Mitglied
- Beitritt
- 04.04.2006
- Beiträge
- 18
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Augenblick
Neulich passierte mir etwas Merkwürdiges. Eigentlich von der Grundsituation nichts, dass irgendwie großartig oder sonderlich interessant wäre, und doch lässt mich dieser kurze Augenblick in dem es geschah, seitdem nicht mehr los. Verfolgt mich. Lässt mich erschaudern und macht mich traurig.
Aber ich wollte ja davon erzählen.
Also, neulich, es mag ungefähr eine Woche her sein, ging ich über die Einkaufsstraße in der kleinen Stadt, in der der ich wohne. Da kam mir jemand entgegen. Jemand, zu dem ich vor ein paar Jahren engen Kontakt hatte. Nein, keine alte Liebschaft, einfach nur eine alte Freundin. Heute weiß ich, dass es ungefähr drei Jahre waren, die zwischen dieser und unserer letzten Begegnung lagen. Beinahe hätte ich sie auch nicht erkannt, sie hatte sich verändert. War größer geworden. Älter eben. Sogar geschminkt war sie. Aber wenn man jung ist, verändert man sich eben stark.
Dennoch, auch wenn sich unsere Körper nur für einen kurzen Augenblick auf der gleichen Höhe befanden und auch sie wohl kurz überlegen musste, sah ich, dass sie mich anlächelte und ihre Lippen ein stummes „Hallo“ formten. Ich grüßte auf ebenso stumme Weise zurück und erwiderte ihr Lächeln. Ich glaube, weiter wäre auch nichts passiert, hätte ich nicht mit meinem Blick ihre Augen gesucht. Eigentlich finde ich die Vergleiche zum Ozean bei blauen Augen sehr albern und vor allem auch schrecklich kitschig, aber für das Blau ihrer Augen fällt mir auch nichts Besseres ein. Wahrscheinlich hätte ich, wie im Meer, darin versinken können, doch das, was ich in ihren Augen sah, hielt mich zurück. Wenn auch ihr Mund im genau selben Moment lächelte, ihre Augen taten es nicht. Traurigkeit lag in ihnen, gepaart mit Angst.
Heute grüble ich ständig darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich meine Augen in diesem Augenblick abgewandt hätte. Aber ich habe es nicht getan, und jetzt kann ich auch nicht mehr ändern, was dann passierte.
Mit einem Mal wurde ich in ihre Augen gezogen. Natürlich nicht wirklich, selbstverständlich verließ mein Körper den Bürgersteig nicht, und doch kam es mir so vor. Für den Bruchteil eines Atemzugs, nicht länger als für die Dauer eines Wimpernschlages, blickte ich auf eine völlig fremde Welt, eine bizarre, dunkle und beängstigende Welt hinab. So, als wäre ich ein Teil des Himmels. Was ich in diesem kurzen Moment sah, erschreckte mich sehr. Fassungslos starrte ich auf die Einöde unter mir, die Überreste einer Welt, die einmal wunderbar gewesen sein musste. Fragmente dieser Schönheit ließen sich noch erkennen, ein buntes Karussell, eine weite Wiese. Doch das Karussell drehte sich nicht mehr, es hatte dies wohl auch schon lange nicht mehr getan. Und die Wiese – nur noch wenige Stellen des Grases sahen wie solches aus. Unter einer Gruppe von blattlosen Bäumen, den weißen Stämmen nach mussten es Birken sein, hatten einige weiße Pferde Schutz gesucht. Irgendwo sah ich einen Teddybären, der verloren wirkte. All dies sah im dunklen, noch mit Nebel verschleierten, Licht sehr geisterhaft aus. Auch bemerkte ich, dass es keine Lichtquelle gab. Alles schien von sich aus zu leuchten, aber das Licht war nicht hell und freundlich, sondern strahlte eine matte Kälte aus.
Mein Blickwinkel änderte sich, und ich sah eine Reihe von merkwürdigen Wesen, die wie ein Rudel Wölfe um etwas herumschlichen. Ich konnte nicht sofort ausmachen, was sie sich als Beute auserkoren hatten. Aber es musste sich um Beute handeln, denn die Wesen sahen nicht so aus, als wären sie je mit etwas anderem beschäftigt als der Jagd. ‚Als ob sich alle Dämonen der Hölle, alle bösen Gestalten aus den Geschichten, die wir uns immer erzählt hatten, hier versammelt hatten’, dachte ich. Sie machten mir Angst und ich war froh, so weit weg zu sein. Dann löste sich die Schar ein wenig, vergrößerte die Bahn ihres Kreises und ich konnte sehen, wer in ihrer Mitte stand. Sie. Blass, in ein weißes Kleid gekleidet, hatte sie die Arme um sich geschlungen. An ihrem Rücken sah ich ihre Flügel – doch es waren nicht mehr die, die ich früher an ihr gesehen hatte. Nicht mehr schillernd bunt und leuchtend, bereit sie überall hinzutragen. Nur noch grau, mit vielen Rissen und fehlenden Stücken, die wie klaffende Wunden wirkten. Diese Flügel trugen nicht mehr.
Sie sah hinauf. Ob zu mir, weiß ich nicht. Vielleicht sah sie mich sogar. Aber der Ausdruck der Angst in ihrem Gesicht, den ich sah, ließ mich ihren Namen schreien. Verzweifelt streckte ich die Arme aus und mühte mich, zu ihr zu gelangen, ihren Arm zu nehmen und sie weg zu ziehen, sie zu retten, doch statt dessen wurde ich hinfort gezogen und fand mich wieder auf der Straße im Sonnenschein.
Sie hatte ihre Schritte fortgesetzt und ich die meinen. Ich drehte mich um, aber sie tat es nicht. Unsere Blicke hatten sich getrennt. Ich ging nach Hause und dachte darüber nach. War alles Einbildung gewesen? Mein Gefühl schrie laut: „Nein, du hast gesehen, dass sie traurig war, du hast es gespürt!“ Und mein Gefühl hat Recht. Und doch, ich habe ihr nicht helfen können. Der Augenblick war zu kurz.
Ich versuche nun, Nacht für Nacht, sie zu finden, breite allabendlich auf der Suche nach ihr meine Flügel aus. Ich habe keine Telefonnummer, keine Emailadresse, nichts, mit dem ich sie sonst erreichen könnte. Aber jeder Mensch hat seine Flügel. Sie sind nicht immer und für jeden sichtbar. Da sind sie. Und vielleicht sucht sie mich auch.