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Aus einem Leben
„Ach, du babysittest?“
Alice lächelt zurück. „Nicht direkt.“
Etwas verlegen steht sie von der Bank auf, auf der sie die letzten paar Minuten in der Sonne gesessen hat. Vor ihr steht Frau Burg, Alice’ ehemalige Lehrerin und beäugt den Kleinen, der in seinem Kinderwagen liegt und schläft. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht.
„Philipp ist mein Sohn.“ Alice vermeidet es, Frau Burg in die Augen zu schauen und betrachtet stattdessen die Grasbüschel neben deren Beinen. Die Begegnung ist ihr unangenehm, am liebsten würde sie mit dem Kleinen und seinem Kinderwagen verschwinden. Irgendwohin, wo sie niemand kennt und ihr keine Fragen gestellt werden.
„Du kannst dich gern wieder hinsetzen“, sagt Frau Burg, „wir sind hier ja nicht in der Schule.“ Mit leichtem Bedauern fügt sie hinzu: „Heutzutage stehen die Kinder sowieso nicht mehr auf, wenn ich komme.“
Alice lächelt etwas unangenehm berührt und setzt sich wieder. Frau Burg nimmt neben ihr Platz, und Alice verspürt unwillkürlich den Drang, zur Seite zu rutschen. Sie kann sich zwar kaum noch an ihre Grundschulzeit erinnern, weiß aber noch, dass sie Frau Burg damals nicht sonderlich leiden konnte.
„Darf ich überhaupt noch „du“ sagen? Wie alt bist du jetzt?“
Gut vorbereitet, die Frage. Alice ist einen Moment lang versucht, zu lügen, entscheidet sich aber doch für die Wahrheit.
„Ich bin siebzehn.“
„Das ist reichlich jung für eine Mutter.“
Alice kann den Satz nicht mehr hören, so abgedroschen erscheint er ihr. Sie beißt sich auf die Lippen und erwidert: „Man ist immer so alt, wie man sich fühlt.“
Frau Burg lacht auf. „Gut gekontert, Alice. Und da ist sogar was Wahres dran. Ich habe mit fünfundvierzig beschlossen, nicht mehr älter zu werden. Bisher hat es gut geklappt.“
Alice beschließt, ebenfalls indiskret zu sein. „Und biologisch sind sie wie alt?“
„Das hab bei all meiner jugendlichen Frische vergessen“, sagt Frau Burg und lächelt ihr verschmitzt zu. „Und du hast Recht, biologisches Alter ist eigentlich kein Maßstab. Also, wie alt fühlst du dich denn?“
Alice spürt ihren schmerzenden Rücken und ihre schweren Beine, denkt an die Nächte, in denen sie nicht schlafen kann und ihre vielen Streitereien mit Ruben, seit der Kleine da ist. Um wie viele Jahre ist sie in den letzten Monaten gealtert?
„Ich weiß es nicht.“
Frau Burg lehnt sich zurück und streckt ihre Beine aus.
„Wohnst du noch bei deinen Eltern?“
Bei dem Gedanken, was ihre Mutter dazu sagen würde, fährt Alice ein Schauer über den Rücken. Sobald sie von der Schwangerschaft erfahren hatte, war klar gewesen, dass Alice ausziehen würde. Eine Alternative hatte es nie gegeben.
„Ich bin nach Philipps Geburt mit Ruben zusammengezogen. Wir leben in einer Wohnung im Haus seiner Großeltern. Ruben ist mein Freund“, fügt sie schnell hinzu.
„Kind und Haushalt also. Das hätte ich mit siebzehn nicht auf die Reihe bekommen.“
Ich bin auch schwer am kämpfen, möchte Alice am liebsten sagen, aber sie schweigt. Es geht Frau Burg schließlich nichts an. Es geht niemanden was an. Sie hält ihren Kopf in die Sonne und schließt die Augen. Am liebsten würde sie ewig so sitzen bleiben, in Ruhe und mit warmem Gesicht.
„Machst du eine Ausbildung?“
Alice blinzelt irritiert. „Ich gehe zur Schule. In zwei Jahren mache ich das Abitur, wenn ich es schaffe.“
Dass sie daran zweifelt, sagt sie nicht. Sie hat kaum noch Zeit, richtig zu lernen.
„Warum solltest du nicht? Du warst doch immer gut. Damals zumindest.“ Frau Burg greift nach ihrer Handtasche, die sie neben die Bank gestellt hat und steht auf. Dabei verfangen sich ein paar Haarsträhnen in den Zweigen eines Baumes, dessen Äste über der Bank hängen. Ungeduldig befreit Frau Burg ihre Haare und reicht Alice dann die Hand. Ein paar hellgrüne Blätter haben sich noch in ihrer Frisur verfangen.
„Hat mich gefreut, dich wieder zu sehen, Alice. Ich wünsche dir alles Gute.“
Alice murmelt „Tschüß“ und atmet erleichtert auf, als sich ihre ehemalige Lehrerin wieder auf den Weg macht. Sie legt den Kopf wieder in den Nacken, aber irgendwie kann sie sich nicht mehr richtig entspannen. Und als dann der Kleine aufwacht und zu jammern beginnt, beschließt sie seufzend, wieder nach Hause zu fahren.
Ruben ist schon da, als Alice nach Hause kommt. Er sitzt auf der Couch und schaut fern. Als sie mit dem Kleinen auf dem Arm eintritt, schreckt er auf und macht ein schuldbewusstes Gesicht.
„Hey.“
„Hey. Du wolltest doch aufräumen.“ Alice legt Philipp in sein Bett, Ruben folgt ihr und bleibt in der Tür stehen.
„Ich weiß.“
Alice spürt, wie sie wütend wird.
„Ja und? Warum hast du nicht?“
„Ich hatte keine Lust. Und deine Mutter hat angerufen, du sollst zurückrufen.“
„Wechsel nicht das Thema.“
Ruben wirkt noch zerknirschter.
„Tut mir Leid, wirklich. Ich fang dann mal an, ja?“
Er geht in die Kochecke und beginnt damit, einige Gläser abzuspülen. Alice beobachtet ihn eine Weile, und greift dann zum Telefon. Ihr jüngster Bruder meldet sich gleich nach dem ersten Läuten.
„Luis, ich bin’s. Gibst du mir Mama?“
Ruben fährt ihr kurz übers Haar, während er zum Couchtisch läuft, um von dort Teller zu holen. Alice presst den Hörer fester ans Ohr.
„Hallo?“
„Du hattest angerufen.“ Alice merkt, dass ihre Stimme kälter klingt, als sie es beabsichtigt.
„Alice. Ich bring dir morgen Luis und Janne vorbei. Ich muss weg, du musst auf sie aufpassen. Du hast ja Ferien.“ Ihre Mutter hört sich so an, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders.
„Ich kann aber nicht.“
„Wie, du kannst nicht? Du hast doch Ferien? Luis und Janne haben auch Ferien. Außerdem ist es Wochen her, seitdem du die beiden das letzte Mal gehabt hast.“
„Mama, vielleicht hab ich mittlerweile etwas anderes zu tun als auf die beiden aufzupassen. Frag doch Pascal.“
„Der geht zu seiner Freundin, da kann er die beiden nicht gebrauchen. Warum solltest nur du ein Privatleben haben?“
„Ich habe einen Sohn, Mama. Das ist etwas anderes. Ich hab noch eine Familie außer eurer.“
„Mein Gott, Alice, es ist doch nur für ein paar Stunden.“ Ihre Mutter klingt ungeduldig. „Steig mal runter von deinem hohen Ross. Du bist jetzt nichts besseres, nur weil du woanders wohnst.“
Alice holt tief Luft. „Lass mich in Ruhe.“
„Du bist wirklich undankbar, Alice. Du könntest mir auch mal einen Gefallen tun.“
„Ich will dir keinen Gefallen tun. Bring Luis und Janne woanders unter. Außerdem ist Luis elf, und Janne sieben, die könnten auch mal ein paar Stunden alleine bleiben.“
„Eben, sie werden dir keine Arbeit machen.“
„Doch, werden sie!“, Alice wird lauter, „das tun sie immer. Unsere Wohnung ist nicht groß, Mama, wir haben kaum Platz für uns drei. Ich kann Luis und Janne hier nicht gebrauchen. Ich muss mich um Philipp kümmern, den Haushalt erledigen und sollte auch mal was lernen. Und vielleicht könnte ich mich mal um mich kümmern.“
„Du warst schon immer egoistisch.“ Alice merkt, dass auch ihre Mutter wütend wird. „Meine Güte, da zieht man siebzehn Jahre ein Kind auf und wie wird einem das gedankt? Überhaupt nicht. Auf einmal ist sich das Fräulein Tochter zu fein, mal ein paar Stunden die Kleinen zu nehmen. Vielen Dank, Alice. Wirklich, du bist mir eine große Hilfe.“
Mit dem Zynismus ihrer Mutter konnte Alice noch nie umgehen. Tränen der Wut steigen in ihre Augen und sie blinzelt schnell, damit Ruben nichts davon bemerkt.
„Lass mich in Ruhe, Mama, lass mich einfach in Ruhe, ja? Ich will nicht. Es geht nicht. Lass mich in Ruhe. Bitte.“
Ihre Stimme beginnt zu zittern. Sie weicht Rubens Blick aus und dreht sich zum Fenster. Im Sonnenschein sieht man deutlich, dass es wieder geputzt werden müsste.
„Na gut, dann eben nicht. Aber wehe, du bringst mir deinen Kleinen mal vorbei, dann schlag ich dir die Türe vor der Nase zu.“ Ihre Mutter legt auf.
Alice hält immer noch den Hörer umklammert und versucht vergeblich, die Tränen zurückzuhalten. Ruben tritt neben sie.
„Hey, Alice, was ist denn los?“ Er streicht ihr vorsichtig übers Gesicht. Alice beginnt hemmungslos zu schluchzen, Ruben nimmt sie etwas überrascht in die Arme und hält sie fest. Er schweigt, fährt ihr über die Haare und wartet, bis sie sich beruhigt hat. Dann zieht er sie neben sich aufs Sofa.
Alice reibt sich die Augen und versucht, ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Wir müssen unbedingt mal Fenster putzen.“
Über Rubens Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. „Das macht dich so fertig, Alice? Dass wir schmutzige Fenster haben?“
Auch Alice muss lächeln. Dankbar blickt sie Ruben an, die ganze Situation erscheint ihr plötzlich weit weniger tragisch. „Mama wollte die Kleinen hier abliefern, und ich hab ihr gesagt, dass es nicht geht. Dann ist sie sauer geworden.“
Sie schämt sich vor Ruben. Immer ist sie diejenige, die solche Probleme bekommt – mit seinem ausgeglichenen Naturell hat er fast nie mit jemandem Streit, schon gar nicht mit seiner Familie.
„Also erstmal ein potentieller Babysitter weniger“, grinst Ruben „das verkraften wir schon. Wenn deine Schule wieder anfängt, hab ich ja erst mal Urlaub. Und meine Familie ist ja ohnehin völlig verrückt nach dem Kleinen, die sind sicher für uns da, wenn es mal klemmt.“
Alice lehnt sich zurück und genießt es, Ruben nahe sein zu können. Sie greift nach seiner Hand und verschränkt ihre Finger mit seinen.
„Deine Familie ist toll, Ruben“, meint sie leise.
Er küsst sie auf die Wange. „Weißt du, welche Familie am besten ist?“, flüstert er. „Unsere, Alice. Du und ich und Philipp, wir sind die besten. Wir drei.“
Später am Abend klingelt das Telefon. Es ist Janne, Alice’ Schwester, die anruft.
„Mama sagt, du magst uns nicht mehr“, verkündet sie.
„Das stimmt nicht, Janne.“
„Sie sagt, du willst uns nie mehr wieder sehen. Weil du jetzt besser sein willst als wir.“
„Ich will nicht besser sein als ihr. Ich kann nur morgen nicht auf euch aufpassen, weil ich jetzt selber ein Kind habe, auf das ich aufpassen muss.“
„Oh.“ Janne schweigt.
„Ich hab dich lieb, Janne. Dich und Luis und Pascal auch. Egal, was Mama sagt.“
„Und Mama, hast du die auch lieb?“
Alice wirft Ruben einen hilfesuchenden Blick zu, aber der vertieft sich gerade ins Fernsehprogramm.
„Hast du sie lieb oder nicht?“
„Ich will dazu eigentlich nichts sagen, Janne.“
„Sie sagt, du bist gemein zu ihr. Man ist nicht gemein, wenn man jemanden lieb hat.“
„Ich glaube, manchmal spielt das keine Rolle.“
„Dass du gemein bist?“
„Nein, dass ich sie lieb habe.“
„Also hast du sie lieb“, beharrt Janne.
Ihre Schwester hat Recht, erkennt Alice. „Ja, sicher.“ Um sich selbst noch mal zu überzeugen, begleitet sie ihre Worte mit einem kräftigen Nicken.
„Wollt ich nur wissen“, meint Janne am anderen Ende, „gute Nacht.“ Sie legt auf.
„Na, alles wieder geklärt?“, murmelt Ruben, als sie sich zu ihm setzt.
Am nächsten Tag klingelt es an der Wohnungstür. Alice wechselt gerade Philipps Windeln. Als sie die Stimmen von Luis und Janne hört, fährt sie überrascht auf und schlägt sich den Kopf an.
„Aliiiice!“ Janne kommt in Philipps Zimmer gestürmt und blickt überrascht auf ihre ältere Schwester, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stirn hält.
„Hallo Janne“, presst Alice hervor, „was machst du denn hier?“
„Ruben, Alice hat sich verletzt.“ Janne zerrt Ruben an seiner Hand in das kleine Kinderzimmer. Luis folgt den beiden und quetscht sich in die einzige freie Ecke zwischen der Türe und dem Kinderbett.
„Mir geht es gut. Nichts passiert“, antwortet Alice auf Rubens besorgten Blick, „was macht ihr überhaupt hier?“
„Du sollst auf uns aufpassen“, sagt Luis und spielt mit Philipps Mobile, „Mama hat gesagt, das macht dir nichts aus.“
„Du hast uns nämlich lieb“, fügt Janne hinzu.
Ruben scheint amüsiert. „Schau nicht so entsetzt“, sagt er zu Alice, „jetzt sind sie nun mal da, du wirst sie schlecht wieder rauswerfen können.“
„Ja, genau das wird sie auch gedacht haben“, presst Alice zwischen den Zähnen hervor. Der Kleine kräht. Sie zieht Philipp seinen Strampelanzug wieder an und nimmt ihn auf den Arm.
„Geht mal raus hier, bitte. Ich muss mit Ruben sprechen.“
„Da stören wir nicht“, sagt Janne bestimmt und spielt mit Philipps Zehen.
„Oh, und wie ihr stört“, erwidert Alice grimmig. „Eigentlich wollten wir Großputz machen.“
„Da können wir doch helfen“, mein Luis schüchtern. „Janne staubt ab, und ich feg den Boden.“
Ruben legt ihr die Hand auf die Schulter. „Machen wir das beste draus, Alice. Sie könnten vielleicht wirklich helfen.“
Alice lächelt ihm gequält zu. „Du blöder Optimist.“
Zwei Stunden später sind zumindest Philipps Zimmer und das Bad wieder sauber. Janne spielt mit dem Kleinen, während Ruben und Luis den Boden fegen. Alice faltet die Wäsche zusammen.
„Siehst du, wie wir helfen können“, meint Janne vorwurfsvoll. „Ich kann sogar schon allein auf Philipp aufpassen.“
„Darauf kommen wir in Zukunft zurück“, droht Ruben und wuschelt Janne durch die Haare. Alice muss bei der Vorstellung grinsen.
„Ja, tut mir wirklich leid, Janne. Ihr habt uns ganz toll geholfen. Ich mach noch die Wäsche fertig, und dann essen wir was, hm?“
„Ich hab jetzt ein Fotohandy von Mama bekommen“, erzählt Luis, als sie wenig später am Tisch sitzen und Brote schmieren, „Großtante Herta ist gestorben, da hat Mama Geld geerbt.“
Alice hält inne.
„Wie nett von ihr.“
„Wir durften uns alle was wünschen“, sagt Janne fröhlich, „ich hab das Barbiehaus bekommen und Pascal einen Motorroller.“
„Mir hat sie nichts geschenkt“, sagt Alice.
„Du bekommst ja auch ganz viel Geld von der Regierung“, beschwichtigt Luis.
„Ja wirklich?“ Ruben klingt amüsiert. „Dann müssten wir ja reich sein.. Warum hast du mir nichts erzählt, Alice?“
„Sie kriegt Geld für sich und Geld für Philipp und noch Geld, weil sie in die Schule geht. Mama sagt, ihr seid ganz schön reich, weil Ruben auch noch arbeitet.“
„Ich mache eine Ausbildung, da verdiene ich nicht viel“, erklärt Ruben. „Und von der Regierung bekommen wir auch nur wenig Geld. Wenn meine Großeltern uns nicht hier wohnen lassen würden, hätten wir nicht genug für uns drei.“
„Du lügst. Mama sagt was anderes.“ Janne schaut Ruben wütend an. „Sie sagt, ihr seid reich.“
Alice schnaubt empört auf. „Mama sagt viel, wenn der Tag lang ist.“
„Du sollst nicht so von Mama reden. Sonst wird sie wütend auf dich.“
„Das ist mir egal, Janne. Das ist mir scheißegal.“
„Nicht rumfluchen!“ brüllt Janne, „hier sind Kinder im Zimmer!“
„Du bist auch noch ein Kind, Alice.“ Luis blickt sie herausfordernd an. „Wenn Mama wollte, könnte sie dir befehlen, dass du wieder heim musst. Dann darfst du hier gar nicht mehr wohnen.“
Alice ballt die Hände unter dem Tisch zu Fäusten.
„Darüber redet sie mit euch?“ Ruben runzelt die Stirn.
„Und sie darf auch bestimmen, wo Philipp wohnt. Weil Alice noch viel zu jung ist, um ein Kind zu haben.“
Ruben schüttelt den Kopf. „Ich habe das Sorgerecht für Philipp. Und sobald Alice Geburtstag hat, wird sie es ebenfalls bekommen. Ich darf bestimmen, wo er lebt.“
„Du lügst!“, schreit Janne wütend, „Philipp gehört zu unsrer Familie. Du bist auch noch viel zu klein. Das können nur Erwachsene.“
„Ich bin erwachsen, Janne“, sagt Ruben, „ich bin neunzehn und alt genug, um für mich und Philipp zu entscheiden. Und Alice wird das auch bald sein.“
Janne hält sich die Ohren zu. „Du lügst, du lügst. Das sag ich Mama, dann bestimmt sie, dass Alice wieder heimkommt.“
Alice möchte widersprechen, aber irgendwie fehlt ihr die Lust, sich mit ihrer kleinen Schwester zu streiten. Die Stimmung ist angespannt; niemand rührt sich, bis Luis die Stille unterbricht.
„Das will Mama doch gar nicht“, sagt er leise. „Sie ist froh, dass du weg bist, Alice.“ Tränen laufen aus seinen Augen, als er den Kopf hebt und Alice anschaut.
„Aber ich will es!“ schreit Janne und schaut erschrocken auf, als Philipp im Kinderzimmer anfängt zu weinen. Ruben steht vom Tisch auf.
„Es tut mir so leid, Alice.“ Luis’ Gesicht ist tränenüberströmt, als er mit erstickter Stimme weiter spricht. „Ich wollte dich doch nur besuchen kommen und hab Mama gesagt, sie soll bei dir anrufen. Dass wir kommen können. Es ist so blöd daheim, ohne dich. Pascal ist immer weg, er hat nie Zeit für uns. Und er ist nicht wie du, Alice.“
„Er erzählt uns keine Gutenachtgeschichten“, jammert Janne, die nun auch weint, „und er hilft uns nicht bei den Hausaufgaben und überhaupt ist niemand so wie du. Zieh wieder bei uns ein, bitte, Alice. Komm zurück zu uns.“
Ruben bleibt mit Philipp auf dem Arm in der Türe stehen. Verblüfft beobachtet er Alice, die ihre Tränen ebenfalls nicht mehr zurückhalten kann.
„Ihr fehlt mir doch auch, Janne“, sagt sie leise, „aber Mama und ich, das geht einfach nicht gut. Das klappt nicht. Ich kann nicht mehr zurück zu euch.“
Alice erinnert sich ungern an die Zeit vor Philipps Geburt, an die ständigen bissigen Kommentare und ihre andauernde Heulerei. Ihr Leben mit Ruben und Philipp erscheint ihr plötzlich sehr harmonisch.
Janne springt vom Tisch auf, der Stuhl fällt hinter ihr um. „Ich hasse dich, Alice. Du bist echt gemein.“ Sie läuft ins Badezimmer und schließt die Tür hinter sich ab.
„Das hat sie nicht so gemeint“, versichert Luis unter Tränen.
„Ich weiß“, sagt Alice leise. „Ist schon gut, Luis, ich weiß.“
Luis steht auf und wischt sich die Nase mit dem Ärmel ab. „Können wir dich nicht hin und wieder besuchen kommen, Alice, bitte? Wir machen keine Arbeit, echt nicht.“
Alice schluchzt auf. „Aber sicher, Luis. Kommt so oft ihr wollt, ihr seid hier immer willkommen.“
„Sagen wir, einmal pro Woche“, schränkt Ruben ein, „jeden Sonntagmittag zum Beispiel. Und dann können wir auch etwas Schöneres machen als die Wohnung putzen, mit Philipp spazieren gehen oder Brettspiele spielen oder so was.“
„Wir können ruhig immer putzen“, tönt es gedämpft aus dem Badezimmer, „das macht mir gar nichts aus.“
„Mir auch nicht“, versichert Luis.
Alice fährt sich mit dem Handrücken über die Augen und wischt die Tränen ab.
„Komm doch da raus, Janne“, ruft sie in Richtung Badezimmer.
„Wann wollte eure Mutter euch abholen?“, fragt Ruben später, als sie auf dem Sofa sitzen und unter viel Gelächter Stille Post spielen.
„Ich soll sie anrufen“, meint Luis.
„Solltest du nicht bald ins Bett, Janne?“
„Doch“, meint Janne kleinlaut, „vor einer halben Stunde.“
Ruben grinst. „Du bist echt unmöglich, Kleine. Luis, du weißt dann ja, was zu tun ist.“
Alice blickt etwas neidisch auf das Handy, als es ihr Bruder vorsichtig aufklappt und die Telefonnummer eingibt. Dann fängt sie Rubens Blick auf, der ihr verständnisvoll zulächelt, und errötet.
„Wir sollen unten warten“, sagt Luis, als er auflegt. Etwas steif steht er auf und reicht Alice die Hand, bis sie die Arme um ihn legt und ihn fest an sich drückt. Janne fängt wieder an zu weinen, als sie sich umarmen; wischt sich aber die Tränen ab, während sie die Wohnung verlässt. Alice schaut auf die Tür, die sich hinter den beiden geschlossen hat und wünscht sich, sie wären länger geblieben.
„Fehlen sie dir sehr?“, fragt Ruben hinter ihr.
Alice hebt die Schultern. „Ich vermisse sie. Aber ich will nicht zurück.“
Ruben atmet auf. „Ich lebe gern mit dir zusammen, Alice. Ich sag das vielleicht nicht oft, aber es ist so. Ich wüsste nichts Schöneres.“
„Ich liebe dich auch“, flüstert Alice.
Philipp schläft in dieser Nacht zum ersten Mal durch.