Aus dem Leben
Da stand sie, ganz allein in der verregneten Nacht, das Messer noch in der linken Hand.
Ihr mit Spitzen besetztes Nachthemd klebte an ihrem Körper. Es war von Regen , Blut und Angstschweiß durchtränkt. Ihre langen, dunklen Haare hingen schlaff an ihrem gesenkten Kopf herunter. Sie zitterte. Es war nicht die Kälte die langsam aber stetig in ihren Leib kroch; diese spürte sie nicht. Es war ein Zittern das sie nicht beschreiben konnte. Ihr Blick haftete nun schon minutenlang an dem leblosen Körper der vor ihr auf der Straße lag. Blut sickerte aus der Leiche und bahnte sich seinen Weg in die Kanalisation.
Sie rührte sich nicht, aus Angst das der Tote bei der nächsten Bewegung wieder zum leben erwacht.
Das Licht der gegenüberliegenden Straßenlaterne brach sich in der Klinge ihres Messers, noch immer klebte Blut daran, als wolle der Regen es nicht fort waschen.
Ihre Glieder schmerzten. Jeder einzelne Knochen tat ihr weh und ihre Gedärme zogen sich zusammen. Sie musste sich unweigerlich übergeben und schloss dabei für Sekunden ihre Augen. Wie gern sie das vermieden hätte. Diese Sekunden reichten aus um das ganze Geschehen der vergangenen Stunden noch einmal zu durchleben. Wieder übergab sie sich. Diesmal war es der Ekel der das Nichts in ihrem Magen heraus lockte. Bildfetzen zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Wie er sie am Boden fixierte, ihre Beine auseinander drückte, als wären es die Äste eines noch jungen Baumes. Ihr den Mund zu hielt damit sie keinen Laut von sich geben konnte. Wie gern hätte sie geschrien als er in sie eindrang. Diese Schmerzen waren so fürchterlich, jedes Mal. Sie war doch noch so jung, ihr Körper konnte diesen Schmerz nicht ertragen.
Wie ein wildes Tier machte er sich über sie her. Befriedigte seine abartigen Triebe an ihr. Tat ihr weh, immer und immer wieder. Es kümmerte ihn nicht, wie sehr sie darunter litt. Nicht nur physisch sondern auch psychisch.
Sie ging noch nicht lange in die Schule als ihre sonst so guten Leistungen plötzlich miserabel wurden. Ihre Eltern und ihre Lehrer machten sich Sorgen um sie doch sie sagte nichts.
Ihr Lachen, das ihre Familie so sehr liebte, war nicht mehr oft zu hören und wenn man sie lächeln sah, genügte ein Blick in ihre Augen um zu erkennen, das es nicht echt war.
Die gewohnte Freude war aus ihrem Gesicht verschwunden. Das Leuchten ihrer großen, braunen Augen war erloschen. Ihre Bewegungen wurden mechanisch. Sie ging zur Schule, erledigte daheim ihre Hausaufgaben, spielte und ging zu Bett, Tag für Tag...ohne ein Lachen. Sie kapselte sich ab, ignorierte ihre Freunde und ihre Familie so gut es ging und verschanzte sich nach Möglichkeit in ihrem Zimmer. Sie redete kaum noch. Las Bücher oder lag einfach regungslos auf ihrem Bett, stundenlang, ohne sich darüber bewusst zu sein, ob es gerade Tag oder Nacht war. Es kümmerte sie auch nicht. Ihre hässlichen Erinnerungen kannten kein Zeitgefühl, sie konnte nicht davon laufen.
Nacht für Nacht wurde sie von diesen Bildern aus ihrem so unruhigen Schlaf gerissen. Schrie ohne zu schreien, weinte ohne eine Träne zu vergießen. Sie war nicht mehr fähig, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sie fühlte sich tot.
Wie gern wäre sie es auch gewesen aber sie liebte ihre Familie und ihre Familie liebte sie. Sie wollte sie nicht allein lassen.
Die Sorgen ihrer Eltern verwandelten sich zunehmend in Ärger. Sie verstanden das Verhalten ihrer kleinen Tochter nicht, schimpften mit ihr in der Hoffnung dass das Mädchen irgend etwas sagte, doch sie tat es nicht. Sie schwieg und lies „es“ immer wieder über sich ergehen. So auch an ihrem siebten Geburtstag, als alle fröhlich feierten. Sie war wie so oft in ihrem Zimmer und probierte dort den hübschen Rock und das niedliche Top an das ihre Eltern ihr geschenkt hatten. Sie freute sich über die neuen Sachen die sie jetzt im Sommer tragen konnte. Sie beäugte sich gerade als die Tür geöffnet wurde und „er“ eintrat. Schlagartig war ihr Gesicht wie aus Stein gemeißelt. „Oh das steht dir aber gut. Hübsch siehst du aus.“ waren seine Worte als er auf sie zuging. Sie wusste genau was jetzt kam und versuchte so schnell wie möglich ihre Seele in dem kleinen, düsteren Raum zu verstecken den sie sich in ihrem Inneren gebaut hatte.
Später lag sie da, am Boden. Nicht fähig sich zu bewegen. Nicht in der Lage etwas zu sagen oder zu tun. Lag einfach nur da und wartete das der Schmerz verging. Doch das tat er nicht. Er blieb, so wie jedes Mal. Sie fand sich damit ab.
Bis zu diesem einen Tag, bis heute. Er sollte auf sie aufpassen, ihre Eltern hatten am Abend eine Verabredung. Sie wussten nicht was sie ihr damit antaten. Sie konnten es nicht wissen.
Ihre Augen flehten ihre Eltern an, nicht zu gehen, doch sie sahen es nicht, wie sollten sie auch?
Dann war sie mit ihm allein. Erst schenkte er ihr keinerlei Beachtung, starrte in den Fernseher. Sie nutzte die Gelegenheit und ging in ihr Zimmer, zumindest hatte sie es vor. „He, warte mal!“ rief er als sie gerade in dem dunklen Flur der Wohnung stand. Sie bewegte sich nicht mehr, drehte sich auch nicht zu ihm um. Sie überlegte fieberhaft und sah in Richtung Küche. Ihr Gedankengang brach ab als sie seine Hand auf ihrer Schulter spürte. Diesmal geschah es also im Flur, direkt vor der Schlafzimmertür ihrer Eltern. Als er seinen Trieb befriedigt hatte, ging er zurück ins Wohnzimmer. Schließlich wollte er den Film nicht verpassen.
Wieder schmerzte es unterhalb der Gürtellinie. Wieder wollte sie sich übergeben um seine widerlichen Flüssigkeiten aus ihrem Hals zu verbannen. So lag sie einen Moment da, starrte an die Decke und atmete schwer.
„Steh doch endlich auf, es ist kalt auf'm Flur!“
Wut stieg bei diesen geheuchelten Worten in ihr auf. Als wenn er sich um sie sorgen würde. Nein, das tat er sicherlich nicht. Sie war ihm völlig egal. Sie war nur ein Spielzeug für ihn das er benutzte und einfach liegen ließ wenn er was besseres zu tun hatte. Sie hasste ihn. Sie hasste ihn so sehr das sie ihm am liebsten bei der nächstbesten Gelegenheit etwas schlimmes antun wollte.
Die Kleine rappelte sich auf, zog ihre Kleider zurecht und ging in die Küche. Sie machte kein Licht, sie wusste was sie suchte und kannte jeden Platz der einzelnen Gerätschaften.
Sie ging vorsichtig an dem kleinen Tisch vorbei und öffnete die erste Schublade der Küchenzeile. Als sie den Griff des Brotmessers berührte, schloss sie ihre kleinen Finger zu einer Faust und zog es lautlos heraus. Schnell schloss sie die Schublade wieder und schlich sich in ihr Zimmer. „Willste den Film nicht mit gucken?“ Sie hatte ihre Hand schon auf der Türklinke als sie seine Stimme hörte. „Ich bin müde.“ erwiderte sie und ging in ihr Zimmer. Sie musste keine Angst haben, er würde ihr nicht nachgehen. Er brauchte noch Erholung von der körperlichen Anstrengung. Wie er sie anekelte. Wieder kam der Hass in ihr hoch als sie in ihr Bett kletterte. Ihre kleine Schwester lag da und schlief. Sie bekam von alledem nichts mit, war fast noch ein Baby. Aber auch sie würde älter werden und dieser Gedanke machte dem kleinen, dunkelhaarigen Mädchen mit dem Messer unter der Bettdecke große Angst.
Es kam ihr vor als wären schon Stunden vergangen. Sie musste mit ihrer Müdigkeit kämpfen als sie hörte, wie die Geräusche im Wohnzimmer verstummten. Ihr Herz raste, ihre Hand klammerte sich an das Messer. Sie würde es so machen wie in dem Film den sie gesehen hatte. Den hatte sie heimlich geguckt weil er noch gar nicht für ihre jungen Augen bestimmt gewesen war.
Sekunden oder Minuten verstrichen, sie wusste es nicht. Es war immer noch still in dem anderen Raum als sie aus ihrem Bett kletterte und zur Tür schlich. Leise drückte sie die Klinke hinunter, starrte durch einen Spalt in den Flur und lauschte. Nichts. Sie atmete nochmal tief durch und huschte dann lautlos durch die Wohnung bis hin zum Wohnzimmer. Er schlief und hatte die kleine Lampe auf dem Beistelltisch nicht ausgeschaltet. Sie hatte Angst das er sie plötzlich ansehen könnte doch nun war es sowieso schon zu spät. Sie wollte nicht mehr zurück. Zurück in diese Hölle die sie durchleben musste. Er sollte damit aufhören und zwar für immer!
Als sie direkt vor ihm stand und das Messer an seine Kehle setzen wollte, verließ sie der Mut und sie wollte weg rennen; als er plötzlich die Augen öffnete und das Messer wahr nahm. Er wollte aufspringen und nach ihr greifen. Die Kleine geriet in Panik, es würde nicht so funktionieren wie in dem Film. Sie stach einfach zu, ließ das Messer aber nicht los und rannte. Rannte so schnell sie konnte, öffnete die Wohnungstür und stolperte in viel zu hohem Tempo auf die Straße. Sie hatte ihre Beine nicht mehr unter Kontrolle, stürzte und hatte das Gefühl, das ihr Skelett in Stücke brach. Sie sah sich um, sah in mit beiden Händen an seinem Hals, direkt hinter ihr. Sie stemmte sich hoch, schleppte sich weiter doch als sie die zweite Bordstein Kante erreicht hatte, verließen sie ihre letzten Kräfte und sie brach zusammen. Aber nicht nur die Bewegungen des kleinen Mädchens kamen zum Stillstand, auch ihr Verfolger sackte in sich zusammen. Nicht vor Erschöpfung nein, der Blutverlust war zu hoch und das Leben wich langsam aus seinem Körper.
Es begann zu regnen und das Mädchen lag immer noch regungslos da und öffnete die Augen nicht. Sie lauschte. Er atmete noch, es gurgelte merkwürdig wenn er Luft holte. Andere Geräusche nahm sie nicht wahr. Die Straße war menschenleer. Die Zeit verging und mit ihr sein Leben. Sie drehte den Kopf zur Seite und öffnete ihre Augen. Da lag er, zusammen gekauert, nass und in einer Blutlache. Auch als sie langsam aufstand wandte sie ihren Blick nicht von ihm ab. Nun stand sie direkt vor ihm und tausende Gedanken schossen durch ihren Kopf. Das sie das Messer immer noch umklammerte, spürte sie nicht. Sie war geschockt, hatte panische Angst und war gleichzeitig glücklich. Nie wieder würde er ihr etwas antun können, nie wieder müsse sie diesen Schmerz ertragen. Sie lächelte.
Dann kamen andere Gedanken in ihr hoch. Was sollte sie ihren Eltern sagen? Wie sollte sie das Geschehene erklären? Sie wusste es nicht und sie konnte jetzt auch nicht klar denken. Irgendwie würde sie es ihrer Familie und dann sicher auch der Polizei erklären müssen aber nicht in diesem Moment.
Sie wartete noch eine Weile, immer noch mit der Angst im Nacken das er wieder aufstehen könnte. Doch er tat es nicht. Sie sah zum Haus hinüber, zu der großen Tanne die im Garten stand, überzeugte sich davon das sie ihre Beine unter Kontrolle hatte und ging mit langsamen Schritten auf die Hofeinfahrt zu. Als sie sich unter den großen Baum kauerte hatte sie nicht viel im Kopf. Die nächsten Tage würden schwer für sie werden...ihre Zukunft würde schwer für sie werden weil sie die Hölle ihrer Vergangenheit niemals vergessen würde aber...es war vorbei und alles was nun kam, konnte nur besser werden.