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Augen wie Glas
Sie liegt auf dem Bett, als er das Zimmer betritt, eine Hand hat sie gegen die Schläfe gestützt.
„Sorry, kannst du mal gerade…?“
Sie unterbricht ihn jäh. „Nein, das kann ich nicht! Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin!“ Sie deckt den Hörer des Telefons mit einer Hand ab, ihre Augen glänzen. Das tun sie sonst nur, wenn sie wütend ist.
„Aber…“
Sie lässt ihn nicht ausreden. „Du nervst! Kannst du mich nicht mal eine Minute lang in Ruhe lassen?“
„Ja, ich hab dich auch lieb.“ Sein Herz verengt sich, als würde sich eine Hand darum krampfen, er lächelt ihr zu, hofft, dass sie dann nicht mehr wütend ist. Aber ihre Augen glänzen immer noch.
Irgendwie macht der Streit ihm Angst, als er auf seinem Bett liegt und an die Decke starrt. Das Poster über ihm, der schwarze Drache vorm blitzdurchzuckten Himmel, hängt nur noch an drei Nägeln an der Schräge.
Was ist mit ihr? Warum ist sie wütend auf ihn? Hätte er anklopfen sollen?
Vielleicht hat sie gerade mit ihrem Freund telefoniert. Er mag ihn nicht, er ist immer so großspurig und tut selbstsicher, wenn er mit ihr zusammen ist. Aber hinter der Fassade lauert ein Abgrund, so tief, dass sie hineinstürzen könnte und ihr Lachen nie wieder zum Vorschein kommt.
Er fragt sich, ob sie den Abgrund nicht sieht, oder ob sie ihn nicht sehen will. Die Regentropfen fallen am Fenster vorbei, eine Stubenfliege summt gegen die Scheibe. Es ist Herbst. Sein Schädel fühlt sich an, als würde eine Schlagzeuger-Selbsthilfegruppe die Apokalypse generalproben.
Die Blätter fallen zu Boden, wie vielleicht die Tränen zu Boden fallen, die sie weint, wenn sie wütend ist. Aber wahrscheinlich sind die Tränen schneller, sie gleiten nicht sanft, sondern zerplatzen in einem Wimpernschlag. Sie weint eigentlich nur, wenn sie wütend ist, niemals aus Schmerz oder aus Traurigkeit.
Wenn sie traurig ist, dann wird ihr Gesicht steinhart, wie die alte Marienstatue in der Petrikirche. Aber die ist nicht wütend. Auf ihrem Gesicht ist ein Lächeln eingemeißelt, das niemals verschwinden wird, nur eine Kathastrophe könnte es auslöschen.
Bei Anna ist das anders. Wenn sie traurig ist, dann friert alles ein. Ihr Gesicht wird reglos, in ihren Augen flackert etwas. Wenn sie wütend ist, dann gräbt sich eine steile Falte zwischen ihre Augenbrauen und bleibt dort, als wäre ihr Kopf der einer Statue, mit jedem Haar, jeder Falte und jeder Pore, festgehalten auf dem Stein ihrer Haut. Er kann sie dann manchmal berühren, vielleicht ihren Rücken streicheln, das Eis zum Schmelzen bringen, aber geweint hat sie noch nie, wenn sie traurig war, nur ihre Augen haben dann geglänzt.
Sie hat es bestimmt nicht so gemeint.
Sie weint nur, wenn sie wütend ist. Wenn sie traurig ist, dann sind sie gefangen, die Tränen, hinter einem Schirm aus Glas.
Er steht auf, dreht die Musik lauter, Klassik. Als er sich die Nase putzen will, bemerkt er, dass er weint.
Sie hat es nicht so gemeint.
Ganz sicher nicht.
Sie meint es nie so.
Er schnäuzt sich in das Taschentuch, wischt die Tränen von seinen Wangen. Schon ist alles wieder, als wäre nie etwas gewesen. Sein Gesicht blickt ihm aus dem Spiegel entgegen, die Augen rot, der Mund verkniffen.
Die Tür geht auf. Anna.
„Hey, entschuldige, dass ich dich eben so angepflaumt habe. Ich hab dir eine Aspirin mitgebracht, du siehst furchtbar aus – die hast du bestimmt gesucht, oder?“ Ihre Augen glänzen nicht mehr als sonst, aber eine helle Spur zieht sich über ihr Gesicht. Sie wischt sie beiläufig mit dem Handrücken weg, stellt ein Glas mit prickelndem Mineralwasser neben ihm auf den Schreibtisch.
Er nimmt die Aspirin aus ihrer Hand, steckt sie in den Mund, spült sie herunter. „Dank dir, Kleines.“ Hat sie geweint? War sie… “Bist du wütend? Oder traurig?“
Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe mit Marcel Schluss gemacht.“
Marcel ist ihr Ex-Freund. Ein Lächeln zieht sich über sein Gesicht, er nimmt sie in den Arm, seine Lippen streifen ihre Stirn. „Ich bin froh, dass es dich gibt, Anna. Dass du da bist und mir sagen kannst, dass ich dir auf die Nerven gehe.“
Sie blickt zu ihm auf, sie ist so klein. Die Spur auf ihrer Wange ist nur noch ganz schwach sichtbar, und nur noch von ganz nahem. Er wischt mit dem Finger darüber.
„Ich beleidige dich gern, wenn es dich glücklich macht, du dummer Kerl“, lacht sie.
Seine Hand zerzaust ihr blondes Haar, sie piekst mit ihren Fingern in seine Seiten, kitzelt ihn, er muss lachen, und beide laufen sie in die Küche.
Wir könnten Pudding machen, denkt er.