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- 26.10.2005
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Augen auf!
Die Baumwipfel waren kaum mehr als dunkle Schemen in der sternenlosen Nacht. Der aufkommende Sturm bedrängte sie so, dass der Wald vom Geräusch brechenden Holzes und dem knarrenden Protest der Bäume gegen diese Behandlung erfüllt war. Eine Vorahnung des nahenden Regens lag in der Luft, während der Horizont bereits von gelegentlichen Blitzen gespenstisch erleuchtet wurde.
Eben dieses seltene Licht erlaubte es das fahle Gesicht zu erkennen, das seltsam ruhig und unbeteiligt der zerstörerischen Macht des Sturmes trotze. Geschlossene Augen und entspannte Gesichtszüge zeugten von Gelassenheit und Frieden. In ruhigem, gleichmäßigem Rhythmus bewegte sich der Brustkorb als einziges Anzeichen für Leben.
Das Gesicht war merkwürdig aufgequollen und plump erschien der ruhende Körper. Ein deutlich zu erkennender Bauch zeichnete sich unter dem dünnen Hemd ab und die unförmigen Beine steckten in einer viel zu kurzen Hose. Die bloßen Füße ruhten sicher auf dem Waldboden zwischen Eicheln und braunem Laub und ein kleiner blau schimmernder Käfer versuchte sich zwischen den kurzen Zehen vor dem Unwetter in Sicherheit zu bringen.
Der immer kälter werdende Wind blies über die erstaunlich dünnen Arme und richtete einzelne Härchen auf doch die Gestalt verharrte weiter reglos sitzend auf einem morschen, feuchten Baumstumpf.
Wie er so da saß (zweifellos war die Gestalt männlich) hätte man ihn für den Nachbarn aus dem dritten Stock halten können, der immer freundlich grüßte bevor er bis zur nächsten Zufallsbegegnung aus dem Gedächtnis verschwand. Vielleicht hätte er auch der Busfahrer sein können, den man immer nur dann wahrnahm, wenn man ihm nach einem zu scharfen Bremsen einen bösen Blick zuwarf. Aber nein, etwas war seltsam an ihm. Die Proportionen schienen nicht richtig, oder waren die Umrisse verschwommen? Immer wenn man glaubte den Unterschied endlich fassen und in Worte verpacken zu können, entwand er sich wieder und verflüchtigte sich im Dunkel der Nacht.
Aus diesem Dunkel drang nun hier und da ein vereinzeltes Platschen hervor. Erst noch zögerlich und kaum in der Lage gegen die brachiale Gewalt des Sturms anzukämpfen, doch binnen weniger Augenblicke wurde aus den vereinzelten Stimmen ein unüberhörbarer mehrstimmiger Chor. Schwere Tropfen durchbrachen das Blattwerk um schließlich auf dem dunklen Grund zu zersplittern. Schon bildeten sich kleine Bäche, die altes Laub, Zweige und Sand mit sich nahmen und langsam über den Waldboden krochen. Wasser tropfte von Blatt zu Blatt, strömte die Baumstämme herab. Die nasse Kälte kroch in jeden Winkel, durchdrang selbst wärmende Kleidung und ließ diese wie von Kleister durchtränkt an der Haut kleben.
Und auch die fahle Gestalt blieb nicht verschont. Und doch…die Regentropfen schienen fast langsamer zu fließen, als umschmeichelten sie sein Kopf, bogen sanft das schüttere Haupthaar, strichen zärtlich über den Hals und flossen vorsichtig den Körper hinab um sich, bei den Füßen angekommen, fast widerwillig mit den kleinen Bächen am Waldboden zu vereinen. Ein merkwürdiger Anblick – obwohl, immer wenn man sein Augenmerk genauer auf das anscheinend Sonderbare konzentrierte, wirkte alles völlig normal.
Plötzlich eine Bewegung. Langsam neigte sich der Kopf so als würde der Mann in den Wald hinein lauschen. Was er hörte schien ihm zu gefallen, denn auf seinem Gesicht zeichnete sich ein zufriedenes, ja fast seliges, Lächeln ab. Ein jeder der schon einmal erlebt hat, wie ein ehrliches unverhofftes Lächeln ein Gesicht erobert und es in warmes sinnliches Licht taucht, kann sich vorstellen wie von Ehrfurcht erfüllt der Regen zurückwich und mit aller ihm möglichen Vorsicht versuchte, diese natürliche Schönheit nicht zu stören. Wie von einer Schützenden Glocke umgeben, saß der junge Mann inmitten des wütenden Herbststurms und nicht ein Regentropfen, nicht ein vom Wind getriebenes Blatt ja nicht einmal ein Windhauch selber wagte es ihn in seiner Ruhe zu stören.
Weiter horchte er mit geschlossenen Augen auf Worte die nur er wahrnahm. Dann streckte er langsam die linke Hand aus, spreizte die Finger und berührte den Waldboden. Leicht war die Berührung und das feuchte Erdreich schien fast sehnsüchtig auf diesen Moment gewartet zu haben, denn nur unwillig gab es die Hand wieder frei, als diese vorsichtig emporgehoben wurde und schließlich ungefähr einen Meter über dem Boden verharrte. Nun wurde auch sie von dem warmen Leuchten umgeben, das eben noch allein auf das Gesicht des seltsamen Mannes beschränkt war.
Das Licht zeigte seine Wirkung – wenn auch zuerst sehr unscheinbar: Vorsichtig regte sich der kleine Käfer zwischen den Zehen der Gestalt und kroch hervor. Mit den Fühlern tastend krabbelte er immer lebhafter über das von der Hand erhellte Laub. Die Wärme belebte nicht nur den Käfer, sondern auch die Erde selber. Der außerhalb der schützenden Glocke noch immer niederprasselnde Regen stieg unter der Licht spendenden Hand als weißer Dunst auf. Der Duft von frischer Erde, von Wald und neuem Leben erfüllte die Luft. Selbst die ansonsten reglose Gestalt sog mit noch immer seligem Lächeln die Luft in sich auf. Kurz zitterten die Lider der Augen, doch blieben sie weiterhin geschlossen.
Selbst als das Laub zu seinen Füßen leise raschelte und sogar ohne erkennbaren Grund in Bewegung geriet, verharrte der junge Mann weiter mit geschlossenen Augen.
Und schließlich konnte man erkennen, was das längst tote Laub dazu brachte zum Leben zu erwachen, denn langsam und vorsichtig lugten kleine hellgrüne Spitzen hervor. Die Bewegung war langsam, doch nicht zu übersehen – die welken braunen Blätter der vergangenen Jahre wurden beiseite geschoben und die Spitzen wuchsen und entfalteten sich bis man deutlich erkennen konnte, dass sich dort kleine Pflänzchen den Weg freikämpften und dem warmen Licht entgegenstrebten. Immer weiter wuchsen sie der ruhenden Hand entgegen. Behaglich schienen sie in Wärme und Licht zu baden und schon konnte man den Ansatz erster Blüten erahnen. Zartes unschuldiges Weiß umgeben von sattem Grün.
Immer mehr der zarten Blüten zeigten sich und verspotteten den in geringer Entfernung wütenden Herbststurm.
Plötzlich zitterte die ausgestreckte Hand und das Leuchten, das sie umgab verschwand. Die Schneeglöckchen, ihrer Sonne beraubt, verschwanden, als wären sie nie da gewesen und dann geschah es: Das Gesicht des Mannes erbebte, der Mund vergaß sein Lächeln und öffnete sich um ein überraschtes, unartikuliertes Geräusch auszustoßen und selbst die Augenlider öffneten sich. Erst nur einen klitzekleinen Spalt doch dann Wurden sie ganz aufgerissen und starrten verwirrt und überrascht in die Dunkelheit des herbstlichen Waldes. Regen und Sturm wüteten nun wieder respektlos und ungehindert und warfen sich dem benommenen Mann ins Gesicht.
Sein nasses Haar hing jetzt strähnig ins Gesicht, das Hemd klebte unangenehm an der Haut und Kälte färbte die Wangen rot.
Orientierungslos blickten die mandelförmigen blassblauen Augen in die Umgebung, schließlich erhob sich der junge Mann plump von dem morschen Baumstumpf.
Humpelnd und Unverständliches murmelnd verschwand er in der Dunkelheit.
Ein grauenvoller Morgen! Niemand sollte sein Bett verlassen müssen solange es draußen noch dunkel ist. Auch noch dieser schreckliche kalte Regen. Hamburg im Herbst. Und trotzdem hasten Menschen aus den Häusern, die Straße hinunter um dann von einem Bein aufs andere tretend auf den Bus zu warten. Und der ist dann auch noch überfüllt!
Ah selbstverständlich auch fürchterlich überheizt. Sicher die Brille beschlägt und man sieht nichts mehr, dafür riecht man umso mehr. Schön es gab gestern Abend also Knoblauch. Hm na ja Vielleicht mal ein Deo benutzen oder doch lieber waschen? Die Ärmel des Hemdes sind nass, hoffentlich nur Regenwasser! Was ist denn das für ein Krach da vorne? Die Mongoloiden schreien sich wieder gegenseitig an. Warum können die eigentlich nicht leise reden? Haltet einfach mal die Schnauze! Aber das darf man ja nicht sagen, sind ja Behinderte. HMPF! Endlich da. Und nun raus hier. Jetzt drängelt der fette Kerl sich tatsächlich noch vor. Man könnte ihn ja zufällig anrempeln. Oh war das zu doll? Er dreht er sich um … wahrscheinlich schreit er gleich nach Mama. Hm wieso guckt er jetzt so blöd? Und diese merkwürdigen Augen...Ach einer von denen… Hellblaue Schlitzaugen, irgendwie merkwürdig. Weiter jetzt! Noch 3 Minuten dann fährt die Bahn. Und heute ist erst Dienstag!