Was ist neu

Aufbruchstimmung

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19.06.2001
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Aufbruchstimmung

AUFBRUCHSTIMMUNG


01

Es ist keine drei Stunden her, da ist der alte Gansler in seiner Hütte zusammengebrochen. Jonas fand ihn in unnatürlicher Haltung auf dem Boden liegend, mit einem stumpfen Messer in der Hand, umgeben von geschälten Kartoffeln und Plastikgeschirr. Fast hätte Gansler die magische Einhundertfünfzig geschafft, doch es hat wohl nicht sein sollen. Einhundertsechsundvierzig Jahre ist er alt geworden. Einhundertvierundzwanzig Jahre seines Lebens hat er auf unserer Insel verbracht. Sein Tod ist bedauerlich, aber nicht umsonst. Es herrscht Aufbruchstimmung. Anders vermag ich es nicht zu umschreiben.

Unsere Insel, das ist ein fünf Millionen Tonnen schweres Monstrum irgendwo im Atlantischen Ozean. Ein Konstrukt, gefertigt aus marsianischem Gestein, tief im Meeresboden verankert, einhundert Meter über den Meeresspiegel ragend, imun gegen jeden Sturm, und sei er auch noch so verheerend. Die anderen und ich leben auf einem künstlichen, 16 km² großen Bollwerk menschlicher Ingieneurskunst. Auf dem Festland mag das nach Nichts klingen, für uns ist es jedoch mehr als ausreichend. Bevor ich nach StK-34 kam, wußte ich von knapp viertausend solcher Inseln, in regelmäßigen Abständen im Atlantik verteilt. Mittlerweile, schätze ich, hat sich die Anzahl der Strafkolonien mindestens um das Vierfache erhöht. Wenn nicht sogar mehr. Es müssen mehr sein, setzt man den steten Anstieg der Weltbevölkerung in Vergleich mit den parallel wachsenden Verbrechensraten. Der Traum einer perfekten Gesellschaft, in der alle Menschen gleich und glücklich sind, ist nicht machbar. Straftäter, egal, ob Taschendieb oder Mörder, werden nicht mehr auf dem Festland inhaftiert, sondern auf Inseln wie unsere verfrachtet. Da Geld seit der Ausbeutung des Mars keine große Rolle mehr spielt, wird auch nicht nach den Kosten gefragt, die so ein Prinzip mit sich bringt. Jede Insel beherbergt genau fünfzehn Menschen, die rechtskräftig verurteilt wurden. Lebenslänglich. Ohne Chance auf Rehabilitation. Ohne Chance auf Rückkehr zum Festland. Wer auf eine Insel kommt, wird diese niemals wieder verlassen. Stirbt ein Sträfling, wird umgehend für Nachschub gesorgt. Ich bin immer noch der 'Neue' auf StK-34, obwohl ich seit gut dreizehn Jahren Mitglied der Gemeinschaft bin. Das bedeutet nichts anderes, als dass wir auf einem Wissensstand leben, der seit dreizehn Jahren veraltet ist. Und deshalb herrscht Aufbruchstimmung. Gansler ist gestorben. Wie werden ihn würdig begraben, in der Nähe zum Wald, der in der Mitte der Insel liegt, einige hundert Quadratmeter groß. Morgen werden wir am Tor stehen, sehnsüchtig auf den Neuen warten. Wir werden gierig Informationen von ihm verlangen. Was ist passiert in den letzten dreizehn Jahren? Wie sieht die Welt aus, auf der wir leben? So wie ich werden die anderen die Nacht wohl kaum schlafen können. Zu groß ist die Aufregung, zu groß die Vorfreude auf den morgigen Tag. Es herrscht Aufbruchstimmung, selbst als wir schweigend am Grab von Gansler stehen. Manche lächeln, andere sehen erwartungsvoll nach oben. Ich selbst schwitze aus allen Poren, meine Temperatur steigt und fällt, ein Wechselbad der Gefühle. Gansler war ein sehr guter Freund für mich gewesen, fast eine Vaterfigur. Ich sträube mich gegen das Gefühl, froh zu sein, dass er gestorben ist. Letztendlich ein zweckloser Versuch...

Es ist früher Abend. Ich liege auf meiner Pritsche und schaue zum Fenster hinaus. Am Himmel kann ich die Sterne sehen. Sie funkeln und sind greifbar nahe. Über allem thront der Mond. Ich frage mich, ob die Mondstadt inzwischen vollendet ist. Einige Jahre, bevor ich zum Straftäter wurde, hatte man beschlossen, eine gigantische Basis auf dem Trabanten zu errichten. Nicht zu Forschungszwecken. Leben sollten dort diejenigen, die schon immer alle Priviliegien der Gesellschaft erhielten. Ich blinzle und kneife meine Augen zusammen, versuche ein Raumschiff zu entdecken, das um den Mond kreist. Alles was ich sehen kann, ist ein dünner, leicht gräulicher Punkt, der über das Firmament rast. Der Satellit, der uns überwacht, alles aufzeichnet, was wir tun, und was wir nicht tun. Ich weiß, dass es sich nur um den Überwachungssatelliten handeln kann, denn die anderen Satelliten sind weit draußen in einer geostationären Umlaufbahn positioniert. Mit bloßem Auge ist es unmöglich, solch ein künstliches Objekt zu entdecken. Ich blinzle erneut, und der graue Punkt ist verschwunden. Die Brandung schlägt gegen die steile Wand. Ein wohltuendes Geräusch. Es ist gleichmäßig. Es hilft beim Einschlafen. Ich schließe meine Augen und sehe Gansler, wie er in seinem kleinen Garten hockt, und liebevoll die Tulpen beschneidet. Ich habe nie begriffen, wie er es geschafft hat, ausgerechnet an so einem Ort wie StK-34 Blumen heranwachsen zu lassen. Im Grunde genommen will ich es auch nicht wissen. Es hat ihm Freude bereitet. "Leb wohl, alter Knabe...", flüstere ich leise und drehe mich auf die Seite. Es wird Zeit, endlich einzuschlafen.


02

Ich habe geträumt. Eine normale Sache. Unnormal ist allerdings die Tatsache, dass ich mich an Einzelheiten meines Traums erinnern kann. In meinem Traum saß ich im 'Capitol', einem Kino mit gut eintausend Sitzplätzen, und einer Leinwand, so groß wie ein mehrstöckiges Familienhaus. Aus den Lautsprechern schallte das Geschrei der Statisten, die in braune Uniformen gesteckt wurden, um irgendeine faschistoide Nation darzustellen, die von einer perfekt gestylten Muskelmaschine im Alleingang ausgelöscht wird. Als der Abspann begann, klatschte das johlende Publikum Beifall. Filme über den Dritten Weltkrieg sind die einzigen Filme, die es noch zu sehen gibt. In meinem Traum wankte ich, berauscht von Bildern der totalen Zerstörung, aus dem 'Capitol'. Mein Traum endet, als ich das Messer in den Körper des kleinen Jungen stieß, immer und immer wieder.
Mir wird bewußt, dass es kein Traum war...
Draußen scheint die Sonne, durch das Fenster kann ich einen wunderschönen blauen Himmel sehen, der mich lächeln läßt.
Mir wird bewußt, mich lediglich erinnert zu haben...
Mein Lächeln verschwindet.

Normalerweise schlafen wir bis weit über den Mittag hinaus, wenn die Sonne ihren höchsten Punkt überwunden hat und am Untergehen ist. Heute ist es anders. Wir trotzen der imensen Wärme und Luftfeuchtigkeit. Jeder hat sich aus dem Bett gequält. Wir stehen am Tor und warten, dass es sich öffnet, dass der Neue, und somit Neuigkeiten in unsere abgeschiedene Welt gebracht werden.
Ich beobachte die anderen, so wie die anderen mich beobachten. Ein jeder versucht, Regungen bei seinem Gegenüber zu erhaschen, ein sinnloses Unterfangen. Wir stehen wie angewurzelt da, sind zu keiner Bewegung fähig, zu groß ist die Anspannung. Meine Muskeln fangen an zu schmerzen.
Der Durchmesser des Tores beträgt knapp drei Meter. Und eigentlich ist es auch kein Tor, sondern eine Schleuse. Eine Schleuse, die wir von außen nicht öffnen können. Dahinter verbirgt sich ein schmaler Schacht, der nach unten führt, zur Anlegestelle. Einst bin ich aus dem Gleiter gestiegen, habe mich über die mit blinkender Technik vollgestopfte Halle gewundert, wurde gestoßen und geschlagen, bis ich die Treppe erreichte. Fünftausend Stufen nach oben. Ich weiß das. Ich habe jede einzelne Stufe gezählt. Wenn man den schmalen Schacht nach oben steigt, mit jedem Schritt metallisches 'Kling Glöckchen Klingeklingeling' in den Ohren hallt, dann ist das wie ein Abstieg in die Hölle, nur andersrum. Es geht nicht abwärts, sondern aufwärts, zu einem Ort, an dem man nicht sein will.
Ächzend gehe ich in die Hocke. "Es schmerzt", sage ich entschuldigend, obwohl dazu keine Veranlassung besteht.
Minuten weiten sich zu Stunden aus. Die Schleuse öffnet sich nicht. Jeder ahnt, dass irgendwas nicht stimmt. Nur traut sich keiner, es laut zu auszusprechen. Wir haben Verstand genug, erst einmal Geschehnisse gedanklich zu verarbeiten, bevor wir unsere Gedankengänge lauthals verkünden.

Schließlich ist es der Franzose, der die Arme vor der Brust verschränkt, und uns seine Ansicht der Dinge mitteilt. Obwohl er Bernard Hill heißt, nennen wir ihn nur den Franzosen. Es liegt an seiner überheblichen Art. Seit Ganslers Tod am gestrigen Tag ist er nun der älteste Inselbewohner. Der Franzose hat die Arme vor seiner Brust verschränkt und wippt andächtig von einem Fuß auf den anderen. "Irgendwas stimmt nicht", sagt er und nickt wichtigtuerisch, als ob er wissen würde, warum kein Neuling durch die Schleuse unsere Welt betreten hat.

Für den Bruchteil einer Sekunde ist kein Geräusch zu hören. Kein Atmen, kein Wind, keine Wellen. Absolut nichts, nur der Augenblick der Unendlichkeit. Ein fast anmutiger Moment in unserem Dasein, der zu schnell wieder vorbei ist. Bedauerlich, aber unvermeidbar.

Wir fünzehn schreien und brüllen uns an, grübeln über das Warum, diskutieren, was passiert sein könnte. Es gibt viele mögliche Erklärungen. Zum einen könnte ein Unfall in dem Röhrensystem die Ursache für das Nichterscheinen des Neuen sein. Die Röhren, in denen Gleiter schnell wie der Schall von Kontinent zu Kontinent rasen, sind zwar für die Ewigkeit gebaut worden, aber bisher unterschätzte man die Kraft des Wassers immer wieder. Sinclair meint, dass "es logisch sei, wenn ein Wassereinruch an einer bestimmten Stelle des Systems alles zum Stillstand bringt. Dadurch ist das ganze Transportunterfangen der Erde auf einem Stand wie vor fünfzig Jahren." So eine Äußerung kann Leo Talari, vor seiner Verhaftung maßgeblich an der Planung besagten Röhrensystems beteiligt, natürlich nicht auf sich sitzen lassen. "Unsinn!", sagt er energisch und unterstreicht dies, in dem er sich mit der linken Hand über seinen kahlen, mit rötlichen Flecken übersäten Schädel streicht. "Es können Tonnen gegen die Röhren stoßen, zerbrechen wird keine einzige!"
Wir haben ein kleines Feuer entzündet, um uns zu wärmen, denn die Nacht ist ungewöhnlich kalt. Ich sitze da und lausche den anderen, wie diese streiten. Da ist der pädophile Dwighty, der Kinder zu gern gemocht hat.
Dwighty wirft Zweige und Blätter in die lodernden Flammen. "Ich glaube, es hat einen Umsturz gegeben."
Dieser Gedanke interessiert mich. "Umsturz? So etwas wie einen Aufstand? Revolution?"
Dwighty nickt. "Wir sind uns doch alle einig, dass eine Gesellschaft, die nur noch auf dem Christentum basiert, zum Scheitern verurteilt ist." Er schweigt und sieht jedem ins Gesicht. "Gott hat diese Welt verlassen!", flüstert er und fängt an zu kichern. "Wie soll das auch auf Dauer funktionieren? Predigt Nächstenliebe? Und gleichzeitig werden die Massen mit Gewalt und abscheulicher Brutalität ruhiggestellt? Kennt jemand noch das alte Imperium der Römer? Brot und Spiele? Nein, so funktioniert das nicht auf Dauer! So etwas kann auf Dauer nicht funktionieren!"
Fast vierundsechszig Jahre ist Dwighty nun schon auf StK-34, und in den letzten Sekunden hat er mehr als jemals zuvor von sich gegeben. Bewundernd sehen wir diesen alten Mann an, betrachten seine mehrfach gebrochenen, und nur schlecht verheilten Arme.
"Das kann schon sein", sage ich, ohne den Hauch einer Überzeugung.
"Es ist nur eine Vermutung." Dwighty sieht unglücklich aus. Dann schaut er zu mir und sagt: "Ich wollte dir nicht zu nahe treten, Parker."
Ich winke ab. "Ach... Kein Problem..." Jeder weiß, dass ich an Europa glaube, an jenen fernen Ort nahe des Jupiters, wo Leben entdeckt wurde. Der Garten Eden eines grundauf refomierten Glaubens. Seit der Entdeckung von primitiven Leben unter den dicken Eispanzern des kleines Mondes eines gigantischen Gasplaneten hat sich das Gefüge der verschiedenen Religionen auf der Erde radikal verändert. Es gibt nur noch einen Glauben, das Christentum, ein einstmals für veraltet erklärtes Relikt. Vor dreizehn Jahren, als ich in den Gleiter stieg, gab es nach Schätzungen von höchster Stelle etwa zwei Millionen Menschen, die an gar nichts glaubten, die sich damit abfanden, nach ihrem Tod zu verwesen, von dicken Maden zersetzt zu werden, zu Staub und Asche zu zerfallen. Der Rest der Bevölkerung, knapp neun Milliarden, ließ sich bekehren. Jesus war auferstanden. Und er wandelte auf Gottes Pfaden: Von Wasser geschaffenen Kanälen auf Jupiters interessantestem Begleiter. "Weißt du, Dwighty", sage ich und blicke in die Runde. Langsam stehe ich auf. "Nicht nur ich bin enttäuscht. Wir alle haben erwartet, dass sich die Schleuse öffnet, und dass eine Offenbarung sich uns offenbart. Doch das ist nicht geschehen. Nicht nur ich bin enttäuscht. Nicht nur ich bin verunsichert. Kein neuer Sträfling ist gekommen. Was, wenn in ein paar Tagen die Drohne keine neuen Rationen bringt?" Das sitzt, trifft die anderen. Juri runzelt die Stirn und will was sagen, läßt es dann aber doch sein. Sinclair kichert in sich hinein. Ich hebe einen Zweig vom Boden auf und werfe ihn ins Feuer. Es knistert. Funken schweben. "Tut mir Leid." Ich drehe mich um und verschwinde.

Es ist seltsam. Noch nie gab es Streit in der Gemeinschaft. Ich fühle mich elend. Seit etwas mehr als zwei Stunden herrscht Nacht. Ich weiß nicht, ob sich die Runde aufgelöst hat, und jeder in seiner Hütte auf seiner schmalen Pritsche liegt und über den heutigen Tag nachdenkt, der immer noch nicht vorbei ist. Ein Tag endet dann, wenn man einschläft. Zeit spielt auf unserer Insel im Grunde genommen keine große Rolle. Wir haben keine mechanischen Instrumente, um die Zeit zu messen. Wir haben nur die Sonne und die Sterne. Das reicht aus. Mich friert es. Fasziniert beobachte ich die Gänsehaut auf meinen Armen. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wie ich es selten erleben durfte. Ich kann mich an meinen ersten Kuss erinnern. Ich kann mich an den Tag erinnern, als ich mit Molly Burns im Wald verschwand, und wir zufrieden zurückkehrten, und alles, was wir zurückließen, meine Baumwollsocken und ihre Jungfräulichkeit waren. Ich kann mich an den Film erinnern, den ich sah. Ich kann mich an diese Männer erinnern, die schreiend mit ihren Gewehren schossen, nur um Sekunden später durch einen blonden Muskelmann umgebracht zu werden. Und ich kann mich an diesen Jungen erinnern. Ich habe das Messer in der rechten Hand gehalten. Mit meiner linken Hand habe ich den Jungen auf den schmutzigen Asphalt gedrückt. Ich kann mich an seine Augen erinnern. Sie waren hellgrün. Sie waren voller Tränen. Ich habe zugestoßen. Mehr als einmal. Ich kann mich an das Blut an meinen Händen erinnern. Und an das Geschrei...

"Parker"

Nein. Da war niemand, der meinen Namen schrie. Ich weiß, dass ich getreten wurde, aber meinen Namen gerufen hat keiner. Ich bin mir ganz sicher, dass niemand...

"Parker!"


03

Mit einem Knurren drehe ich mich auf die Seite und öffne die Augen. Meine Hütte wird vom hellen Licht durchflutet. Bizarre Schatten spiegeln sich an den Wänden und auf dem Boden. Ramirez steht mitten im Raum, wild gestikulierend. "Was ist denn los?", will ich wissen. "Wie spät ist es?"
Der bucklige Latino schüttelt den Kopf. "Du hast zwei Tage am Stück geschlafen. Wir haben alle fünf Stunden jemanden zu dir geschickt, nur um zu sehen, ob du noch atmest. Aber heute morgen ist etwas passiert, Parker!" Ramirez grinst, aber es ist nicht das selbstgefällige Grinsen, das man von ihm gewohnt ist. "Komm, die anderen warten schon."
Mühsam erhebe ich mich von meiner Pritsche. Alles tut mir weh, mein Körper ist verspannt. "Am Landeplatz?", frage ich. Ramirez nickt. Ich deute auf meinen erigierten Penis. "Ich beeil mich, muß erst noch pinkeln."
"Der Franzose sagte..."
"Ja, gleich!" Mit einer unmißverständlichen Geste bewege ich den Latino, meine Hütte zu verlassen. Als er weg ist, atme ich tief durch. Zwei Tage soll ich geschlafen haben. Ich kann es mir kaum vorstellen. Doch alles spricht dafür. Meine Kehle ist ausgetrocknet, in der Magengegend rumort es, und meine Blase droht zu explodieren. Ich gehe zum Fenster. Es ist eigentlich kein richtiges Fenster, nur ein großes viereckiges Loch im Mauerwerk meiner Hütte. Während der kalten Monate hänge ich selbst geflochtene Matten davor, um den Wind etwas abzuschwächen. Ich stelle mich ganz nah an das Loch und pinkle nach draußen. Jeder macht das so. Für die größeren Geschäfte gibt es einen speziellen Keramikbehälter, den man allerding regelmäßig säubern muß, sonst droht Seuchengefahr. Außer mir und Sinclair benutzt keiner diesen Behälter. Die meisten scheißen sozusagen in ihren eigen Garten. Und der Traum? Dieser äußerst reale Traum? Es schon das zweite Mal, dass ich mich an einen Traum erinnern kann. Diese Tatsache beunruhigt mich. In den letzten Tagen ist viel zu viel passiert. Kein gutes Omen. Hastig trinke ich etwas und esse ein Stück nach Nichts schmeckender Wurst.

Der Landeplatz ist die Zone, wo die Drohnen die Rationen abwerfen. In der Regel sind das acht große Kunststoffkisten, die, sobald sie die Zone erreicht haben, von selbst aufgehen. Der Kunststoff verpufft dann mit einem leisen Zischen. Zurück bleiben Dosen mit Samenkernen, in Vakuum verpackte Wurstkonserven, Weltraumbrot, Verbandszeug und Medikamente, neue auf jeden Inselbewohner abgestimmte Sträflingskleidung, fünfzehn Milchkartons, Zigaretten mit Tabakkonzentrat und noch vieles mehr, womit man keine Funksender oder Waffen bauen kann.
Stumm nickt mir der Franzose zu, als ich eintreffe. Ich nicke stumm zurück. Dann schaue ich zum Landeplatz. Er ist leer. Kaum meßbare elektrische Signale wandern durch mein Gehirn, lassen mich nachdenken und zu der Erkenntnis bringen, dass heute eigentlich die Lieferung erfolgen müßte. Ich blinzle. Der Landeplatz ist leer. Noch einmal blinzle ich. Der Landeplatz bleibt leer. "Wie ich es befürchtet habe", sage ich leise und blicke zu Dwighty, der hilflos mit den Schultern zuckt.
"Wir ihr alle wißt, war es ein böser Zufall, der mich hierher brachte", sagt der Franzose. Er ist der einzige, der seine Tat verleugnet. Er redet von Zufällen und Intrigen. "Doch was in den letzten Tagen passiert ist, das kann man kaum Zufall nennen." Der Franzose geht ächzend in die Knie. "Oder?"
Sinclair meldet sich zu Wort. "Erst kein Neuankömmling, und nun keine Lieferung!"
"Und was schließen wir daraus?"
Was sollen wir daraus schließen? Was stellt der Franzose für dumme Fragen? Jedem ist klar, was das bedeutet. Ich räuspere mich. "Vielleicht hat Dwighty wirklich recht, und auf den Kontinenten ist es zu einem Umsturz gekommen, oder zu einer Katastrophe, deren Auswirkungen wir bisher noch nicht gespürt haben." Dwighty nickt mir dankbar zu und macht einen Kussmund. Mein angeekelter Gesichtsausdruck läßt ihn vor Scham erröten.
"So sehe ich das auch, Parker." Langsam richtet sich der Franzose auf und verschränkt die Arme vor der Brust. Es hat nie eine Abstimmung gegeben, aber er ist unser Anführer. "Auf dem Festland ist etwas passiert. Vielleicht schon vor längerer Zeit. Die Auswirkungen haben uns nun erreicht. Keine neuen Rationen. Kein Neuer, der uns mit Informationen versorgen kann. Bleibt also die Frage, wie wir mit der Situation umgehen sollen."
"Mir fällt ein, dass letzte Nacht kein Grauer über uns geflogen ist." Ramirez kratzt sich am Kinn.
"Das stimmt!", pflichtet ihm Talari bei. "Das habe ich auch bemerkt." Er schüttelt leicht den Kopf. "Ist das Ende gekommen?" Eine kaum zu überhörende Aufforderung an mich.
Ich zucke mit den Schultern. "Zumindest nicht das definitive Ende, Talari!"
"Ich werde die Situation mit Talari, Ramirez und Ashcroft besprechen. Morgen werden wir wissen, was wir zu tun haben!" Der Franzose löst die Runde auf.
Er bleibt mit Talari, Ramirez und Ashcroft zurück, während wir anderen zu unseren Hütten zurückgehen. Es ärgert mich, dass ich nicht mit dabei bin, schließlich besitze ich von uns allen noch den neuesten Informationsstand. Aber Einwände bringen nichts.


04

Unsanft werde ich mitten in der Nacht geweckt. Im Schein der Fackel kann ich Ashcrofts Gesicht erkennen. "Was ist?" Allein die Tatsache, dass Ashcroft eine brennende Fackel in seiner Hand hält, bedeutet, dass etwas überaus wichtiges passiert, oder passiert ist. Aus einem mir nicht erkennbaren Grund frage ich: "Werden wir sterben?"
"Weiß nicht..." Ungeduldig flüstert er: "Mitkommen!"
Ashcroft hat auf dem Festland brave Musterbürger um eine Menge Geld betrogen, obwohl Geld in den letzten Jahrhunderten völlig unwichtig geworden ist. Er begründet seine Tat mit seiner "Liebe zum Geld". Ich habe Mühe, ihm zu folgen, dabei ist der kleine Zwerg vor mir gut dreißig Jahre älter als ich. Wir erreichen die Südklippe. Der Franzose, Ramirez, Sinclair, Talari, Jonas und Mills erwarten uns bereits.
Der Franzose erläutert ohne Umscheife seinen Plan: "Wir denken, dass es ein günstiger Zeitpunkt ist, die Wände nach unten zu klettern, vorbei an den Anlagen. Die Anlegestelle ist auch von außen erreichbar..."
"Nach unten klettern?", unterbreche ich ihn und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. "An den Anlagen vorbei?"
"Das ist der Plan, ja."
"Das ist Irrsinn!"
"Nein!" Ashcroft reicht Mills die Fackel. "Kein Irrsinn! Eine gute Gelegenheit!" Der Zwerg deutet mit dem Zeigefinger seiner linken Hand nach unten, und mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand nach oben. "Wir müssen davon ausgehen, dass etwas im System nicht mehr funktioniert. Drei Männer werden die Südklippe hinabsteigen und versuchen, zur Anlegestelle zu kommen. Wenn einer es schafft, so kann er mit viel Glück das Festland erreichen, egal, ob das im Osten, oder das im Westen. Eines ist sicher: Nur auf dem Festland werden wir Antworten bekommen."
"Das ist verrückt!"
Der Franzose seufzt. "Nein, Parker. Nicht verrückt... Es ist... Irrsinn! Und vermutlich wir es keinem gelingen, überhaupt zur Anlegestelle zu gelangen, geschweige denn, es schaffen, einen Gleiter zu aktivieren, sofern ein Gleiter überhaupt da ist. Und als sicher gilt, dass niemand zurückkommen wird." Aus einer Tasche seines vergilbten Anzugs holt er eine Zigarette hervor. "Doch wir werden es tun!"
Sehnsüchtig blicke ich zu diesem kleinen, dünnen, weißen Ding. Ein knapp fünf Zentimeter langes Etwas, bestehend aus Tabakkonzentrat, und trotzdem auf eine gewissen Weise abhängig machend: Hat man Zigaretten, raucht man diese auch... Mein Fehler ist es jedes Mal, die mir zustehenden Zigaretten innerhalb von einer Stunde aufzurauchen. Ich schnalze mit der Zunge. "Also gut. Und wer sind diese drei?"
"Ramirez, Jonas und Mills", sagte Ashcroft.
"Und was habe ich dann hier verloren?"
Der Franzose lächelt. "Wir denken, dass du es schaffen kannst, Parker!"
Diese Aussage kommt unerwartet. Ich drehe mich zur Seite und übergebe mich. Gleichzeitig rinnt eine warme Flüssigkeit an meinen Beinen herab. Hustend wische ich mir Erbrochenes aus den Mundwinkeln. "Ich kann das also schaffen, ja?"


05

"Sie sind immer noch aktiv", sagt Talari lächelnd. In seiner Hand hält er einen blinkenden Chip, kaum größer als ein Fingernagel.
Ein jeder von uns hat im Nacken, direkt mit dem Rückenmark verbunden, einen Chip implantiert bekommen. Zu versuchen, ihn zu entfernen, ist zwecklos, denn als Folge dessen ist man vom Hals an abwärts gelähmt. "Wo hast du ihn her?"
"Wenn ein Sträfling stirbt, vergraben wir ihn. Vorher entfernen wir das Implantat aus dem Nacken. Ich weiß nicht warum, aber die Implantate sind weiterhin aktiv. Vermutlich ein Fehler im System."
Zweifelnd betrachte ich die fünf kleinen Dinger. "Es kann auch blinken, obwohl es längst deaktiviert wurde."
"Selbstverständlich!" Fast entrüstet steckt Talari den Chip in seine Hosentasche. "Alles ist spekulativ, Parker!" Dann streicht er meinen Anzug glatt. "Es ist ein bißchen zu groß für dich."
"Ja. Meinen habe ich leider... ruiniert."
Er zieht eine Augenbraue hoch und legt den Kopf etwas quer. "Du hast dir selbst in die Hosen geschifft, mein Junge. Dein Anzug ist dreckig, aber nicht ruiniert!"
Manchmal habe ich das Gefühl, je länger man auf dieser Insel ist, um so schneller verliert man den Humor. Dabei ist Humor überlebenswichtig...

Vor drei Stunden wurde mir gesagt, was ich zu tun habe, Während Ramirez, Jonas und Mills die Südklippe hinabsteigen sollen, werde ich mich auf der entegengesetzten Seite in die Tiefe stürzen, gehalten von Seilen, die wiederrum von alten Männerhänden gehalten werden. Bei meinem Sprung ins Ungewisse werde ich von Baumstämmen begleitet, denen die Ortungschips unter die Rinde gesetzt wurden. Wenn alles nach Plan läuft, zerschießen die Anlagen die Baumstämme, und ich gelange sicher und wohlbehalten zur Anlagestelle. Die Südklippe ist ein weiteres Ablenkungsmanöver. Dass sie Kanonenfutter sind, ist den drei unglücklichen Seelen bewußt. Bewundernswert. Sie werden sterben, für eine Sache, deren Ziel schon nach wenigen Metern scheitern kann, und der Logik nach vermutlich auch scheitern wird.

"Bereit?" Der Franzose gibt mir das Signal.
Ich stehe am Rand des Steilhanges. Obwohl es dunkel ist, kann ich unten die tobende Gischt des Meeres erkennen. Ich stelle mir vor, wie ich gleich einen großen Schritt nach vorn machen werde, wie ich nach unten stürze, mir Laserblitze um die Ohren zischen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Leben in weniger als einer Minute enden wird.
"Die anderen drei müßten sich in diesem Moment abseilen..."
Die Stimme des Franzosen klingt verunsichert. Ich kann es ihm nicht verübeln. Wir haben alle Angst. Angst vor den Konsequenzen unseres Handelns.
"Los!"
Ein letztes Mal blicke ich über meine Schultern zurück zu den anderen. Im Schein der Fackeln sehen die Gesichter unheimlich aus. Kalte Augen, die mich anstarren. Fleckige Haut. Zahnlos grinsende Monster. Dreizehn Jahre meines Lebens habe ich mit denen verbracht. Es sollte mir schwerfallen, mich einfach so aus dieser Gemeinschaft zu verabschieden. Von irgendwoher hören wir leise Schreie und mechanisches Zischen.
"Beeilung!", drängt der Franzose.
"Lebt wohl..." Ich schließe meine Augen und mache einen großen Schritt vorwärts.

Das Seil um meinen Bauch schnürt sich in mein Fleisch. Ich halte meine Augen geschlossen und zähle die Sekunden bis zu meinem Tod. Etwas gutes würde er bedeuten: Europa... Dreißig Sekunden. Ich lebe noch. Links und rechts von mir stößt ab und an ein Baumstamm gegen die künstliche Wand. Spätestens jetzt sollten Laserstrahlen das Holz und mich in Atome auflösen, doch nicht geschieht. Meter um Meter nährere ich mich dem Meer. Zwei Minuten. Direkt neben mir reißt ein Seil. Der Baumstamm rast nach unten. Das Geräusch, als er ins Wasser stürzt, muß bis ans Ende der Welt zu hören sein. Ich lebe immer noch. Kurz öffne ich die Augen. Vier Meter unter mir, befestigt an der Wand, kommt mir eine Laserstation entgegen. In der Dunkelheit wirkt sie fremdartig, als ob sie aus einer anderen Welt kommt. Das dünne Rohr, das unbeweglich zur Seite zeigt, schimmert seltsam gelblich. Ein Zeichen dafür, dass der Laser betriebsbereit ist? Ich passiere die tödliche Maschine unbeschadet. Panik macht sich in mir breit. Unkontrolliert ballen sich meine Hände zu Fäusten, meine Beine fangen an zu zappeln. Und dann plötzlich geht alles sehr schnell. Aus irgendeinem Grund löst sich das Seil um meinen Bauch. Schreiend stürze ich abwärts. Als ich unsanft aufschlage, verliere ich das Bewußtsein...


06

Die Sonne steht im Zenit, als ich aufwache. Mein Hinterkopf schmerzt. Meine Beine schmerzen. Ich bestehe aus purem Schmerz. Es dauert einige Zeit, bis ich den Schmerz niedergekämpft habe. Ich befinde mich auf einer Art Betonvorsprung, etwas mehr als fünf Meter über dem Meeresspiegel. Ein paar Schritte vor mir sehe ich eine Leiter, die durch ein kleines Loch nach unten führt. Mühsam stehe ich auf und sehe nach oben. Von hier unten sehen einhundert Meter wie einhundert Kilometer aus. Die Anlage, deren Laser mich am Leben ließen, sieht winzig klein aus. "Hallo!", schreie ich und warte. Niemand antwortet. Sie werden dich nicht gehört haben, rede ich mir ein. Ich mache weiter, wie es vom Franzosen geplant war. Jetzt muß ich den Eingang zur Anlegestelle finden. Vielleicht haben Ramirez und die anderen auch Glück gehabt, und die leisen Schreie, die wir hörten, waren nur Einbildung, oder verzerrte Windböen. Mit einem mulmigen Gefühl steige ich auf die Sprossen der Leiter. "Wenn alles so einfach war... Warum erst jetzt?" Ich hole tief Luft und steige hinab.

Die Leiter führt mich direkt zu einer Tür. In krakeligen, verwelkten Buchstaben hat dort jemand 'Entry/Exit' mit wasserresistenter Farbe draufgepinselt. Ich fühle mich als unzerstörbarer Held in einem Traum. Es ist wie in den Filmen über den dritten Weltkrieg: Bomben sind gefallen, fast alles ist ausgelöscht, und dann kommt der blonde Muskelmann, ein kurzes Fingerschnippen genügt, und alles wendet sich zum Guten. Und der Muskelmann mußte nicht einmal das Patronenmagazin seiner phallusartigen Waffe wechseln, um fünftausend griesgrämige Gegenspieler auf einmal auszuschalten. "Vielleicht hilft es ja..." Ich schnippe mit den Fingern und berühre die Türklinke. Sie fühlt sich kalt an. Langsam drücke ich sie herunter. Lautlos öffnet sich die Tür einen Spalt. Seltsam trockene Luft kommt mir entgegen. Was wird passieren, wenn ich die Tür noch weiter aufstoße und in die Dunkelheit trete? Wird grelles Licht mich plötzlich blenden und mechanische Drohnen mich verhaften? Oder sogar töten? Mir wird klar, dass es kein Zurück mehr gibt. Wenn ich hier draußen bleibe, werde ich verhungern, oder ich werde mich, wahnsinnig geworden, in die Fluten werfen, und die Kraft des Meeres wird mich wie eine Feder gegen die Wand der Insel stoßen, wo ich zerbrechen werde, ungesehen und ungehört. Mir bleibt nichts übrig, als meinen ganzen Mut zu bündeln und den nächsten, vielleicht wichtigsten Schritt in meinem Leben zu tun. Wieder schnippe ich mit den Fingern. Dann stoße ich die Tür weit auf und gehe in das Innere von StK-34.

Zu meiner Enttäuschung sieht es nicht nach technologischer Wahrhaftigkeit aus. Ich befinde mich in einem schmalen Gang, an dessen Seiten Streifen aus fluoreszierendem Material mir den Weg weisen. Die Luft ist stickig, von der Decke hängen Spinnweben herab, die ich nicht sehen, wohl aber fühlen kann. Sie kleben auf meiner Haut. Ich selbst zittere am ganzen Körper. Schritt für Schritt gehe ich den Gang entlang, ohne dass Alarm ausgelöst wird. Es ist fast so, als würde ich einen Forscher darstellen, der eine längst vergessene Welt betritt. Nach einer Ewigkeit gelange ich an eine weitere Tür. Wieder schnippe ich mit den Fingern. Ohne Probleme läßt sich die Tür öffnen und als ich auch diese hinter mir lasse, befinde ich mich in einer großen Halle. Die Anlegestelle. Vor dreizehn Jahren tummelten sich hier mindestens zwanzig Menschen, unsichtbar für die Bewohner einhundert Meter weiter oben. Überall blinkte und piepste es. Unablässig hallten aus den in den Wänden eingelassenen Lautsprechern Anweisungen und Statistiken. Jetzt herrscht Stille. Die Monitore sind dunkel. Am anderen Ende der Halle entdecke ich die Treppe nach oben zur Schleuse. Zu meiner linken Seite geht ein breiter Steg etwas abwärts. Wenn ich diesen Weg nehme, gelange ich zum Gleiter. Wenn es einen Gleiter gibt... Ich kann aber auch wieder nach oben gehen, und mit etwas Glück vielleicht die Schleuse von innen öffnen. Dann könnten wir alle unser Glück versuchen. Wir alle könnten gemeinsam das Festland erreichen. Wir alle könnten gemeinsam die Antworten auf unsere Fragen finden. Doch was, wenn es da oben nur noch tote Erde gibt? Was, wenn dort oben, in einhundert Metern Höhe, Wachdrohnen jeden Quadratzentimeter nach mir absuchen? Meine Entscheidung fällt mir schwer, aber sie ist nur logisch. Ich ignoriere die vielen Computer, Monitore und die unzähligen Papierstapel. Vor allem aber ignoriere ich die Treppe. Schnell habe ich den Steg überwunden. Ein Gleiter ist tatsächlich vorhanden.

Wie ein Automat drücke ich die grüne Taste unterhalb der Glaskuppel des Gleiters. Summend öffnet sich die Kuppel. Ich bin ein Automat. Ich bin eine Maschine und folge der Rationalität. Würde ich menschlich handeln, würde mich meine Angst davor bewahren, mich in dieses stromlinienförmig gebaute Geschoss zu setzen, die Glaskuppel zu schließen, und den Startknopf zu tätigen. Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Produkt der Gesellschaft. Ich bin ein Produkt der Gesellschaft, das einen unverzeihbaren Fehler begangen hat. Ich bin kein Individuum. Ich bin eine gesteuerte Maschine. Ich sitze im Gleiter. Meine mechanische Hand drückt die rote Taste. Summend schließt sich die Kuppel. Meine mechanische Hand legt Gurte um meinen mechanischen Körper. Auf der Anzeige vor mir ist ein Balken. '25 Power' steht dort. Ein Viertel der normalen Geschwindigkeit. Immer noch schnell genug, um wahnsinnig zu werden. Ich bin eine Maschine und folge einer logischen Gesetzmäßigkeit. Ich sitze in einem Gleiter. Ich bin angeschnallt. Die Glaskuppel ist geschlossen. Vor mir liegt die Röhre. Ich muß nur noch den Startknopf tätigen. Wie in Zeitlupe drückt mein rechter Zeigefinger den Knopf hinab, bis dessen Sensoren andere Sensoren berühren und dadurch ein Prozeß in Gang gesetzt wird, den, obwohl ich eine Maschine bin, ich mir nicht erklären kann. Ich werde in den Sitz gepreßt und der Gleiter mit mir als Fracht schießt in die Röhre hinein...


07

Schon nach wenigen Minuten ist mein Maschinendasein beendet. Ich befinde mich in einer fremden Welt. Nie hätte ich gedacht, dass das Meer so schön sein kann. Damals, als ich in die andere Richtung fuhr, an Händen und Füßen gefesselt, da hatte ich nicht die Geduld und Lust, mein Drumherum zu sehen, zu erleben... An manchen Stellen, das kann ich trotz der enormen Geschwindigkeit erkennen, haben sich Algen am Glas festgesetzt. Es ist schon ein erstaunliches Konstrukt, dieses Röhrensystem. Wir haben das Sonnensystem durchreist, den Mars besiedelt und ausgebeutet, Leben auf einem kleinen Mond entdeckt. Und das Meer? Ich sehe hinab in gigantische Gräben, wo rätselhaftes Licht schimmert. Ich sehe Fischschwärme, die in anmutigen Formationen durchs Wasser gleiten. Die Vielfalt, die ich hier erleben darf, ist unvorstellbar. Ich hinterfrage nicht, warum ich das alles sehen kann, wobei ich doch viele hunderte Stundenkilometer schnell bin. Und ich sehe auch Spuren der Menschheit. Ich rase vorbei an versunkenen Städten, an großen Schiffswracks, an Ölleitungen, die an einigen Stellen undicht sind. Schwarzes Gold schwebt langsam zur Oberfläche. Und dann sehe ich den Wal, begleitet von dutzenden Sonden. Obwohl ich pfeilschnell durch die Röhre rase, sieht es aus, als ob er majestätisch langsam schwebt. Dieser Wal muß nichts und niemanden fürchten. Er muß unvorstellbar groß sein, mindestens dreihundert Meter. Ein einmaliges Geschöpf der Natur. Ich sehe ihm noch lange nach.

Es gibt einen plötzlichen Ruck. Das Ende der Röhre, eine Anlegestelle auf dem Festland, ist erreicht. Die Glaskuppel meines Gleiters öffnet sich. In einer Mischung aus Vorfreude und Angst steige ich aus. Zwar hat der Gleiter, ohne dass ich es mitbekommen habe, kontinuierlich abgebremst, jedoch war die Geschwindigkeit wohl immer noch zu hoch. Die vordere Spitze, vollgestopft mit Technik, ist zertrümmert. Mir geht es gut. Die anderen Röhren und Gleiter sind mit Steinblöcken, Holz und Stahlträgern verbarrikadiert. Sollte ich je nach StK-34 zurückkehren, muß ich mir eine andere Röhre suchen. Ich bin mir sicher, dass es Millionen Anlegestellen gibt, von daher versetzt mich meine Lage nicht in Panik. Was mir auffällt, ist die alles beherrschende Leere. Eine gigantische Halle mit Computerstationen, so weit das Auge reicht, und dennoch ist es seltsam still. An der Decke, etwa fünfzehn Meter über mir, baumeln an dünnen Drahtseilen Neonröhren, welche die Halle in grelles Licht tauchen. Auf einigen Monitoren blinken seltsame Zeichen, überall auf dem Boden liegen Papierfetzen, vertrocknete Essensreste und zerrissene Kleidungsstücke. Und abgesehen von mir gibt es keinen einzigen Menschen... Es ist unheimlich still, ich höre nur mein Herz und meinen Atem. Beängstigend. Ein paar Meter von mir entfernt befindet sich eine langgezogene, breite Treppe, die nach oben führt. Der Ausgang. Was, wenn ich nach draußen gehe und ich sehe nur Skelette, nur Überreste? Es ist ein beängstigender Gedanke, aber mir bleibt gar keine andere Wahl, als nach draußen zu gehen.


08

Es ist ein gespenstisches Szenario. Ich befinde mich in einer Stadt. Um welche es sich handelt, weiß ich nicht. Es gibt keine Anhaltspunkte, wie etwa den Innreiter-Tower in New York, oder die Handelsstatue in Hamburg. Die Gebäude sind mir fremd. Es sind endlos in den Himmel ragende Beton- und Stahlungetüme. Die Straßen sind wie ausgestorben. Wie in der Halle liegen auch hier tausende Papierschnipsel. Und es ist kalt, sehr kalt sogar. Der Himmel ist grau, ein Anblick, der mich verwundert, denn auf StK-34 gab es stets blauen Himmel, nur wenn ein Sturm über uns hinwegzog, verfärbete sich dieser dunkelblau, mit dicken, unheimlichen Wolkengebilden. Aber hier, in dieser Geisterstadt, ist es ein grauer Himmel, ohne Wolken, ohne Vögel, ohne Sonne. Nur ab und an surren kleine Drohnen durch die Straßenschluchten, scheinbar ziellos, ohne programmierte Route. Diese kleinen Dinger stoßen gegen die Häuser, trudeln etwas und setzen ihren nicht vorhandenen Kurs in irgendeine Richtung fort.

Bin ich der blonde Muskelmann, der alle Gegner beseitigt hat? Gibt es niemanden mehr, gegen den ich kämpfen kann?

Ich laufe vorbei an ausgebrannten Autowracks, Geschäften, deren Schaufenster mit sperrigen Holzbrettern vernagelt wurden. Vorbei an leeren Sitzbänken, an Ampeln, die wild blinken. Wie soll ich Antworten finden, wenn es niemanden gibt, den ich Fragen stellen kann? Endlich erreiche ich den Eingang zu einer anderen Anlegestelle. Die Türen sind nicht verschlossen. Mir fällt auf, dass es, soweit ich es mitbekommen habe, nur noch unverschlossene Türen gibt. Die eine Tür, die verschlossen ist, hinter der all die Antworten liegen, scheint es nicht zu geben. In der Anlegestelle sieht es aus wie in der anderen. Alles ich verwahrlost, menschenleer. Die Röhren sind versperrt.

Zurück in der mir unbekannten Stadt setze ich mich auf eine Bank. Ich stelle mir vor, wie hier Menschen umherwuselten, Autos und Busse wild hupend sich einen Weg bahnten, wie Vögel zwitschernd umherflogen. All das gibt es nicht.
Aus einem Bekleidungsgeschäft nehme ich mir neue, wärmere Kleidung. Besonders glücklich bin ich über die Turnschuhe, die wie angegossen passen. Sie sind bequem, es läuft sich gut darin. In dem Geschäft habe ich mich in einem Spiegel betrachtet. Es ist nicht so, dass ich nicht weiß, wie ich aussehe. Dennoch war es seltsam, in ein Gesicht mit vielen Narben und tiefen Augenringen zu sehen. Ich habe den Spiegel zerschlagen, er war zu klar, zu deutlich...
Es wird dunkel. Es müssen Kilometer sein, die ich zurückgelegt habe. Jede Anlegestelle, die ich aufgesucht habe, ist zerstört. Ich sitze fest. Die Geisterstadt hält mich gefangen.

Es ist noch dunkel draußen, als ich hustend aufwache. Weder habe ich schlecht geträumt, noch gab es ein Geräusch, das mich aufschrecken ließ. Einzig allein der Husten hat mich aus dem Schlaf gerissen. Gehustet habe ich das letzte Mal vor gut fünfzehn Jahren... Mein Schlafquartier ist ein Lager in einem Hinterhof. In den Regalen hinter mir liegen tausende Essenskonserven. Zumindest werde ich nicht verhungern. An meinem Kinn läuft eine warme Flüssigkeit herab, mein Hals tut weh, ich kann kaum atmen. Und ich muß husten, ununterbrochen. Ich rappele mich auf und gehe zu einem der schmalen Fenster. Draußen schimmert ein seltsames Licht, was wohl durch den dunkelgrauen Himmel verursacht wird. Eine kleine Drohne surrt an mir vorbei, bleibt in der Luft stehen, torkelt hin und her, und löst sich urplötzlich auf. Überrascht weiche ich zurück. "Was zum..." Wie kann so etwas möglich sein? In meinem linken Fuß fängt es an zu kribbeln. Erst ist es nur der kleine Zeh, doch schnell breitet sich das Kribbeln aus. Es tut nicht weh, ist aber unangenehm. Millionen sanfte Nadelstiche sind in meinem Bein. Ich gerate in Panik und stürze überhastet aus dem Lager hinaus auf die Straße. Ich bemerke das Flimmern in der Luft. Ich laufe weiter, irgendeine Straße entlang, bis mir meine Beine den Dienst versagen. Das Kribbeln hat meinen ganzen Körper in Besitz genommen. Ich huste und spucke dabei Blut. Ich spüre, wie Blut aus meinen Körperöffnungen dringt. Und mir wird klar, dass ich das Ende meiner Reise erreicht habe. Mir wird klar, dass ich kein Muskelmann bin, der stupide Feinde niedermacht. Es gelingt mir, mich auf den Rücken zu drehen. Ich schaue nach oben. In dem seltsamen Flimmern glaube ich eine Struktur erkennen zu können. Um was es sich dabei handeln könnte, weiß ich nicht. Vielleicht ist es ein Virus. Das würde die Geisterstadt erklären. Das würde so ziemlich alles erklären. Es kann aber auch was anderes sein. Aber das ist unmöglich, denke ich, schließlich wurde die Nanoforschung vor einem Jahrhundert verboten. Das kann es nicht sein. Mühsam hebe ich meinen Kopf und kann sehen, wie sich mein Körper auflöst. Die Kleidung und Turnschuhe verschwinden von einem Augenblick zum nächsten... Meine Füße lösen sich in Nichts auf. Es tut nicht weh. Irgendein Nerv in meinem Gehirn verhindert, dass ich Schmerzen empfinde. Ich sterbe also. Ich schließe meine müden Augen und denke an Europa, an das Paradies. Ich denke an den Jungen, den ich getötet habe. "Tut mir Leid", flüstere ich. Dann plötzlich setzt der Herzschlag aus, mein Atem versagt, um mich herum wird es dunkel.


ENDE


copyright by Poncher (SV)

 

Hi,

spannend geschrieben. Und die Idee mit den vielen Inseln über dem Ozean gefällt ebenso (obwohl ich denke, dass man die wohl für mehr als 15 Leute bauen würde, auch wenn die Finanzen nicht das Problem wären) - auch finde ich den Gedanken sehr gut, dass die Gruppe auf der Insel nach Informationen von aussen giert und so der Tod einen ganz anderen Stellenwert dort hat - das gibt der Geschichte was - und in der Betrachtung ist es bewundernswert, dass sie sich gegenseitig nicht umbringen (z.B. den alten Mann), um an neue Informationen zu gelangen, sondern irgendwie unter sich einen gewissen Zusammenhalt gefunden haben. Also wie gesagt, spannend auf jeden Fall und ich wurde mit dem Lesen immer gespannter, was am Ende passieren mochte. Insofern sind diese Abschnitte 'Auf der Insel', 'Unter der Insel', 'Im Gleiter' und in der Stadt' gut aufeinander abgepasst, weil jede immer Spannung aufbaut, was nach ihm kommt. Vor allem auch die Reise in der Röhre finde ich von der Atmosphäre her gut gelungen.

Jetzt zu Sachen, die mir aufgefallen sind:

1. Mir will es nicht ganz in den Kopf, warum die drei an der Südseite absteigen mussten. Wenn die Laserbatterien eh überall an den Steilwänden sind, dann bringt doch auch ein Ablenkungsmanöver nichts? Ausserdem gehen die drei doch ziemlich bereitwillig in den Tod (da der Eingang auf der anderen Seite der Insel ist - wo Parker landet - würde es ihnen ja noch nicht mal was bringen, wenn sie bis nach unten durchkommen würden). Jetzt passiert gerade mal was in der Langweile des Lebens - da wäre ich nicht bereit, mich einfach zu opfern, selbst, wenn ich durch das Leben auf der Insel abgestumpft wäre.

2. Hmmm...die Andeutung, dass das Christentum wieder zu neuer Blüte gelangt, weil man primitives (also nicht intelligentes) Leben auf Europa findet, ist für mich persönlich etwas unglaubwürdig. Und das Europa in den Köpfen der Menschen dadurch zum Paradies nach dem Tod wird, auch - und warum ist es ausgerechnet das Christentum, dass daraus Vorteil zieht? Vielleicht habe ich da irgendeinen Zusammenhang übersehen.

3. "...und dass eine Offenbarung sich uns offenbart." Vielleicht diese Wortwiederholung raus?

4. "Und er wandelte auf Gottes Pfaden: Von Wasser geschaffenen Kanälen auf Jupiters interessantesten Begleiter." Vor das 'Von' würd ich ein 'In' setzen. Bei interessantesten muss ein m am Ende stehen.

5. Warum schläft Parker ohne ersichtlichen Grund zwei Tage durch? Hat für die Geschichte doch keine Auswirkungen, oder?

6. Muss natürlich nicht sein, aber die Geschichte mit dem Jungen, den er ermordet hat, erscheint immer so am Rand und man könnte schon mehr darüber erfahren wollen. Auch in bezug darauf, ob es ihn irgendwie verändert hat. Muss aber nicht unbedingt rein, weil diese Abgeschiedenheit auf der Insel ja auch was mit der Aufgabe der Vergangenheit zu tun hat.

7. Das mit dem Herunterstürzen an der Steilwand ist etwas undurchsichtig. Du schreibst von Herunterstürzen, aber er wird ja eigentlich abgeseilt, mindestens zwei Minuten. Dann löst sich das Seil und er stürzt. Als er aufwacht, sieht die Laseranlage 'winzig klein' aus, woraus man schließen könnte, dass er aus ganz schöner Höhe auf den Beton geschlagen ist - ohne sich irgend etwas zu brechen.... Die Passage finde ich nicht so gelungen.

8. "Mein Hinterkopf schmerzt. Meine Beine schmerzen. Ich bestehe aus purem Schmerz. Es dauert einige Zeit, bis ich den Schmerz niedergekämpft habe." Ziemlich viel Schmerz hintereinander.

9. Manchmal finde ich es etwas übertrieben, dass der Prot so viel in Metaphern denkt. Das mit dem blonden Superheld oder der Feder im Meer, die gegen die Wand geschmettert wird z.B. Insgesamt erscheint er mir immer recht pragmatisch, da ist das auf den ersten Blick manchmal etwas viel an gedanklichen Vergleichen.

10. "...wobei ich doch viele hunderte Kilometer schnell bin." Weiß nicht, aber eigentlich müsste es wohl Stundenkilometer heißen. Kann man aber vielleicht auch noch anders ausdrücken.

11. Der Part in der Stadt gefällt mir sehr gut. Klasse Endzeitstimmung. Das Ende lässt viel Raum zum Interpretieren, was wohl bei jedem Leser anders ankommt. Mir gefällts.

Insgesamt hab ichs gern gelesen und war von der Geschichte gefesselt, aber die genannten Dinge könnte man evtl. noch mal bearbeiten.

Gruß, baddax

 

Hallo Baddax,

Danke fürs Lesen und Kommentieren. Wenn es dir im Großen und Ganzen gefallen hat, dann bin ich doch recht zufrieden.

So:

1. Stimmt, im Nachhinein ist das natürlich schwer bekloppt, die drei "zu opfern", wenn es eigentlich nicht sein muß.

2. Ja, das war so eine Idee von mir. Ich habe auch die Ich-Perspektive gewählt, um nicht als allwissender Erzähler dazustehen. Somit sind einige Dinge einfach Tatsache. Mag frustrierend sein, sorry.

3. Hmm...

4. geändert...

5. Doch. Alles an einem Tag wäre wohl zuviel des Guten gewesen... :hmm:

6. Vielleicht sollte ich das noch ein wenig ausschmücken, aber eigentlich gefällt es mir so, wie es jetzt ist.

7. Stimmt, überarbeitungswürdig.

8. Mal sehen...

9. Das ist, denke ich, Geschmackssache.

10. Ich hab jetzt mal Stundenkilometer übernommen.

11. Mir auch.

Gruß,
Poncher

 
Zuletzt bearbeitet:

Der Anfang gefällt mir, weil er direkt in die Handlung einsteigt. Der 1. Abschnitt erklärt dann aber zuviel, es geschieht rein gar nichts. Ich muss sagen, dass ich das Szenario nicht plausibel finde: So ein Aufwand für Gefangene ... nur noch Christen ... Röhrensystem mit Überschall-Gleitern ...
Der Satellit: Ein Überwachungssatellit wäre sinnigerweise geostationär.
Das Erbrechen am Ende von 04 finde ich übertrieben.

Die Fluchtszene gefällt mir sprachlich ausgesprochen gut, wenngleich mir das alles zu einfach geht. Wenn es immer genügen würde, nur einen Knopf zu drücken ... Nicht überzeugend finde ich, was der Held in der Röhre unter Wasser "sieht". Soll die Röhre aus Glas sein? Was ist das für ein 300 m langer Wal? Das hat was surreales, aber ich verstehe nicht, was es soll.

Innreiter-Tower? Ja nee is klar :D

Das Ende erklärt alles und ist ebenfalls mitreißend geschrieben. Allerdings finde ich das Motiv "Nanotechnologie rottet Menschheit aus" etwas platt. Ein Virus hätte es auch getan. Klar ist es wunderbar zynisch, dass ein lebenslänglich isolierter Häftling ausbricht und dann der gleichen Seuche zum Opfer fällt wie vorher schon der Rest der Menschen.
Das "Tut mir Leid" am Ende löst meinen Moral-Alarm aus. Aber nur auf niedriger Stufe.

Insgesamt also routiniert geschrieben, unterhaltsam. Daher kann man vernachlässigen, dass Plot und Geschehen nicht völlig plausibel wirken.

Uwe
:cool:

 

Hallo Poncher!

Hast du diese Geschichte unter Verwendung des Story-Construction-Kits geschrieben?
Anders kann ich mir die nicht vorhandene Logik nämlich kaum erklären. Gelegentlich hatte ich gar den Eindruck, du hättest im Nachhinein noch schnell einen erklärenden Satz an den passenden Stellen hinterhergeschoben, um die Geschichte nicht total in sich zusammenbrechen zu lassen.

Ein paar Zitate:

Bevor ich nach StK-34 kam, wußte ich von knapp viertausend solcher Inseln,

15 * 4000 Häftlinge bei neun Milliarden Gesamtbevölkerung? Keine schlechte Quote.

Wie werden ihn würdig begraben, in der Nähe zum Wald, der in der Mitte der Insel liegt, einige hundert Quadratmeter groß.

So so, einen Wald gibt es also, aber dass der alte Mann ein paar Blumen zum Blühen bringt, erscheint deinem Prot. faszinierend?
Und überhaupt: Anfangs ist die Rede von 16 Quadratkilometern und dann stehen da nur ein paar Hütten rum und ein kleiner Wald wächst aus der Mitte?

Es geht nicht abwärts, sondern aufwärts, zu einem Ort, an dem man nicht sein will.

Dieser Nachsatz ist völlig überflüssig. Der Leser versteht den Vergleich auch so.

Absolut nichts, nur der Augenblick der Unendlichkeit.

Ziemlich schwülstig.

Wir fünzehn schreien und brüllen uns an,

Eigentlich sind es doch jetzt nur noch vierzehn.

So eine Äußerung kann Leo Talari, vor seiner Verhaftung maßgeblich an der Planung besagten Röhrensystems beteiligt, natürlich nicht auf sich sitzen lassen.

Hmmm...und der Franzose ist dann gleichzeitig derjenige solche, der das außerirdische Leben entdeckt hat? Mal im Ernst: Was für ein unglaubwürdiger Zufall.

Da ist der pädophile Dwighty, der Kinder zu gern gemocht hat.

Erstens klischeehaft geschrieben. Der zweite Satzteil ist überflüssig. Außerdem, wenn die Menschen wegen Kindesmissbrauchs zu lebenslänglichem Inseldasein verurteilt werden, dann haut die Sache mit den 4000 Inseln noch viel weniger hin.

"Was ist denn los?", will ich wissen. "Wie spät ist es?"

Einige Sätze vorher schreibst du noch, dass es auf der Insel keine Uhren gibt.

Ashcroft hat auf dem Festland brave Musterbürger um eine Menge Geld betrogen, obwohl Geld in den letzten Jahrhunderten völlig unwichtig geworden ist. Er begründet seine Tat mit seiner "Liebe zum Geld".

Sowohl Begründung als auch Tatbestand sind schwachsinnig.

Und als sicher gilt, dass niemand zurückkommen wird.

Bei derlei Aussichten lohnt es ja richtig, sich auf die Socken zu machen.

Diese Aussage kommt unerwartet. Ich drehe mich zur Seite und übergebe mich.

KLISCHEEE!!! Warum müssen die Leute immer gleich kotzen?

Wenn alles nach Plan läuft, zerschießen die Anlagen die Baumstämme, und ich gelange sicher und wohlbehalten zur Anlagestelle. Die Südklippe ist ein weiteres Ablenkungsmanöver. Dass sie Kanonenfutter sind, ist den drei unglücklichen Seelen bewußt. Bewundernswert. Sie werden sterben, für eine Sache, deren Ziel schon nach wenigen Metern scheitern kann, und der Logik nach vermutlich auch scheitern wird.

Also, jetzt mal ganz langsam und der Reihe nach. Die Anlagen zerschießen nicht bloß die Baumstämme, sondern auch den Prot, oder hat er sich seinen Chip bereits entfernt? Die anderen gehen nach wie vor singend in den Tod und überhaupt: Weshalb können die ihre Verstorbenen da überhaupt einfach so begraben und die Chips behalten? Viel logischer und wahrscheinlicher wäre es, wenn sie die Leichen "abgeben" müssten. Außerdem wird dieses Sammeln der Chips mal eben so beiläufig erwähnt. Das ist nicht gut.

Ich befinde mich auf einer Art Betonvorsprung,

Entweder er befindet sich auf einem Betonvorsprung, oder nicht. Es gibt da kein sowas in der Art.

Die Anlegestelle. Vor dreizehn Jahren tummelten sich hier mindestens zwanzig Menschen, unsichtbar für die Bewohner einhundert Meter weiter oben. Überall blinkte und piepste es. Unablässig hallten aus den in den Wänden eingelassenen Lautsprechern Anweisungen und Statistiken.

Wozu dieser ganze Aufwand; weil es dramatisch klingt?
Es wird EIN Häftling auf die Insel gebracht. Kein Grund für einen Staatszirkus.

Aus einem Bekleidungsgeschäft nehme ich mir neue, wärmere Kleidung.

Weshalb kommt er eigentlich nicht auf die Idee, sich mal nach einer Zeitung umzuschauen? Womöglich wäre sie ja diese eine, verschlossene Tür gewesen.


Noch eine Sache die Logik betreffend. Scheinbar sind die Menschen bereits ziemlich lange von der Erdoberfläche verschwunden (zumindest spielst du darauf an, da ja seit dreizehn Jahren kein Neuer mehr gekommen ist). Weshalb sind dann bislang jede Woche die Drohnen mit der Versorgung aufgetaucht?


Ansonsten: Nö...das isses nicht Poncher. Generell fällt mir auf, dass deine Geschichten entweder super sind, oder ziemlich durchschnittlich.
Du hast ein ganze Menge schwülstiger Formulierungen und Klischees mit drin (Sie ließ ihre Unschuld im Wald zurück - beispielsweise) und die Charakterisierungen sind grauenhaft; sie basieren fast ausschließlich auf ebenso platten Figuren, wie der Kinofilm, von dem dein Prot. träumt. Oder habe ich da irgendeine wichtige Andeutung übersehen und am Ende ist es doch ganz anders und der Prot. lebt in einer Art Traumwelt?
Erst nach der Flucht gewinnt der Text an Fahrt und wird spannend. Die Unterwasserszene hat mir persönlich sehr gut gefallen und auch das zielloses Umherirren durch die Großstadt (Innreiter-Tower - he he). Der Schluss enttäuscht dann wieder auf ganzer Linie.
Weshalb dieser Mist mit der Nanotechnologie? Du bietest oftmals so tolle, rätselhafte Enden. Warum hast du nicht einfach alles offen gelassen? Der Prot. verbringt in Kurzfassung noch einige Jahre in der verlassenen Stadt und ernährt sich von Konserven. Irgendwann fallen auch die Drohnen aus und die Geschichte endet damit, dass er sich auf den Weg an den Strand macht, damit er den blauen Himmel wieder genießen kann. Während er den Wellen lauscht und über Vergangenheit und Gegenwart sinniert, endet die Story. Hätte mir persönlich klasse gefallen.

"Blade Runner Blues" habe ich geliebt. Diese Geschichte hier wäre für einen fortgeschrittener Schreiber ziemlich gut.
Für deine Verhältnisse ist sie leider gerade eben noch Durchschnitt. Vor allem die schlechten Charakterisierungen stoßen mir sauer auf, daran solltest du fauler Hund endlich mal arbeiten. Und so beende ich diese Kritik mit einem weiteren Zitat:

Nein, so funktioniert das nicht auf Dauer! So etwas kann auf Dauer nicht funktionieren!

Nichts für ungut.

Viele Grüße

Cerberus

 

Mal ein kurzer Nachtrag:

Verbessere mich, sollte ich falsch liegen, aber ich vermute mal, dass du die ganze Zeit drei Bilder vor Augen gehabt hast.

1. Eine Gefängnisinsel.
2. Eine traumhafte, mystische Unterwasserwelt.
3. Eine verlassene Großstadt.

Nachdem du am ersten Bild die Lust verloren, es aber bei weitem noch nicht in Textform gebracht hattest, da konntest du bloß noch an die beiden anderen denken, die du unbedingt mit reinbringen wolltest.
Daher geht der Teil mit der Insel auch völlig unter, weil du dich hast hinreißen lassen.

Liege ich da ungefähr richtig?

P.S. Die Nichtaufklärung des Mordmotives deines Prots hat mir ebenfalls gut gefallen. Habe ich vorhin vergessen zu schreiben.

 

Nun, deutliche Worte. Der faule Hund verabschiedet sich in den Suizid.

Hab Dank, Uwe Post.
Danke ebenfalls an Baddax.
Und Dank auch dir, Cerberus81.

Lebt wohl!


Achtung: Dieses Posting wurde absichtlich ohne sinnlos grinsende Smilies gemacht. Alles klar?


Diese Geschichte hier wäre für einen fortgeschrittener Schreiber ziemlich gut.
Für deine Verhältnisse ist sie leider gerade eben noch Durchschnitt.
Immerhin, ein Kompliment.

Ja, was soll ich sagen? Du findest sie Scheiße. Die beiden anderen, die ehrenwerten Nörgler Baddax und Uwe Post finden die Scheiße nicht ganz so schlimm.

Ich kann damit leben.

Du liegst soweit richtig, dass meine drei Szenarien in meinem Kopf wohl weitaus ausgeprägter, plausibler waren, ich jedoch nicht in der Lage war, diese schriftlich festzuhalten.

Ich jedenfalls fand die Idee supertoll, und wenn sie gescheitert ist... okay.

Nicht böse sein, ihr drei wenigen, ihr mutigen Söldner der SciFi-Sparte.

Grüße aus L.E.

Poncher


Und nein, ich werd sie wohl nicht überarbeiten. Schreiberisch hänge ich seit Monaten in einem Loch, und da bin ich froh, überhaupt was zustande gebracht zu haben. Klingt wie eine Entschuldigung? Entschuldigung!

 

Hallo Poncher,

ich fand die Geschichte interessant. Es stimmt schon, dass sich einige logische Löcher darin befinden, aber ich fand sie nicht so schlimm. Die Idee mit der Gefängnisinsel hat mir sehr gut gefallen und auch, dass die anderen Menschen schon ausgestorben sind, während die Gefangenen weiterleben.

Da vieles schon erwähnt wurde, schreibe ich hier noch zusätzich einige Dinge auf, die mir aufgefallen sind:

Poncher schrieb:
Es ist keine drei Stunden her, da ist der alte Gansler in seiner Hütte zusammengebrochen.
Mir würde besser gefallen: "dass der alte Gansler in seiner Hütte zusammengebrochen ist."

Poncher schrieb:
Leben sollten dort diejenigen, die schon immer alle Priviliegien der Gesellschaft erhielten.
Privilegien. Ich schätze mal, das war nur ein Tippfehler

Poncher schrieb:
Der Satellit, der uns überwacht, alles aufzeichnet, was wir tun, und was wir nicht tun.
Den letzten Teil des Satzes kannst du meiner Meinung nach streichen.

Poncher schrieb:
Unnormal ist allerdings die Tatsache,
"Unnormal" finde ich nicht gut. Besser wäre: "Nicht normal" oder "ungewöhnlich".

Poncher schrieb:
dass ich mich an Einzelheiten meines Traums erinnern kann. In meinem Traum saß ich im 'Capitol', einem Kino mit gut eintausend Sitzplätzen,
Das zweite Mal "Traum" ist eigentlich unnötig. Ich wäre für etwas wie: "Ich saß im Capitol ..." Der Leser sollte sich eigentlich denken können, dass nun der Traum beschrieben wird.

Poncher schrieb:
Dadurch ist das ganze Transportunterfangen der Erde auf einem Stand wie vor fünfzig Jahren."
Transportunterfangen finde ich nicht gut. Ich bin für Transportsystem oder Transportnetz.

Poncher schrieb:
Predigt Nächstenliebe?
Tut mir leid, aber mit diesem Satz kann ich mich einfach nicht anfreunden.

Poncher schrieb:
Ich bin ein Automat. Ich bin eine Maschine und folge der Rationalität.
Zwei Mal "ich" kannst du dir hier sparen: "Ich bin ein Automat, eine Maschine und ..." Oder lass den Satz mit dem Automaten ganz weg.

Außerdem sind mir ziemlich viele Kommafehler aufgefallen.

Im Großen und Ganzen finde ich die Geschichte nicht schlecht, allerdings besteht ein bisschen Verbesserungsbedarf. Die Idee ist gut, die Geschichte ist unterhaltsam und spannend. Wenn du die Verbesserungsvorschläge teilweise umsetzt, macht das die Geschichte noch besser.

Gruß

Cuchulainn

 

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