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Aus der Not geboren
Es war früh dunkel geworden. Die Straßenlaternen tauchten die leere Fahrbahn und den schmalen Bürgersteig in ein künstliches Licht. Auf der mittleren der drei Spuren schleppte sich der alte Opel mühsam vorwärts.
Mika Kasovic schaute nervös in den Rückspiegel. Ein heilloses Durcheinander aus Koffern, Tüten und Pappkartons stapelte sich auf der Rückbank und dem Beifahrersitz. Dahinter sah Mika den Streifenwagen. Seit knapp fünf Minuten war er schon da, wie festgeklebt. Etwa fünfzig Meter Abstand, eine Spur weiter rechts. Unruhig rutschte Mika auf dem Sitz herum.
Er passierte eine Kreuzung und widerstand der Versuchung in die kleine Seitenstraße abzubiegen. Es wäre zu auffällig gewesen. Sein Blick wanderte wieder in den Rückspiegel.
Der Streifenwagen war noch da, lauernd wie ein Greifvogel.
"Ganz ruhig", flüsterte Mika, "die werden schon wieder abhauen. Fahr einfach immer weiter."
Abgesehen von dem asthmatischen Tuckern des Motors war es still im Wagen. Die Geräusche aus dem Kofferraum waren verstummt. Mika wusste nicht genau, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
Der Polizeiwagen beschleunigte. Das Blaulicht leuchtete kurz auf und Mika sah, wie eine Polizeikelle aus dem Beifahrerfenster gehalten wurde.
"Verdammte Scheiße." Seine Stimme war jetzt mehr als ein Flüstern. Er trat auf die Bremse, ein Schuhkarton purzelte nach vorne und entlud seinen Inhalt. Fluchend sammelte Mika die gebrannten Cds von seinem Schoß.
Der Polizeiwagen hielt hinter ihm. Zwei Beamte stiegen aus, langsam kamen sie näher. Ein dicker Kloß bildete sich in Mikas Hals. Etwas klopfte gegen die Scheibe. Für einen endlosen Augenblick befürchtete er, seine festgekrallten Hände nicht vom Lenkrad lösen zu können. Dann kurbelte er das Fenster herunter.
Der Polizist war klein und dick. Ein mächtiger Schnauzer bedeckte seine Oberlippe.
"N'abend, allgemeine Verkehrskontrolle. Den Führerschein und die Fahrzeugpapiere hätte ich gerne mal gesehen."
Wortlos presste sich Mika an dem Pappturm auf dem Beifahrersitz vorbei und kramte im Handschuhfach. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der andere Polizist kopfschüttelnd das Wageninnere mit seiner Maglite ausleuchtete. Mika reichte dem Schnauzer die Papiere.
Die beiden Beamten unterhielten sich in kurzen, genuschelten Sätzen über das Wagendach hinweg. Dann wandte sich der Schnauzer wieder an Mika.
"Haben Sie Alkohol getrunken?"
Mika verneinte. Seine Finger begannen unruhig auf dem Lenkrad zu trommeln.
"Äh... Sagen Sie, Herr Wachtmeister, habe ich irgendwas falsch gemacht? Ich habe es eigentlich ziemlich eilig, wissen Sie?"
Der Schnauzer sah ihn ausdruckslos an.
"Sie ziehen um?", fragte er und leuchtete auf das Koffergebirge.
"Ja, so was in der Richtung."
"Um diese Uhrzeit?"
"Äh... Ja, war eine ziemlich kurzfristige Entscheidung."
Der Schnauzer nickte, als ob ihn die Antwort zufrieden stellen würde.
"So können Sie aber nicht weiterfahren, guter Mann. Da fällt ja alles durcheinander. Was ist denn im Kofferraum?"
"Nichts", schoss es aus Mika und er bereute es noch im selben Atemzug.
"Nichts?", wiederholte der Schnauzer, "na dann packen Sie den ganzen Krempel doch einfach hinten rein."
Sein Partner lachte grunzend. Eine einzelne Schweißperle lief an Mikas Schläfe entlang.
"Nein, das geht nicht..."
"Aber Sie sagten doch gerade, dass er leer ist", unterbrach ihn der Schnauzer.
"Ja. Nein, ich meine..."
"Ok, bitte steigen Sie langsam aus und öffnen Sie den Kofferraum."
"Sie verstehen das nicht. Ich kann..."
"Aussteigen", bellte der Schnauzer. Demonstrativ wanderte seine Hand zu dem Lederholster an seiner Hüfte. Mika öffnete die Tür und unternahm einen letzten Versuch.
"Hören Sie mir bitte kurz zu. Es geht wirklich nicht..."
Ein einzelnes Klopfen ertönte, als stoße etwas von innen gegen die Metallverkleidung. Der Schnauzer riss Mika mit einer schnellen Bewegung die Schlüssel aus der Hand und drehte ihm unsanft den Arm auf den Rücken. Mika spürte ein Knacken in seiner Schulter. Der andere Polizist fingerte bereits am Kofferraum herum. Das Klopfen ertönte erneut. Lauter, rhythmischer, voller Vorfreude, als ob es die Anwesenheit des Beamten spüren konnte.
"Nein! Warten Sie", schrie Mika.
Doch es war bereits zu spät. Mit einem Knarren öffnete sich die Klappe und Mika schloss die Augen. Scheiß drauf, dachte er, ich konnte Bullen noch nie ausstehen.
Mika rieb sich die schwarzumrandeten Augen. Er war müde. Vielleicht müder als je zuvor in seinem Leben. Er entzündete eine Zigarette, zog den Rauch tief in seine Lunge und behielt ihn dort, bis er fast beiläufig durch die Nase entwich.
Die ersten Sonnenstrahlen des Jahres erwärmten die Luft, es duftete nach Frühling. Das kleine, pelzige Tier beschnüffelte aufgeregt die Kadaver, dann verschlang es den ersten. Mika konnte durch das dichte, hohe Gras kaum etwas erkennen. Nur, wenn der unförmige Fellball ruckartig herumfuhr, wenn er mit einer der toten Ratten spielte, stob die dichte Wand der Grashalme auseinander und gab den Blick frei.
Das Tier lebte schon länger hier als Mika. Wie lange, das wusste er nicht. Jetzt waren sie beide die letzten Verbliebenen.
Mika schaute wieder zu den Ratten, es waren insgesamt acht. Im Keller gab es genug von ihnen, jeden Morgen waren die Fallen voll. Anfangs hatte er sich noch über das ganze Ungeziefer beschwert, aber diese Zeiten waren lange vorbei. Eine der Größeren war noch nicht tot. Die Falle hatte ihr anscheinend nur die Vorderfüße gebrochen. Auf der Brust robbend versuchte sie von dem Kadaverberg zu entkommen. Mika drückte die Grashalme beiseite, um besser sehen zu können. Gerade verschwand das Ende eines rosafarbenen Schwanzes im Maul des kleinen Tieres. Dann streckte es die Nase Richtung Himmel und schnüffelte, nahm Witterung auf wie ein Hund, der es vielleicht mal gewesen war. Plötzlich schoss der unförmige Körper vorwärts und beendete den Fluchtversuch der Ratte.
Mika schenkte der Szene ein väterliches Lächeln, doch es verstarb schnell. Er hatte den Brief noch immer in der Hand. Mittlerweile kamen die Schreiben nicht mehr mit der Post, sondern wurden persönlich abgegeben. Es waren immer verschiedene. Manchmal beobachtete Mika sie schweigend durch seinen Türspion, wie sie klingelten, klopften und seinen Namen riefen. Aber er machte niemals auf.
Die meisten Briefe hatte er ungelesen weggeworfen. Diesen nicht und er bereute es. Wieder wanderten seine eingefallenen Augen von dem Briefkopf zum Anschreiben und blieben schließlich bei dem Datum hängen. Auch die ersten Schreiben hatten ein Datum genannt, doch es hatte sich stets geändert, war weiter in die Zukunft gerückt. Dieses nicht. Er verstand nicht viel von dem Juristendeutsch, aber er verstand das Datum.
Vorsichtig drückte Mika die Glut seiner Zigarette aus und stand auf.
Martens Nase pochte schmerzhaft, wahrscheinlich war sie gebrochen. Wie dicke, rote Suppe lief das Blut über seinen Mund und tropfte von dem schmalen Kinn. Erneut klopfte er gegen die schwere Holztür.
"Hören Sie, Herr Kasovic, das wird ein Nachspiel haben. Das kann ich Ihnen sagen", seine dünne Stimme überschlug sich. "Ich zeige Sie an."
Er wischte sich mit dem Jackettärmel über das Gesicht. Schweiß vermischte sich mit Blut.
"Ich mache doch auch nur meinen Job. Herr Kasovic..."
Er schlug ein letztes Mal gegen die Tür. Nichts regte sich.
Die Sonne stand bereits senkrecht am Himmel, die Hitze war drückend. Er ließ die nutzlose Aktentasche fallen. Auch die Räumungsklage, ein schlichtes Blatt Papier, verließ seine Hand und segelte im Zickzackkurs zu Boden. Schwer atmend sah er sich um. Irgendwo musste es doch einen zweiten Ausgang geben.
Die kräftigen Grashalme reichten Marten bis zur Hüfte. Anscheinend hatte sich seit Jahren niemand mehr um den Innenhof gekümmert. Das war nicht weiter verwunderlich, schließlich standen die meisten Wohnungen schon lange leer. An den Wänden der Wohnblöcke, die den Hof nahtlos umschlossen, wuchsen rankenartige Kletterpflanzen. Die Bäume formten mit ihren Kronen ein natürliches Dach und begrenzten den kleinen Mikrokosmos. Nur an den Rändern fanden einige Sonnenstrahlen ihren Weg über die Dächer und durch das Dickicht; fußballgroße Blüten sprossen dort.
Marten lockerte seine Krawatte, die Luft schien stillzustehen. Zum Glück wird das alles sowieso bald abgerissen, dachte er.
Er begann die pflanzenüberwucherten Wände Stück für Stück abzusuchen, leider ohne Erfolg. Die Tür, durch die Kasovic ihn in den Innenhof gestoßen hatte, war der einzige Ausgang und der war verschlossen. Es gab jedoch einige etwas höher gelegene, glaslose Fenster im Erdgeschoss. Notfalls würde er durch eines davon klettern müssen, allerdings behagte ihm die Vorstellung nicht besonders.
Sein Rundgang förderte noch eine zweite Erkenntnis zu Tage. Obwohl der Innenhof nicht sonderlich groß war, Marten schätzte die Fläche auf etwa fünfzig mal fünfzig Meter, war es unmöglich, auf die jeweils gegenüberliegende Seite zu sehen. Die dschungelartige Vegetation war einfach zu dicht, vor allem zur Mitte hin bildeten die Bäume und Sträucher eine undurchdringliche Wand. Martens botanisches Wissen beschränkte sich zwar auf die Pflege von Topfpflanzen, trotzdem hätte er ein Monatsgehalt darauf verwettet, dass viele der Pflanzenarten sehr untypisch für den 53. Breitengrad waren. Manche der Gräser und Büsche erinnerten ihn an eine Fernsehdokumentation über die afrikanische Steppe. Andere der riesenhaften, in allen Farben blühenden Gewächse hatte er noch nie zuvor gesehen.
Vorsichtig betastete er seine Nase, sie hatte aufgehört zu bluten. Klebriger Schorf bedeckte seine Lippen. Ein Gedanke schoss durch seinen Kopf: Das Handy. Hektisch sah er sich um, stand auf, drückte das dichte Gras auseinander. Sie war weg. Die Aktentasche war verschwunden. Langsam hob Marten den Kopf und richtete sich auf. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, doch sein Körper war vollkommen ruhig, lethargisch.
"Hallo?"
Der Dschungel verschluckte seinen schwachen Ruf und Marten war glücklich, keine Antwort erhalten zu haben. Eine Zeit lang verharrte er in dieser Position, immer noch abwartend, doch nichts geschah. Er war sich sicher, die Tasche direkt vor der Tür abgelegt zu haben, aber wer sollte sie weggenommen haben? Vielleicht hatte Kasovic die Tür von innen geöffnet und die Tasche an sich genommen, während Marten einen anderen Ausgang gesucht hatte. Er begnügte sich mit dieser Antwort, auch wenn sie ihm nicht sonderlich wahrscheinlich erschien.
Ratlos sah er sich um. Sein Blick blieb an etwas kleben, ein Schimmern im Gras. Marten ging in die Hocke und griff nach dem Gegenstand; es war ein Relikt aus längst vergangenen Tagen. Die Zeit hatte der blauen Wäscheleine nichts anhaben können, sie wirkte wie neu. Vorsichtig hob Marten sie auf und verfolgte ihren Verlauf direkt ins Zentrum des Hofes. Er zog an der Schnur und holte ein Stückchen ein. Irgendetwas schien am anderen Ende befestigt zu sein, Marten spürte einen schleifenden Widerstand. Er zog kräftiger, ein Rucken durchfuhr seine Hände. Anscheinend hatte sich der Gegenstand irgendwo verhakt. Für einen Augenblick stand Marten da und überlegte, dann folgte er der blauen Linie hinein in den Urwald.
Die Wiese endete abrupt, dichte Sträucher nahmen ihre Stelle ein. Marten zwängte sich hindurch, vorbei an kräftigen Stämmen und über riesige Wurzeln, die den sandigen Boden aufrissen. Äste schlugen ihm ins Gesicht und hinterließen blutige Striemen. Schon nach wenigen Schritten erreichte er eine Lichtung. Sie wirkte unnatürlich, zu ebenmäßig war ihre runde Form und zu kahl der sandige Boden. Hoch oben über Martens Kopf verwuchsen die Bäume ineinander und schirmten die Sonne ab. Die Luft war heiß und träge. Ein Geruch von Moder schien alles zu bedecken.
Marten hörte ein Geräusch, ein Rascheln gefolgt von einem Seufzer. Hektisch irrten seine Blicke durch das Zwielicht. Er ließ die Schnur fallen und machte einen Satz nach hinten, doch die Sträucher warfen ihn zurück wie die Seile in einem Boxring. Das kleine Tier stand direkt neben ihm. Es ähnelte einem Hund, einem Mops, doch sein mit schwarzem Fell bedeckter Körper war seltsam aufgedunsen. Auch standen seine glänzenden Augen zu weit auseinander, sie befanden sich fast seitlich an dem kleinen Kopf. Marten rappelte sich auf. Das Tier verfolgte ihn mit einem friedlichen, fast gleichgültigen Ausdruck. Erschrocken schrie Marten auf. Ein drittes Auge blinzelte ihn von der faltigen Stirn aus an. Mit kurzen, schnellen Schritten kam das Tier auf ihn zu. Den massigen Hinterleib schleifte es hinter sich her wie einen riesigen Rucksack. Verzweifelt versuchte Marten sich zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Das Wesen riss sein Maul auf und setzte zum Sprung an. Trotz seiner Körperfülle flog es geradezu in Martens Richtung. Der zahnlose Kiefer weitete sich um ein Vielfaches. Marten glotzte in lähmender Faszination in den abnormal geweiteten Schlund, bevor sein Kopf in der Speiseröhre des Tieres verschwand. Es ließ sich zurück auf seinen Hinterleib fallen und riss Marten mit zu Boden. Begleitet von grunzenden Geräuschen würgte es ihn hinunter; wie eine Ente ein Stück Brot. Bereits nach wenigen Sekunden war der Körper des Anwalts verschwunden und das Wesen wirkte noch voluminöser als zuvor.
Der Schrei klang erstickt, als sei der Schreiende mit einem dicken Wollschal geknebelt. Mikas Hand wurde losgelassen, langsam öffnete er die Augen. Auf den ersten Blick sah es aus, als trage der Polizist eine übergroße Fellmütze, deren unförmige Ränder bis zu seinen Schultern reichten. Seine Hände waren in dem Körper des Wesens vergraben, blindlings stolperte der Beamte über die leere Straße, verlor das Gleichgewicht und fiel. Einige Sekunden lang zuckten noch seine Beine, dann blieb er reglos liegen. Der Verdauungsprozess hatte bereits eingesetzt. Das Wesen gab einen kehligen Laut von sich und der Körper des Polizisten verschwand bis zur Hüfte.
Langsam drehte sich Mika um. Der Schnauzer war in seiner Bewegung erstarrt. In der rechten Hand hielt er seine Dienstwaffe, seine Augen waren weit aufgerissen. Ein dünner Speichelfaden hing von seinem Mundwinkel herab. Er sah Mika an. Sein Verstand hatte sich ein sehr tiefes Loch gegraben, aus dem ihn wohl niemand mehr herauslocken konnte.
Der andere Polizist existierte nur noch von den Kniekehlen abwärts. Die beige Hose wurde hochgezogen und entblößte blasse Waden und weiße Tennissocken.
Mika hörte ein dumpfes Aufschlagen, langsam drehte er den Kopf. Die Pistole lag vor ihm auf der Straße. Der Rücken des Schnauzers wurde langsam kleiner. Die Sohlen seiner Lederschuhe klatschten rhythmisch und die Tropfen aus seinem rechten Hosenbein hinterließen eine dunkle Spur auf dem Asphalt.
Mika sah ihm noch einen Augenblick nach. Er dachte an die Liste in seiner Tasche. Er hatte sie vorhin erst geschrieben, nachdem er den Anwalt im Innenhof eingesperrt hatte. Anfangs hatte sie nur aus zwei Namen bestanden, doch mittlerweile waren es mehr als zehn. Und es würden bestimmt noch mehr werden. Mika wusste nicht, wie lange ihre Reise dauern würde. Doch er wusste, dass er einigen Menschen einen Besuch mit seinem neuen Freund abstatten würde.