Auktion auf Holländisch
Es war bereits dunkel als er sich vorsichtig auf dem Steinplattenweg der Haustür näherte. Ein Blick auf die Klingelschilder bestätigte, dass er die richtige Adresse gefunden hatte. Das Haus war in vier Wohnungen über zwei Etagen aufgeteilt. Seinen Recherchen zufolge waren die Wohnungen im ersten Stock aufgrund eines schweren Wasserschadens seit mehreren Wochen unbewohnt. Im Erdgeschoss links wohnte ein LKW-Fahrer, der aber die meiste Zeit besoffen war und vermutlich gerade seinen Rausch ausschlief, sofern er nicht bereits wieder in irgendeiner billigen Eckkneipe herumhing. Er würde jedenfalls keinen ungebetenen Störfaktor darstellen.
Gregor drückte gegen die Haustür. Wie vermutet war sie nicht abgeschlossen. Im Treppenhaus blätterte bereits die Farbe von der Wand. Gregor trat ein, wandte sich der rechten Wohnungstür zu und holte tief Luft. Nur noch diesen Ring besorgen, am vereinbarten Treffpunkt abliefern und dann ab in den Flieger nach Hawaii. In seiner rechten Jackentasche befand sich ein grauer Umschlag mit fünfzehntausend Euro. Gregor war befugt, das gesamte Geld einzusetzen. Hauptsache, die Übergabe konnte heute noch vollzogen werden. Und wenn das Geld nicht reichte? Tja, dann…! Er überflog ein letztes Mal seine Anweisungen, die wie üblich in Steckbriefform notiert waren:
Zielperson: Vanessa Milbrandt, weiblich, verwitwet, 57 Jahre, keine lebenden Angehörigen
Objekt: goldfarbener Ring mit Rubinsteinimitat, Durchmesser ca. 2 cm, geschätzter Materialwert: 300 Euro.
Handlungsspielraum: Bezahlung, Beeinflussung, Drohung, Anwendung von Gewalt nur wenn erforderlich
Es las sich so nüchtern wie ein Einkaufszettel. Gregor ließ seine Instruktionen verschwinden und klopfte fest gegen die Wohnungstür. Auf der anderen Seite der Tür verstummte ein Fernseher und es näherten sich eilig Schritte. Als die Tür sich öffnete blickte er auf eine hagere, blonde Frau mit tiefen Rändern unter den Augen.
„Vanessa Milbrandt?“
„Oh, sind Sie von der Firma?“ Es wirkte fast so, als hätte sie mit Besuch gerechnet.
„Wenn Sie so wollen. Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.“
Die Frau sah ihn unsicher an. Ihrem Atem nach zu urteilen hatte sie offensichtlich getrunken. Ja, an so einem Novemberabend konnte man sich sehr einsam fühlen. Insbesondere wenn man erst kürzlich einen schmerzhaften Verlust hinnehmen musste. Gregor konnte sich nicht vorstellen, dass die Frau ihm Schwierigkeiten bereiten würde.
„Bitte, Frau Milbrandt. Es ist einiges für Sie drin.“ Gregor zog einen Fünfhundert-Euro-Schein aus dem Umschlag und wedelte damit verführerisch in der Luft herum. Während die Frau noch überlegte, ging Gregor ohne eine Antwort abzuwarten an ihr vorbei und musterte die Wohnung. Zwei Zimmer. Maximal fünfzig Quadratmeter. Zur Not würde er den Ring schon finden, falls die Alte ihn hier versteckt hatte. Aber vielleicht war das gar nicht nötig. Er sah sich weiter um. Billige Möbel und Flecken auf dem Teppich. Außerdem roch es hier ziemlich komisch. Sah so aus, als könnte hier jemand gut eine kleine Finanzspritze gebrauchen. Gregor nahm in einem halbwegs bequem aussehenden Sessel Platz. Die Federn ächzten als er mit seinen 90 Kilo hineinversank. Auf dem mit Kratzern verzierten Couchtisch lag eine angebrochene Schachtel Tabletten. Antidepressiva. Die Frau sah ihn erwartungsvoll an, hielt dabei aber einen deutlichen Sicherheitsabstand zu Gregor ein.
„Sie sagten, es sei einiges für mich drin. Wie haben Sie das gemeint?“
„Nun Frau Milbrandt, wissen Sie was eine holländische Auktion ist?“ Gregor streckte die Füße aus.
„Eine was?“
„Ich erkläre es Ihnen. Ein Gegenstand wird versteigert, aber anders als bei einer üblichen Auktion geht es nicht darum, sich gegenseitig mit Geboten zu übertreffen. Nein, es wird ein Kaufpreis festgesetzt, der nach und nach gesenkt wird. Wer als erstes zuschlägt und den aktuellen Preis akzeptiert, macht das Rennen. Die Auktion wird beendet und der Gegenstand wechselt den Besitzer.“
„Wollen Sie mir etwas verkaufen?“
„Oh nein. Ich werde etwas von Ihnen kaufen. Und ich rate Ihnen, sich schnell zu entscheiden.“
Die Frau überlegte, während ihre Blicke ein Bild an der Wand fixierten, auf dem ein junger Mann in Soldatenuniform zu sehen war. Vermutlich Ihr verstorbener Mann.
„Was könnte ich schon haben, das Sie von mir kaufen wollen. Sehen Sie sich doch mal um. Hier ist nichts von Wert. Mein Theo hat mir nur Schulden hinterlassen.“
„Von denen Sie bald jede Menge abbezahlen können. Alles was ich will ist der Ring, den Ihr Mann Ihnen hinterlassen hat.“
„Was, den? Aber der ist doch überhaupt nichts wert.“
„Dann können Sie ja problemlos verkaufen. Fünfzehntausend.“
„Was? Fünfzehntausend was? Euro?“
„Glauben Sie etwa, ich biete Ihnen fünfzehntausend Glasperlen? Also, sind wir uns einig?“
„Warum wollen Sie soviel Geld für das billige Ding zahlen?“
„Das brauch Sie kaum zu interessieren. Vierzehntausend.“
„Bitte? Soll das ein schlechter Scherz sein? Der Ring ist nicht einmal hundert Euro wert.“
„Sie irren sich, er ist dreihundert Euro wert. Also ein Supergeschäft für Sie. Dreizehntausend.“
„Jetzt sparen Sie sich Ihre komische Auktion. Der Ring ist unverkäuflich. Tut mir leid.“
„Oh, Sie verstehen nicht. Der Ring wird auf jeden Fall verkauft werden. Allein den Preis bestimmen Sie.“
„Wollen Sie mir drohen?“
„Das wäre nicht meine Art. Zwölftausend.“
„Sie müssen wissen, seit Theos Tod gibt es nichts mehr, was mir Angst macht. Nichts, was man mir wegnehmen könnte.“
„Ich möchte nur den Ring und danach bin ich wieder verschwunden.“ Wie Gregor diesen Job hasste. Es könnte alles so unkompliziert sein, wenn er es nicht ständig mit starrsinnigen Personen zu tun hätte. Genauso, wie diese italienische Krankenschwester letzten Sommer. Und was hatte sie nun von ihrer Beharrlichkeit? Einen 1a-Ausblick auf die Artenvielfalt der Bewohner des Mittelmeeres.
Die Frau fuhr fort: „Ich vermute, man hat Ihnen nicht gesagt, was es mit dem Ring auf sich hat?“
Gregor dachte einen Moment darüber nach. Dem Steckbrief zufolge war der Ring tatsächlich nichts wert. Aber es war nicht das erste Mal, dass er für die Firma ein vermeintlich nutzloses Objekt mit viel Aufwand beschaffen sollte. Er wusste nicht viel darüber, was nach der Übergabe mit seinen Lieferungen passierte. Lopez hatte ihm von einem stark gesicherten Labor in Genf erzählt. Lopez war einer der wenigen Firmenmitarbeiter mit denen Gregor persönlichen Kontakt hatte. Der Zutritt zum Labor war dem Laufvolk, zu dem Lopez und Gregor gehörten, allerdings nicht gestattet. Und die Firma sah es nicht gern, wenn ihre Angestellten zu viele Fragen stellten. Es konnte sich bei dem Ring aber auch durchaus um ein Symbol oder ein Erinnerungsstück handeln. Weiß der Kuckuck, es war Gregor auch egal. Er tat nur seinen Job und der wurde jetzt langsam unangenehm. Außerdem wurde ihm zunehmend übel von diesem stechenden Geruch. Konnte die Alte nicht das Fenster aufmachen?
„Elftausend.“
Die Frau ging nicht darauf ein. „Die Wahrheit ist, mit diesem Ring stimmt etwas nicht.“ Sie ging durch den Raum zu einem alten Sekretär und öffnete eine Schublade. „Mein Mann wusste es bereits, kurz bevor er starb.“ Sie holte eine kleine lederne Schatulle heraus und öffnete sie behutsam.
Da war er. Gregor musste sich eingestehen, dass er wirklich schön aussah. Der Ring glänzte in dem matten Licht der Vierzigwattbirne an der Decke und der Stein funkelte dunkelrot. Ob Fälschung oder nicht, über ein solches Geschenk Ihres Liebsten hätte sich wohl so manche frustrierte Hausfrau gefreut. Und noch etwas fiel Gregor auf. Die Gläser in dem Wandregal gaben urplötzlich ein leichtes Summen von sich. Es war so fein, dass man es kaum spürte, aber Gregor war sich sicher. Oder doch nicht? Auf einmal spürte er wieder dringende Sehnsucht nach Hawaii. Sonne, Cocktails und Hula-Hula.
„Zehntausend. Sie sollten wirklich annehmen, das wäre die Miete für die nächsten drei Jahre.“
Die Frau hatte den Ring jetzt in die rechte Hand genommen und strich behutsam mit dem Zeigefinger ihrer anderen Hand über die Gravur. Gregor konnte den Schriftzug nicht erkennen aber es sah nach kyrillischen Zeichen aus.
„Es ist eigentlich nicht der Ring, mit dem etwas nicht stimmt, - sondern der Stein. Er sendet Signale aus.“
Kaum war das Stichwort gefallen, bemerkte Gregor ein leichtes Klirren. Dieses Mal kam es vom Bild an der Wand. Vielleicht waren hier irgendwo Tunnelarbeiten in der Nähe? Gregor meinte vorhin einen Bagger gesehen zu haben. Oder war der Säufer von nebenan aus seinem Koma erwacht?
„Neuntausend.“
„Theo hatte eine Theorie. Er glaubte, der Stein könne bestimmte Wellen übertragen. Vibrationen. Schwingungen. Etwas, das man sonst nicht wahrnimmt.“
Gregor unterbrach seinen Countdown für einen Moment, um zu hören, was ihm die durchgedrehte alte Frau für eine seltsame Geschichte auftischen würde. Ein paar Informationen konnten immer hilfreich sein. Besonders in seinem Geschäft. So oder so, später würde er die Alte nicht mehr dazu befragen können.
„Naja, Theo dachte zunächst, es wären Funkwellen. Wir haben hier in der Nähe einen von diesen schrecklichen Handymasten. Aber eines Abends fiel ihm auf, dass die Schwingungen einen Rhythmus ergaben. Bestimmte Sequenzen schienen sich ständig zu wiederholen.“
Gregors Stimme strahlte nicht mehr die anfängliche Selbstsicherheit aus. „War ja wohl sehr clever Ihr Theo? Hat etwa E.T. zu ihm durch den Ring gesprochen?“
„Theo war clever. Er ist früher Offizier gewesen. Bevor er von der Firma abgeworben wurde. Sein Problem war, dass er nicht mit Geld umgehen konnte, wie Sie vermutlich sehen.“
„Dann nutzen Sie jetzt besser Ihre Chance, Siebentausendfünfhundert.“ Gregor wollte nur noch raus. Wie lange war er schon hier? Er sah auf seine Uhr, aber die war offenbar stehen geblieben. Er hatte doch letzten Monat erst die Batterie gewechselt. Und Himmel noch mal, dieser Gestank…
„Hören Sie doch zu. Theo fand heraus, dass in den Schwingungen eine Struktur steckte. Es waren Morsezeichen. Sie wissen: Kurze Schwingungen, lange Schwingungen.“
Gregor kannte sich bestens mit Morsezeichen aus. Im Rahmen seiner Tätigkeit hatte er mehrmals mit seinem Auftraggeber auf diese Weise kommunizieren müssen.
Die Frau fuhr fort: „Also machte Theo sich daran, die Botschaften zu notieren und zu entschlüsseln. Aber es gab Probleme.“
„Was beweist, dass Ihr Mann nur eine blühende Phantasie hatte. Fünftausend. Sie sollten jetzt wirklich akzeptieren.“
„Nein, es war die Sprache. Jemand morste die ganze Zeit in einer fremden Sprache. Theo hatte den Ring vor ein paar Jahren bei einem Auslandseinsatz erworben. Das war in Bosnien.“ Sie zögerte. „Erworben war aber wohl nicht ganz das richtige Wort.“
„Wohl eher gestohlen?“
„Er hat ihn einem Soldaten abgenommen, der im Sterben lag. Das ist etwas anderes. Was hätte der schon noch mit dem Ring anfangen sollen? Aber es brachte meinen Theo auf die Idee, den gemorsten Text mit der bosnischen und serbokroatischen Sprache abgleichen zu lassen.“
„Ich nehme an, Sie wollen mir weismachen, er hätte Erfolg gehabt?“
„Ein alter Freund von Theo hat den Text für ihn aus dem Bosnischen übersetzt. Es waren nur drei Sätze, die sich ständig wiederholten: Suzan, ich liebe Dich. Hier ist es so einsam. Wie geht’s den Kindern?“
„Das ist ja rührend. Hat er herausgefunden, woher die Botschaft kam?“
Die alte Frau sah ihn jetzt mit durchdringendem Blick an.
„Nein, denn kurz darauf starb er. Angeblich bei einem Autounfall.“ Sie blickte auf den Ring. „Aber ich habe das Geheimnis schließlich gelüftet.
Gregor war die Sache jetzt ziemlich klar. In den Ring war offenbar ein Sender eingebaut. Vermutlich eine hochbrisante Technologie. Und mit Sicherheit weit mehr wert als die fünfzehntausend Euro, die er dafür zum Kauf einsetzen durfte. Vermutlich auch weit mehr als die zweihunderttausend Euro, die er für die Ausführung dieses Auftrags bekam. Er witterte ein großes Geschäft. Die geplante Hawaii-Reise und die Hula-hula-Mädels würden warten müssen.
„Okay, Frau Milbrandt. Sie haben mir mehr Zeit abverlangt als ich zu investieren bereit war. Mein letztes Angebot für heute: Zweitausendfünfhundert Euro.“
Die Frau ließ sich nicht beirren. „Die Wahrheit ist, der Ring bildet eine Brücke ins Jenseits. Nach Theos Tod habe ich mich weiter mit dem Ring und den Morsezeichen beschäftigt. Es waren jetzt andere Sequenzen. In deutscher Sprache. Sie kamen von Theo.“
„Frau Milbrandt, ich bin nicht länger bereit, mir Ihre Hirngespinste anzuhören. Mein neues Angebot: Sie geben mir den Ring und ich lasse Sie am Leben.“
„Theo hat mir gemorst, dass sein Tod kein Unfall war. Es war die Firma. Sie mögen es nicht, wenn man zuviel herumschnüffelt. Und er hat mich gewarnt, dass jemand kommen würde, um den Ring zu holen. Denn die Firma kennt das Geheimnis.“
„Ein weiser Mann, Ihr Theo.“
Gregor zog seine Waffe, zielte und drückte ab. Aufgrund des Schalldämpfers hätte nur ein kurzes „Plopp“ zu hören sein müssen. Stattdessen gab es einen Lichtblitz und dann einen lauten Knall. Es folgte absolute Dunkelheit.
Gregor hustete. Um ihn herum war alles schwarz. Was war passiert? Natürlich, dieser komische Geruch. Das war Gas gewesen. Hatte die alte Schachtel versucht, sie beide mutwillig in die Luft zu jagen? Offenbar war sie verzweifelter und verbitterter gewesen als es zunächst den Anschein hatte. Er tastete um sich herum. Und fühlte Mauerwerk. Steine. Schutt. Offenbar war er in einem Hohlraum eingeschlossen. Von dem Gas war nichts mehr zu riechen. Er kramte in seiner Jackentasche und beförderte ein Feuerzeug hervor. Verflucht. Der schwache Lichtschein bestätigte seine Theorie. Er war in einem schätzungsweise fünf Quadratmeter großen Gefängnis eingeschlossen. Er versuchte die Steine zu bewegen. Aber da war nichts zu machen. Immerhin gab es genug Sauerstoff, wenn man der stetigen Flamme seines Feuerzeugs Glauben schenkte.
Er rief: „Hallo. Hört mich jemand? Hilfe.“
Keine Antwort. Wahrscheinlich hatte es den alten Säufer von Gegenüber auch erwischt. Wie tief mochte Gregor wohl begraben sein? Er suchte nach seinem Handy. Verdammt. Kaputt. Dann sah er ihn. Er lag direkt neben ihm. Der verfluchte Ring. Wenn das Ding einen eingebauten Sender hatte, konnte er vielleicht ein Signal verschicken. Einen Hilferuf. Er betrachtete den Ring sorgfältig im Licht des Feuerzeugs. Wie ließ sich wohl der Sender aktivieren? Das würde bei dem schlechten Licht trotz zwei Jahren Funker-Ausbildung mit Sicherheit kein Kinderspiel.
Doch da. Was war das? Eine Vibration? Er hielt den Atem an. Tatsächlich. Da morste jemand eine Nachricht. Er versuchte sich zu konzentrieren. Kurz, kurz, lang, kurz…. Vielleicht wollte man Kontakt mit ihm aufnehmen?
Fast eine halbe Stunde benötigte er, um den Code zu übersetzen. Er wünschte, er hätte es nie versucht. Aber der Inhalt war eindeutig. Er war nicht an ihn gerichtet. Es war eine Nachricht von Lopez an seinen Auftraggeber. Sie lautete: „Habe Objekt vor Eintreffen von Polizei und Feuerwehr sichergestellt. Leichen von V.M. und G.R. geborgen. Erwarte weitere Instruktionen“
Das Objekt war zweifellos der Ring. Aber wie konnte das sein? Er befand sich doch direkt hier unten in seiner Hand. V.M. musste die alte Frau sein. Und G.R….
Gregor Rusetzky starrte auf den Ring als ihm klar wurde, dass ihn niemand mehr retten konnte.
>> E N D E <<