zieht an mir vorbei, die Schellen an seinen Mützenzipfeln läuten bei jeder Bewegung, und ein Blick in seine Augen sagt mir: einer von uns. Ich blinzele, er zwinkert zurück, und wir gehen weiter unserer Wege.
Ich habe Zeit und ziehe mich in den Burgfried zurück, den einzigen Turm, der von dem ganzen Bauwerk noch erhalten geblieben ist und der für die Besucher heute gesperrt bleibt. Die Sonne schickt ihre Strahlen durch die Fensteröffnung und taucht das Gewimmel dort unten in goldenes Licht. Ich lehne mich zurück und warte, hier geht es nur um Stunden und nicht die Unendlichkeit. Das Gemurmel unten wird lauter, dann bricht es plötzlich ab, und die ersten Töne erschallen. Ohrenbetäubend verstärkt hat das Konzert begonnen, und Fiedel und Drehleier werden von einem seltsam dröhnenden Zupfinstrument begleitet. Ich höre Lieder von Schlachten und Königen, Seeleuten und mutigen Rittern, sehe nach unten und folge mit den Augen den Farbspielen und Gestalten auf der Bühne.
Die Musiker wechseln, die Sonne sinkt, und noch immer jubeln und springen die Zuhörer und singen die Lieder begeistert mit. Langsam mache ich mich auf, unter den Zuhörern zu wandeln. Jetzt könnte es bald an der Zeit sein.
Ein in schwarz Gewandeter mit einer Haube auf dem Kopf wirkt wie ein Henker. Ich prüfe - nur verkleidet - und unter dem hochgerutschten Ärmel werden dünne, rote Schnitte sichtbar. Ist das ein Verlorener?
Ein junges Mädchen mit pechschwarzem Haar und weißgeschminktem Gesicht nähert sich ihm und schilt ihn spielerisch: „Na, hast du damit nicht übertrieben?“
„Ist doch nur für den Mittelalter-Markt morgen. Siehst du“, er zeigt auf mich, „hier laufen doch schon einige von denen rum.“
Sie schiebt ein Bein mit dem spinnennetz-gemusterten Strumpf und dem kurzen, bauschigen Rock gegen seinen Schenkel, und er lacht genüsslich.
An dem Stand mit dem Kirschbier begegnet mir der lockige Jüngling, der als erster eingetreten war. Nasse Strähnen kleben an seiner Stirn, und sein Hemd wirkt an Rücken und Brust dunkel mit Schweiß durchtränkt. Mit dem frisch gefüllten Horn in der Hand sucht er seinen Platz in der hüpfenden Menge. Wie eine Warnung von der Bühne singt der Mann im Vordergrund jetzt: „Eilt, sonst ist die Chance vertan.“
Ich werde unruhig. Irgendwo muss es doch eine verlorene Seele geben! Noch ein paar Lieder, und dann wird die Masse zerstäuben, morgen vielleicht noch eine Gelegenheit auf dem Markt, und dann heißt es wieder, endlos zu warten, auf irgendeine sich bietende Gelegenheit.
Die Sonne ist untergegangen, und der Burgfried erstrahlt im Licht der Scheinwerfer. Die Stimmung verändert sich, die Lieder werden düsterer. Ich ziehe am tanzenden Publikum vorbei, und rechts schräg hinter der Bühne entdecke ich das Mädchen mit dem geflochtenen Haar. Sie liegt auf dem Boden und starrt in den Himmel, der heute matt und sternenlos ist. Das Kleid ist ihr über die Schenkel hochgerutscht, und sie wiegt ihre nackten Beine im Rhythmus der Musik. Ihr wird zu kalt werden, ertappe ich mich bei einem menschlichen Gedanken.
Ich schreite auf sie zu, spreche sie an, und sie betrachtet mich wie aus weiter Ferne, lässt ihren Blick über mein Gewand ziehen.
„Geht es dir gut?“, frage ich.
Sie lächelt mit glasigem Blick und setzt sich auf.
„Komm, du musst dir was anziehen!“ Ich greife langsam, um sie nicht zu verschrecken, nach der Jacke, die sie um ihre Schultern geschlungen hat.
„Ich heiße Annika.“ Sie lässt sich die Jacke überstreifen, schlingt dann ihre langen Arme um meinen Oberkörper und sagt: „Das finde ich ja süß, dass das jemanden kümmert. Dafür muss ich dich küssen.“
Ihre Lippen landen auf meiner Stirn, und ich weiche erstaunt zurück. „Kalt bist du“, stellt sie fest.
„So-sollen wir deinen Freund suchen?“, stammele ich.
„Adrian, ja, der ist so süß.“ Sie versucht sich zu erheben, kämpft gegen ihre nachgebenden Beine an, und steht dann ungelenk an meiner Seite.
Der Sänger erzählt jetzt von den Untaten eine Mannes, der von allen gehasst wurde, von seinen Verbrechen und der von ihm gesäten Zwietracht. „Schließlich war’s sein Sohn voll Hass, der im Streit erhob die Axt ...“, singt er mit einem Beben in der Stimme.
„Pah, Sohn“, entfährt es mir grimmig. „Bastard!“ Bitterkeit erfüllt mich. Warum muss er gerade jetzt dieses Lied singen? Dieses Schandmaul!
Annika schwankt, und ich schlinge meinen Arm um ihre Taille, um sie zu stützen. So gelingt es mir, sie vorwärts zu bewegen, und ich versuche, ihren Freund zu erspähen. Das ist nicht einfach in der auf und ab hopsenden Menge, die den Kehrreim begeistert mitgrölt:
„Haltlos und machtlos irrt er durch die Nacht,
wortlos und körperlos zwischen den Welten“
„Da, Adrian“, deutet das Mädchen auf ihren Freund. Ich bringe sie zu ihm, und erleichtert fällt er mir um den Hals. „Das ist lieb, Fremder.“
Es wird nicht genügen, schließlich ist es keine gerettete Seele oder ein verhinderter Selbstmord. Nur eine freundliche Geste. Und die Nacht ist bald vorbei. Aber vielleicht verkürzt es meine Hölle hier um einen Tag oder ein Jahr. Irgendwann muss doch auch ich genug gesühnt haben! Ich gehe weiter, suche, spähe, und höre den Schluss des Liedes von der Bühne:
„Bis in ihm das Licht erglüht, das ihn auf die andere Seite führt“
Das Licht auf der Bühne wechselt von bläulich nach golden, und der Burgfried strahlt in seiner Beleuchtung. Ich werde noch weiter hier verweilen; schließlich ist es meine Burg.
(Lyrics aus "Vor der Schlacht" und "Der Untote" von "Schandmaul")