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Augen wie Glas

Seniors
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24.08.2003
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Augen wie Glas

Sie liegt auf dem Bett, als er das Zimmer betritt, eine Hand hat sie gegen die Schläfe gestützt.
„Sorry, kannst du mal gerade…?“
Sie unterbricht ihn jäh. „Nein, das kann ich nicht! Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin!“ Sie deckt den Hörer des Telefons mit einer Hand ab, ihre Augen glänzen. Das tun sie sonst nur, wenn sie wütend ist.
„Aber…“
Sie lässt ihn nicht ausreden. „Du nervst! Kannst du mich nicht mal eine Minute lang in Ruhe lassen?“
„Ja, ich hab dich auch lieb.“ Sein Herz verengt sich, als würde sich eine Hand darum krampfen, er lächelt ihr zu, hofft, dass sie dann nicht mehr wütend ist. Aber ihre Augen glänzen immer noch.

Irgendwie macht der Streit ihm Angst, als er auf seinem Bett liegt und an die Decke starrt. Das Poster über ihm, der schwarze Drache vorm blitzdurchzuckten Himmel, hängt nur noch an drei Nägeln an der Schräge.
Was ist mit ihr? Warum ist sie wütend auf ihn? Hätte er anklopfen sollen?
Vielleicht hat sie gerade mit ihrem Freund telefoniert. Er mag ihn nicht, er ist immer so großspurig und tut selbstsicher, wenn er mit ihr zusammen ist. Aber hinter der Fassade lauert ein Abgrund, so tief, dass sie hineinstürzen könnte und ihr Lachen nie wieder zum Vorschein kommt.
Er fragt sich, ob sie den Abgrund nicht sieht, oder ob sie ihn nicht sehen will. Die Regentropfen fallen am Fenster vorbei, eine Stubenfliege summt gegen die Scheibe. Es ist Herbst. Sein Schädel fühlt sich an, als würde eine Schlagzeuger-Selbsthilfegruppe die Apokalypse generalproben.
Die Blätter fallen zu Boden, wie vielleicht die Tränen zu Boden fallen, die sie weint, wenn sie wütend ist. Aber wahrscheinlich sind die Tränen schneller, sie gleiten nicht sanft, sondern zerplatzen in einem Wimpernschlag. Sie weint eigentlich nur, wenn sie wütend ist, niemals aus Schmerz oder aus Traurigkeit.
Wenn sie traurig ist, dann wird ihr Gesicht steinhart, wie die alte Marienstatue in der Petrikirche. Aber die ist nicht wütend. Auf ihrem Gesicht ist ein Lächeln eingemeißelt, das niemals verschwinden wird, nur eine Kathastrophe könnte es auslöschen.
Bei Anna ist das anders. Wenn sie traurig ist, dann friert alles ein. Ihr Gesicht wird reglos, in ihren Augen flackert etwas. Wenn sie wütend ist, dann gräbt sich eine steile Falte zwischen ihre Augenbrauen und bleibt dort, als wäre ihr Kopf der einer Statue, mit jedem Haar, jeder Falte und jeder Pore, festgehalten auf dem Stein ihrer Haut. Er kann sie dann manchmal berühren, vielleicht ihren Rücken streicheln, das Eis zum Schmelzen bringen, aber geweint hat sie noch nie, wenn sie traurig war, nur ihre Augen haben dann geglänzt.
Sie hat es bestimmt nicht so gemeint.
Sie weint nur, wenn sie wütend ist. Wenn sie traurig ist, dann sind sie gefangen, die Tränen, hinter einem Schirm aus Glas.
Er steht auf, dreht die Musik lauter, Klassik. Als er sich die Nase putzen will, bemerkt er, dass er weint.
Sie hat es nicht so gemeint.
Ganz sicher nicht.
Sie meint es nie so.
Er schnäuzt sich in das Taschentuch, wischt die Tränen von seinen Wangen. Schon ist alles wieder, als wäre nie etwas gewesen. Sein Gesicht blickt ihm aus dem Spiegel entgegen, die Augen rot, der Mund verkniffen.
Die Tür geht auf. Anna.
„Hey, entschuldige, dass ich dich eben so angepflaumt habe. Ich hab dir eine Aspirin mitgebracht, du siehst furchtbar aus – die hast du bestimmt gesucht, oder?“ Ihre Augen glänzen nicht mehr als sonst, aber eine helle Spur zieht sich über ihr Gesicht. Sie wischt sie beiläufig mit dem Handrücken weg, stellt ein Glas mit prickelndem Mineralwasser neben ihm auf den Schreibtisch.
Er nimmt die Aspirin aus ihrer Hand, steckt sie in den Mund, spült sie herunter. „Dank dir, Kleines.“ Hat sie geweint? War sie… “Bist du wütend? Oder traurig?“
Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe mit Marcel Schluss gemacht.“
Marcel ist ihr Ex-Freund. Ein Lächeln zieht sich über sein Gesicht, er nimmt sie in den Arm, seine Lippen streifen ihre Stirn. „Ich bin froh, dass es dich gibt, Anna. Dass du da bist und mir sagen kannst, dass ich dir auf die Nerven gehe.“
Sie blickt zu ihm auf, sie ist so klein. Die Spur auf ihrer Wange ist nur noch ganz schwach sichtbar, und nur noch von ganz nahem. Er wischt mit dem Finger darüber.
„Ich beleidige dich gern, wenn es dich glücklich macht, du dummer Kerl“, lacht sie.
Seine Hand zerzaust ihr blondes Haar, sie piekst mit ihren Fingern in seine Seiten, kitzelt ihn, er muss lachen, und beide laufen sie in die Küche.
Wir könnten Pudding machen, denkt er.

 

Hallo vita,
Ich habe gerade überlegt, wer denn der Mann sein könnte, der Anna liebt, obwohl sie einen Freund hat. Ihr Vater? Ihr älterer Bruder?
Ich sehe ihn, als einen Beschützer, der Annna los lassen muss, aber nicht möchte. Der froh über den Aufschub ist, als Anna mit Marcel Schluss gemacht hat. Gerne seiner Tochter, Schwester wieder einen Pudding kochen möchte. Ich sehe eine Melancholie des Abschiedsnehmen, weil Anna erwachsen wird.

Hat mir sehr gefallen.

ein kleiner Fehler ist mir aufgefallen

Marcen ist ihr Ex-Freund.
Marcel


Lieben Gruß
Goldene Dame

 

Hallo Goldene Dame,

danke fürs Lesen und Kritisieren, solche positive Kritk hört man doch immer gern =)

Woran ich bei der Rolle des Mannes gedacht hatte, sage ich nicht, dann können die anderen Leser da schön reininterpretieren. Der aufgeführte Rechtschreibfehler ist berichtigt (dass mein Word den nicht gefunden hat, also wirklich...)

gruß
vita
:bounce:

 

Hi Vita,

ich fand deine Geschichte ebenfalls sehr schön!

Du machst sehr schön klar, wie schwierig es ist jemanden loszulassen - sei es denn als Elternteil, Geschwister, beste Freundin etc.!

Ich habe zwar auch über die Frage nachgegrübelt, wer denn der Mann ist... anfangs war ich auf dem Standpunkt es wäre der Bruder, dann habe ich mich dazu "entschlossen" *g*, dass es ein Kumpel ist und die beiden in einer WG wohnen. So hat es zumindest mir am besten gefallen!!!

Sehr schöne Geschichte!!!!!!

Bella

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo vita,

auch wenn ich die Geschichte in Deinem Text nicht so recht finden kann. Hat mir Deine Beschreibung von Anna sehr gut gefallen. Es ist mehr eine Charakterstudie als eine Geschichte finde ich.

Sprachlich gefällt mir Dein Text sehr gut auch wenn man einige Stellen kürzen könnte z.B. --- ..., außer vielleicht, die Kirche brennt ab" --- das ist meiner Meinung nach an dieser Stelle überflüssig, da der wesentliche Vergleich schon vorher statt gefunden hat und diese weitere Erklärung eine Selbstverständlichkeit darstellt. Es zieht die ernste Szene ein wenig ins humoristische befürchte ich.

Mir hat ein wenig die Aufklärung gefehlt in welcher Beziehung der Mann/Junge zu Anna steht, zumal ich keinen Spannungssteigernden Effekt im Weglassen dieser Info sehen kann. Rein Gefühlsmäßig würde ich auf den Bruder tippen. Die Liebe scheint aber ein wenig über normale Bruderliebe hinauszugehen.

--- „Ich beleidige dich gern, wenn es dich glücklich macht“, lacht sie. „Arschloch!“ ---
In dieser Zeile und den nächsten Zeilen kann man zwar wunderbar den Stimmungsumschwung spüren, jedoch kommt dieses Zitat etwas zu heftig rüber. Den er hat nicht gesagt das sie ihn beleidigen soll und Ihre Sprüche vorher zielten wohl auch nicht darauf ab es zu tun, jedenfalls hab ich das so nicht lesen können. Ich empfand das als kleinen Stilbruch am Ende.

--- Sein Herz verengt sich, er lächelt ihr zu, hofft, dass sie dann nicht mehr wütend ist ---
Hmm, es ist klar was Du damit sagen möchtest, aber wieso verengt sich sein Herz. Wenn er lächelt dann muss er sein Herz doch öffnen, sonst wird das Lächeln seine Wirkung verfehlen. Naja, das hat es ja anscheinend auch getan. ;)

Ansonsten wie gesagt, wirklich schön geschrieben, hat mir gut gefallen. Danke fürs einstellen.

Gruß,
Montecore...

 

Hey Bella,

danke schön, so etwas hört man doch gern! Dazu hab ich eigentlich nichts Innovatives mehr zu sagen...

Hallo Montecore,

Danke fürs einstellen
Jederzeit =)
Die beiden Anmerkungen habe ich geändert. Du kennst das ja, als Autor ist man, was den eigenen Text angeht, auf allen drei Augen blind. Das Arschloch hab ich auch geändert, vielleicht ist das doch etwas zu drastisch.
Danke fürs Lesen und Kritisieren
Die Beziehung zu dem Mann hab ich, wie ja oben schon geschrieben, absichtlich relativ offen gelassen. Allerdings hatte ich beim Schreiben eher einen entfernten Verwandten/Mitbewohner im Kopf - trotzdem bietet die Figur ja genug Interpretationsspielraum.

vita
:bounce:

 

Hallo Vita,
auch mir hat deine Geschichte gut gefallen, sprachlich sowie auch inhaltlich.
Ich hab mir genau wie Bella vorgestellt, das die beiden in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. Allerdings scheint er für sie etwas mehr zu empfinden.
Was hältst du übrigens von dem Titel "Gläserne Augen" anstelle "Glasaugen".
Bei Glasaugen musste ich irgendwie an Glasaugen von Blinden denken.
Nur so eine Idee. :)

LG
Blanca

 

Hallo Blanca,

danke fürs Lesen und Kritisieren - ich sitz gerade in der Schule, Informatik, und außer meinem PC läuft noch nichts ;) deshalb hab ich gerade ein bisschen Zeit, also - danke dir! Sowas hört man gern...

Das mit der Titel-Änderung halte ich für eine gute Idee. Wenn einer der Mods hier mal reinliest, dann kann er das ja machen =)

gruß
vita
:bounce:

 

Augen wie Glas, finde ich passend :)

Glasaugen fand ich auch nicht so schön.
Goldene Dame

 

Hallo vita!

Mir ist noch ein kleiner Fehler aufgefallen:

Sie unterbricht ihn jäh. „Nein, das kann ich nicht! Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin!“ Sie deckt den Hörer des Telefons mit einer Hand ab, ihre Augen glänzen. Das tun sie sonst nur, wenn sie wütend ist ist.

Das war ein netter auschnitt aus dem Leben zweier ... ja, wie stehen denn jetzt die beiden zueinander? Zuerst habe ich vermutet es sei ein Quasi-Freund, aber würde der gleich anfangen zu weinen, nur weil sie sagt "du nervst"? Immerhin lächelt er, als er erfährt, dass sie mit Marcel Schluss gemacht hat.

Auf der anderen Seite ist da der Größenunterschied zwischen den beiden auf den du am Ende hinweist, der eher auf Verwandschaft schließen lässt. Wahrscheinlich hast du es einfach absichtlich sehr vage gelassen ... :)

Sind die religiösen Bilder (Apokalypse, Marienstatue) eigentlich absichtlich eingeflossen? Es scheint nur eine gewöhnliche Gewitternacht im Herbst zu sein, aber das Regnen, Donnern & Blitzen (Das Plakat, die Kopfschmerzen, der Regen draußen, das Weinen) zieht sich durch den Text ...

LG
Yaso

 

Hallo Yaso,
danke fürs Raussuchen des Tippfehlers, den werde ich gleich mal verbessern gehen.
Ich habe die Beziehung der beiden Figuren zueinander absichtlich im Dunkeln gelassen. Es ist besser, wenn jeder Leser sich selbst ein Bild machen kann, finde ich jedenfalls. Wenn ich irgendetwas Definitives hinschreibe, kann die Geschichte dadurch nur gewinnen.
Ich habe die religiösen Motive hauptsächlich deshalb eingebaut, weil ich fand, dass sie passten. Vielleicht ist der Protagonist ja ein religiöser Mensch? Und das Gewitter existiert wegen der Allmacht der Autorin, um die Stimmung des Prot zu unterstreichen ;)

Danke, dass du den Text gelesen hast und dass er dir gefallen zu haben scheint.

gruß
vita
:bounce:

 

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