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Aus dem Dunkeln
Das Pendel der großen Standuhr schwingt monoton hin und her. Ein Blick auf das Ziffernblatt zeigt mir, dass es fünf Minuten vor Mitternacht ist.
Meine Hände krallen sich in die Lehne des gepolsterten Stuhles.
Im Kamin lodert das Feuer. Auf dem Tisch vor mir liegt ein aufgeschlagenes Buch. Ich werde es nicht weiterlesen können. Es ist wieder soweit.
Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Etwas bewegt sich in meinem Rückgrat auf und ab, kriecht in den Bauch und löst auch dort einen grauenhaften Schauer aus.
Mein linkes Auge zuckt. Ich starre wie verrückt auf den Boden.
Das Uhrwerk erledigt mechanisch korrekt und unaufhaltsam seine Arbeit.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Die Zeit verrinnt, entfleucht aus dem Raum, dringt in andere Bereiche meines Hauses vor. Ich lausche angestrengt – auf was?
War da nicht gerade ein Geräusch? Schritte? Nein.
Meine Sinne täuschen mich. Sie sind überreizt.
Der Schweiß läuft über mein Gesicht, tropft auf meinen Schoß. Meine Füße zittern.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Keine Schritte. Nur die Uhr. Und das Feuer.
Etwas kratzt an das Fenster. Ich fahre herum, meine Hand schnellt zu dem Buch; zu dem, was unter dem Buch ist, und im selben Moment erkenne ich, dass es nur ein Ast ist, der vom Wind an das Glas gedrückt wird.
Kurz höre ich den Sturm, wie er heulend um das Haus fegt. Durch die Ritzen und Löcher pfeift.
Langsam setze ich mich wieder, will mich entspannen. Ich schaffe es nicht.
Ein Blick auf die Uhr. Noch zwei Minuten.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Ich beginne zu zittern. Mein ganzer Körper bebt und der Schweiß durchnässt mich, lässt mich Schaudern. Ich will die Zeit anhalten, das Uhrwerk zerstören. Würde es etwas nützen?
Eine Minute. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich will irgendwohin laufen, weg, nur weg von hier.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Ein dunkler Gong kündigt Mitternacht an. Der Pendel schwingt unheilvoll weiter. Ich will weg, will davon, aber-
Jetzt! Ich habe es genau gehört. Unten im Keller. Oh Gott.
Mein Gott, ich höre es. Ein Schaben, ein Kratzen. Es ist nicht der Wind, es ist nicht der Wind. Ich weiß es, Gott steh mir bei.
Da, wieder. Nein, ich halte das nicht aus.
Ich muss …
Lauter, lauter. Nein, warum nur? Warum?
Ich muss es tun. Ich kann nicht, ich … aber ich muss.
Meine Hände heben das Buch auf und greifen nach dem Revolver, der darunter liegt.
Tick. Tack. Tick. Tack. Das Stampfen, das Graben im Keller. Ich höre es so klar. So klar, als wäre es hier, genau vor mir. Bei Gott. Ich haste auf und nehme mir noch die Lampe.
Ich halte die Waffe verkrampft und gehe durch die Tür ins Vorhaus. Die Geräusche werden immer lauter. Schlurfende, nasse Schritte auf der Kellertreppe. Ich höre einen röchelnden Atem.
Ich reiße die Tür nach unten auf, dort unten, wo es dunkel ist. Wo es ist.
Fauliger Gestank schlägt mir entgegen und meine Lampe erhellt nur dürftig dieses verwesende Etwas, das auf den Stiegen vor mir steht. Ich verliere fast das Bewusstsein, kämpfe gegen die Schwärze an und hebe den Revolver.
Gurgelnde Laute dringen von dem Ding zu mir empor. Ich stoße einen Schrei aus, drücke ab, ein, zwei, dreimal.
Der Rauch vernebelt mir die Sicht, der Gestank raubt mir die Sinne, aber das feuchte Klatschen kann nur der Aufprall des verfaulenden Monstrums auf den Fließen sein. Ich hebe die Lampe und wirklich. Da liegt es. Dort auf der Treppe. Schmutz und Erdbrocken liegen herum.
Im fahlen Schein des Lichts sehe ich, fast versunken im matschigen Fleisch, den Ring glitzern. Erkenne das mit Dreck verkrustete lange Haar.
Dann lache ich. Es ist ein abscheulicher Laut, bar jeglicher Freude.
Und ich sage: „Wann wirst du mir endlich verzeihen, Sue?“