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Augen an der Wand
Nach dem fünfhundertsten Mal hatte er aufgehört, ihren Namen mit den Augen an die Wand zu schreiben. Er hatte sich geschworen, nach dem fünfhundertsten Mal aufzuhören, und nun war das fünfhundertste Mal vorüber und er hatte aufgehört.
Er schrieb nicht länger mit den Augen ihren Namen an die Wand.
Sein eigener Name war Donald. Das machte ihm nichts. Nicht mehr, zumindest. Es gab ja auch keine Schulkinder mehr, die mit dem Finger auf ihn zeigten und ihn lachend mit einer Zeichentrickente verglichen. Allerdings nicht so sehr deswegen. Eigentlich war es ihm gleichgültig, womit er verglichen wurde.
War er eben eine Zeichentrickente. Es war ihm egal. Er hatte aufgehört, mit den Augen ihren Namen an die Wand zu schreiben.
Draußen war Hundekläffen und das Gebrüll einiger Männer zu hören. Die Sonne schien nicht mehr so stark wie noch vor ein paar Stunden, was chronologisch nur Sinn machte.
Er bekam Angst, ihren Namen zu vergessen, wenn er ihn nicht mehr an die Wand schrieb. Aber er hatte sich geschworen, aufzuhören, und was ein Mann schwor, das musste gehalten werden.
Er flüsterte ihn, ihren Namen. Einfach so, in die Leere des Raumes hinein. Er war fast enttäuscht, dass sie ihm nichts antwortete, die Leere.
Ohne es wirklich vorgehabt zu haben, wälzte er sich auf seiner Pritsche hin und her, richtete sich auf, nur um sich gleich wieder auf die dünne Matratze mit den quietschenden Metallfedern sacken zu lassen.
Das Leben war traurig. Traurig und öde. Ihm schien es, als existierten nur er, dieser Raum und die Leere, die sie beide miteinander verband. Gut, da war noch das Draußen und die ganzen Menschen in ihm. Wie sie daher schlurften, miteinander tratschten, Bälle warfen, Kniebeugen machten, einander beschimpften oder gemeinsam lachten. Aber das alles spielte sich außerhalb seiner Welt ab. Seine Welt bestand aus ihm, diesem Raum und der Leere.
Der Gedanke, dass das alles gar nicht hätte sein müssen, spendete wenig Trost. Eigentlich erreichte er eher das Gegenteil, weshalb er ihn ebenso schnell wieder verwarf, wie er ihm gekommen war. Dieser Vorgang hatte sich während der letzten Stunden, Tage, Wochen und Monate im Abstand von je wenigen Minuten stetig wiederholt.
Mit dem Unterschied, dass er nun endlich aufgehört hatte, mit den Augen ihren Namen an die Wand zu schreiben.
Er erhob sich von der Pritsche, tat einen großen Schritt zum Fenster hin und stützte die Ellebogen auf. Die Vorgänge draußen kümmerten ihn nicht, sie zu beobachten bot sich aber als willkommene Zerstreuung an. Seine Augen wanderten von Ambrose, dem alten Fettsack, der im Moment mal wieder an seinen gelblichen Fingernägeln kaute, zu Wesley, dem kindgebliebenen Pausenclown, verharrten eine Weile auf Officer Danbridge und kehrten schließlich zu Ambrose zurück. Er musste lächeln, als ihm klar wurde, dass all diese Menschen dieselbe Leere verband wie ihn und diesen Raum. Er musste immer lächeln, wenn ihm dies klar wurde. Alle 30 Minuten, wenn er wieder ans Fenster schlich, um hinaus zu blicken und nachzudenken.
Es überkam ihn die Verlockung, mit den Augen ihren Namen an die Wand zu schreiben. Sie war heiß und duftete. Er widerstand ihr nur mit Mühe. Das durfte ein Mann nicht tun – der Verlockung nachgeben. Jesus hatte es nicht getan und er würde es auch nicht tun.
500 war eine schöne runde Zahl. Würde er es ein fünfhunderterstes Mal tun, müsste er es vierhundertneunundneunzig weitere Male tun, um wieder zu einer so schönen runden Zahl zu gelangen. Und er wusste nicht, ob seine Zeit dafür reichte.
Also widerstand er der Verlockung. Er war schließlich ein Mann, keine Zeichentrickente.
„Donald!“, rief es hinter ihm. Die Stimme konnte von Billy, Andrew oder Parker stammen. Die drei klangen so verflucht gleich. Viele Stimmen klangen gleich an diesem Ort. Eigentlich alle.
Auch das wurde ihm jeden Tag aufs Neue klar. Obwohl er die Erkenntniss des vorigen Tages nie wirklich vergaß. Merkwürdig. Es war wirklich ein merkwürdiger, leerer Ort.
„Donald!“, rief Billy, Andrew oder Parker erneut. „Es ist Zeit, Bruder.“
Er ignorierte ihn. Das machte er jeden Tag. Es war nur ein Spaß, das wusste er. Ein dummer Streich von einem dummen Kerl, der nie aus dem Alter für dumme Streiche heraus gewachsen war. Vielleicht war er sogar eines der Kinder gewesen, die ihn früher immer mit Donald Duck gehänselt hatten.
Er ignorierte ihn, wie er ihn jeden Tag ignorierte. Und wie jeden Tag trollte sich Billy, Andrew oder Parker nach ein paar Augenblicken wieder, mürrisch etwas wie „Ach, fick’ dich doch...“ murmelnd.
Es gab Zeiten, da hätte er ohne zu Zögern „Fick’ dich doch selber!“ hinterher geschrien. Das waren dieselben Zeiten gewesen, in denen er die Kinder, die ihn kichernd mit der Zeichentrickente verglichen, mit einem großen Stein blutig geschlagen hatte. Er konnte sich noch genau an diesen Stein erinnern, obwohl er ihm vor langer Zeit weg genommen wurde. Es war ein schmutziger, kantiger, kalter Stein gewesen. Aber groß, groß und hart. Hart genug.
Diese Zeiten waren lange vorbei. Es gab sie nicht mehr. Die Vergangenheit ist nicht, wie viele Menschen glauben, ein der Gegenwart gleichwertiges Zeitstadium. Die Gegenwart existiert, die Vergangenheit tut es nicht. Sie ist passé, wird abgestempelt und weggeheftet. Auch das wurde ihm Tag für Tag aufs Neue klar.
Das Verlangen nach ihrem Namen an der Wand wurde größer. Jedes Mal, wenn er es für einen kurzen Augenblick nieder gerungen hatte, kehrte es gestärkt zurück und ließ ihm keine Ruhe.
Er kannte den Grund für das Vorhandensein dieses Verlangens. Er hatte Angst. Angst, ihren Namen zu vergessen, wenn er ihn nicht ständig an die Wand schrieb. Wenn er doch bloß einen Stift, ein Stück Kreide oder zumindest lange Fingernägel gehabt hätte, mit denen er ihren Namen dauerhaft machen konnte. Die Schrift seiner Augen war blass und zittrig. Sie verschwand nach einer Zeit, wie Tinte im Regen. Er musste ihren Namen ständig aufs Neue an die Wand schreiben, damit er dort stehen blieb und er ihn nicht vergaß.
Doch nun hatte er es fünfhundert Mal getan und musste aufhören.
Er musste lernen, mit der Angst vor dem Vergessen zu leben. Sobald er ihren Namen vergessen hatte, war er Vergangenheit und damit das letzte Stück von ihr. Sie war Vergangenheit. Alles an, in und mit ihr. Er würde sie abstempeln und wegheften können. Wie alles vergangene.
Und doch stand er dort am Fenster und kämpfte mit dem Verlangen, mit den Augen ihren Namen an die Wand zu schreiben. Es war stark. Stärker als er und das wusste er. Das hatte er von Anfang an gewusst. Der Gedanke beruhigte ihn, wie er ihn jeden Tag beruhigte. Er musste gar keine Angst haben, ihren Namen zu vergessen, weil er dem Drang ohnehin nicht widerstehen können und ihren Namen ein fünfhunderterstes Mal an die Wand schreiben würde.
Nun, da die Angst fort war, überkam ihn Ekel. Ekel vor sich selbst, vor seiner Schwäche. War es nicht erbärmlich? Er vermochte nicht einmal der Verlockung zu widerstehen, mit den Augen einen Namen an die Wand zu schreiben. Wenn er schon dessen nicht fähig war, wie vielen anderen Verlockungen würde er dann erliegen? Kein Mann war so schwach. Nur eine Zeichentrickente war das.
Er wand sich vom Fenster ab und begann, im Kreis zu gehen. Er hätte auch die vier Ecken des Raumes nacheinander abgehen können, aber er mochte Kreise lieber als Quadrate.
Als er seine vierte Runde beendet hatte, kam er wieder ins Grübeln. Fünfhundert Mal hatte er dem Drang nachgegeben. Fünfhundert Mal ihren Namen an die Wand geschrieben. Fünfhundert Mal, und ihr Name wollte immer noch nicht stehen bleiben.
So verlief sein Leben jeden Tag. Jeden Tag... jeden Tag war es das fünfhundertste Mal. Er war noch nie ein Freund von Prozessen gewesen. Er wollte das Resultat herbei führen, so schnell es geht.
Also beschäftigte er sich jeden Tag mit dem Dilemma, das fünfhunderterste Mal zuzulassen oder nicht. Wie viele Male es tatsächlich waren, wusste er nicht. Er wusste nur, dass er schon sehr viel länger als fünfhundert Tage in diesem Raum war.
„Donald!“, rief es zum zweiten Mal an diesem Tag. Die Stimme klang anders als die von Billy, Andrew oder Parker.
„Es ist Zeit, Kerl!“
Und er wusste, dass es nun Zeit war.
Er drehte sich langsam um und blickte durch die Gitterstäbe hindurch auf die drei Männer, die sich vor seiner Zelle versammelt hatten, die Hände auf den Gurten ruhend.
„Das ist er...“, flüstere der ganz rechte, dessen Namen und Gesicht er nicht kannte.
„Seine Frau hat er auf dem Gewissen, die Mistsau.“
Offenbar dachte der Wärter, er würde sein Flüstern nicht hören. Dabei hatte er schon immer ausgezeichnete Ohren gehabt.
„Der? Bist du sicher?“, flüsterte der ganz linke zurück.
„Ja, verdammt. Hat sie mit ’nem Stein erschlagen. Kannst du dir das vorstellen? Den Schädel zermatscht hat er ihr! Der Hurensohn.“
Der in der Mitte war Officer Danbridge, den er vorhin noch auf dem Gefängnishof hatte Wache schieben sehen. Er blieb stumm.
Der ganz rechte trat schließlich vor und bedeutete ihm, von der Zellentür zurückzutreten. Er tat es und das Schloss wurde geöffnet.
„Na los, raus mit dir.“, zischte der Wärter. „’s ist Zeit!“
Er trat heraus und ließ sich von dem ganz linken und dem ganz rechten an den Oberarmen packen. Sie legten ihm Hand- und Fußschellen an und zerrten ihn den Gang hinab. Officer Danbridge ging voran und blieb stumm.
Auf seinem letzten Spaziergang kam er an einer sehr schönen Wand vorbei. Ein fetter grüner Streifen, auf dem die Nummer des Zellenblocks vermerkt war, zierte sie. Er schrieb ihren Namen nicht darauf. Er hatte sich geschworen, nach dem fünfhundertsten Mal aufzuhören und nun war das fünfhundertste Mal vorüber und er hatte aufgehört.