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Aus seiner Sicht

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08.11.2004
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Aus seiner Sicht

„Also...warum sind Sie hier?“

„Eine gute Frage. Freiwillig wäre ich sicher nicht gekommen. Ich musste ja. Dabei habe ich überhaupt nichts getan.“

„Ach nein?“

„Natürlich nicht. Hören Sie. Sie sind doch sicher ein vernünftiger Mensch. Wenn Sie es nicht wären, würden Sie ja wohl nicht hier sitzen und sich das Geschwafel von irgendwelchen Geisteskranken anhören, nicht wahr?“

„Nun, wir haben alle unsere Fehler. Wir alle.“

„Ja, aber nicht jeder wird deshalb zum Therapeuten geschickt. Tz, nette Umschreibung für Seelenverpfuscher...“

„...oh, vielen Dank.“

„Es tut mir ja Leid, aber verstehen Sie mich doch; dafür werden Sie ja schließlich bezahlt. Ich bin heute Morgen aufgewacht, ging wie üblich, ja wie an jedem anderen Tag auch, aus meiner Haustür hinaus, um zu joggen. Ich joggte also die Straße hinunter, bis zum Zentrum meiner Stadt, von dem ich ziemlich entfernt wohne. So, und da geht mir doch die Puste aus und...“

„Ja? Was geschah dann?“

„Dann hörte ich diesen Aufprall...“

„Aufprall?“

„Ja, einen Aufprall. Als wenn etwas auf ein großes Stück Blech fallen würde.“

„Und was war es? Ein Autounfall? Wurde jemand angefahren?“

„Nein. Etwas fiel auf einen dieser großen grauen Müllcontainer.“

„Was fiel darauf?“

„Ich dachte erst es wäre eine Katze oder ein großer Vogel. Aber dafür war der Aufprall doch zu laut gewesen. Ich ging also hin, um nachzusehen. Und da sah ich es – ein Kind. Vielleicht sieben oder acht Jahre alt.“

„War das Kind am Leben?“

„Ja, war es. Es atmete aber schwer. Hören Sie doch. Deshalb bin ich ja hier. Da finde ich ein Kind und schon lande ich beim Psychiater.“

„Machen Sie uns beiden das Leben nicht noch schwerer. Sie wollen hier doch sicher bald wieder weg, oder? Also was machten Sie mit dem Kind?“

„Das klingt ja so, als ob Sie mir unterstellen würden, dass ich dem Kind etwas getan hätte. Nicht alle Menschen sind Geier, nicht alle. Ich nicht. Das Kind fiel von diesem Container auf ein paar Müllsäcke. Es war richtig tief eingewühlt in diese blauen Plastiksäcke. Es war ganz schmutzig. Und es war nackt...“

„Nackt? Ein nacktes Kind ist also auf einen Müllcontainer gefallen...?“

„Ja. Und mager war es. Beim Einatmen krümmte sich der Brustkorb des Kindes richtig nach oben und man sah jede Rippe. Außerdem schluchzte es fürchterlich. Es war ein richtig jämmerlicher Anblick.“

„Sie haben darauf sicherlich die Polizei verständigt, oder?“

„Nein, erst später. Zwar war kein Krankenhaus in der Nähe, dafür aber eine Arztpraxis. Besser als nichts. Ich hob das Kind also auf...und da sah ich es dann...“

„Was war es?“

„...kleine zerknickte Flügel. Braun, dreckig.“

„Flügel? Wie bei einem...?“

„Ja doch! Ganz genau so. Auch mit Flügeln aus Federn. Am Rücken.“

„Und Sie...?“

„Ich kann nicht sagen, wie erschreckt ich war. Ich ließ dieses Kind oder was es war sofort los und schrie es an.“

„Sie schrieen es an? Wieso?“

„Ich dachte, das wäre, nun ja...wie realistisch halten Sie es, dass man einfach so, am helllichten Tage so ein Ding findet. Bei einem verdammten Müllcontainer!? Würden Sie da nicht schreien!?“

„Warum haben Sie denn aber dieses ‚Geschöpf’ angeschrieen, das da halbtot zwischen den Mülltüten lag? Das war doch nicht seine Schuld?“

„O Gott! Da lag ein fast toter...Engel...auf dem Boden! Kein ‚Geschöpf’! Ein Engel! Ich bin seit zwanzig Jahren aus der Kirche, nein aus meinem Glauben ausgetreten und da liegt eines Tages ein Engel in einer Gasse!“

„...Tja, ein Engel. Was haben Sie dann getan?“

„Ich wollte weglaufen. Zur Polizei, nach Hause oder sonst wo hin. Ich hatte Panik...“

„...Angst...?“

„Ja und wie. Doch dann bekam ich den Zwang es anzufassen. Dieses Ding musste ich einfach noch einmal richtig berühren, spüren, dass es wirklich da war.“

„Und wie fühlte es sich an?“

„Es öffnete plötzlich die Augen. Sie waren schwarz. Ganz schwarz. Schwärzer als alles sonst, was man in seinem Leben zu sehen bekommt. Und da neigte sich der Brustkorb wieder und es schien mit dem Atmen vollends aufzuhören. Doch unerwartet sprang es auf, aber nicht sehr hoch. Es war viel mehr wie ein reflexartiges Zucken oder so etwas. Kaum wieder auf dem Boden wollte es an mir vorbei gelangen. Aber es war viel zu schwach und die Flügel schlugen so unermüdlich. Es war so wenig Leben noch in ihm. Auf allen Vieren versuchte es abzuheben und wegzufliegen. Und dabei kreischte es regelrecht. Wie eine Mutter, deren Kind gerade gestorben war. Es verlor dabei so viel Kraft, ich dachte es würde vor Schmerzen sterben. Ich wollte es festhalten, doch ich konnte die Flügel einfach nicht zu fassen kriegen...ein Hahn ohne Kopf, der in Kreisen in den Tod rennt...“

„Er starb, nicht wahr? Der Engel starb...“

„Ja. Und während er starb, sah er mich an. Mit diesen schwarzen Augen. Das kann ich nicht vergessen.“

„Gingen Sie dann zur Polizei?“

„Nein. Ich war wie paralysiert. Ich hob den...Engel...auf und nahm ihn in den Arm, kniete und weinte. Irgendwann wurde ein anderer Passant darauf aufmerksam und rief die Polizei.“

„Die Polizei fand Sie, verhörte Sie, schickte Sie zu mir.“

„Ja.“

„Und der Engel?“

„Ich legte ihn in den Container, damit die Polizei ihn nicht finden würde.“

„Warum sollte die Polizei ihn nicht auffinden?“

„Es war doch mein Engel! Nur ich durfte ihn sehen und niemand sonst! Niemand sonst! Das war Schicksal!“

„Es war gar kein Engel, nicht wahr?“

„Doch. Er war dünn und...“

„Nein. So war es nicht.“

„Oh doch! Ich bin doch nicht verrückt! Ein Engel! Ein Engel! O Gott, es war doch ein Engel...“

„Alles, was die Polizei fand, war ein geschundener kleiner toter Körper. Mager und voller Schmutz. Aber ohne Flügel.“

„Sie kennen die Geschichte doch gar nicht! Ich war dabei, Sie nicht! Es war ein Engel. Ein Engel war es! Und obwohl er so armselig anmutete, war er doch wunderschön. Wunderschön.“

„So wunderschön, dass sie es töten mussten, das Kind, ja? Sie haben ein Kind getötet. Es war kein Engel. Kein Engel. Verstehen Sie das?“

„Nein. Es war ein Engel. Es war mein Engel. Und ich habe ihn geliebt. Geliebt habe ich ihn. Dieses dreckige schäbige Mistding. Weil es ein Engel war!“

„...Unsere Stunde für heute ist um. Ich sehe Sie morgen wieder.“

„Muss das sein? Ich will wieder nach Hause.“

„Ja, es muss.“

„Und was wird aus meinem Engel? Ich habe ihn doch so geliebt. So sehr geliebt.“

„Er ist tot.“

 

Meine Anmerkung:

Ich habe diese Geschichte in einer Art Skriptform geschrieben, um bloßen Dialog zu haben. Jedwede Betonungen der Aussagen sowie ausgedrückte Gefühle soll sich der Leser selbst für sich finden.
Nur kurz zur Interpretation; es geht um einen Mann, der pädophil ist, und in dieser Kurzgeschichte einmal die Möglichkeit erfährt, seine Sicht seiner begangenen Tat zu zeigen. Dabei soll es dem Leser erst wirklich so erscheinen, dass der Mann tatsächlich einen Engel fand. Am Ende stellt sich dieser Engel jedoch als vom Mann getötetes Kind heraus, wobei allerdings nichts völlig die Möglichkeit genommen werden soll, dass es sich doch um einen Engel handelte.

 

Hallo anubis737,

lange nichts von dir gelesen. :)
Ob ich ohne deinen Kommentar auf deine Intention gekommen wäre, weiß ich leider nicht. Ich habe ihn vor der Geschichte gelesen. Der Plot beschreibt sicherlich eine Form des Realitätsverlusts, mit dem Kindermörder ihre Tat auch vor sich rechtfertigen. Auf alle Fälle ist "seine Sicht" für ihn notwendig, um vor sich bestehen zu können. Er wird daran glauben. Die aufgebauten verfälschten Gedankengebäude sind deshalb so gefährlich, weil sie das Unrechtsbewusstsein eliminieren. Aber sie sind leider ganz bestimmt auch in der psychologischen Praxis alltägliche Realität. Wie also umgehen mit Menschen, die im (selbst erzeugten)Wahn töten?

Ein Fehler ist mir aufgefallen:

Es war fiel mehr wie ein reflexartiges Zucken
es war viel mehr

Als nächstes ist mir aufgefallen, dass du diese Geschichte sehr anders erzählt hast, als andere von dir. Sehr beschränkt, nicht nur auf den Dialog, sondern auch auf die Koppelung der zufälligen Schicksale, die ineinandergreifen.
Hat mir gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

Es freut mich, sim, dass die Geschichte dir gefallen hat.

Als nächstes ist mir aufgefallen, dass du diese Geschichte sehr anders erzählt hast, als andere von dir.

Selbst ich schaffe es nicht, immer im selben Stil zu schreiben. Wie heißt es doch so schön: Das Leben ist Vielfalt. ;)

 

Friedvolle Grüße

Deine Geschichte geht, meiner Meinung nach, völlig am Thema vorbei. Dein Protagonist betreibt keine Realitätsflucht, er ist schlicht und ergreifend irre. Pädophile sind aber Menschen wie Du und ich, keine Verrückten. Wie ich das verstehe, sind sie süchtig. Süchtig nach Kindern wie ein Alkoholiker nach der nächsten Flasche, oder Junkies nach der nächsten Nadel. Diese Leute für verrückt zu erklären, ist zu einfach.

Was die Geschichte selber anbetrifft, muß ich sagen, das die Erzählweise auch nicht mein Fall war. Ich lese gerne Geschichten, in denen der Autor durch direkte Beschreibung auf das Seelenleben der Protagonisten eingeht. Das Du einen erklärenden Beitrag unter die Geschichte gesetzt hast, zeigt, das Du selber nicht der Meinung bist, den selben Effekt nur durch Dialog erreicht zu haben. Reiner Dialog ist eben zu wenig, um Menschen zu charakterisieren.

Kane

 

Nun, geben denn nicht die meisten Autoren hier kurz zu Anfang nicht eine Stellungnahme zu ihrer Geschichte?

Ich zeige dem Leser hier nicht einen vollkommen irren Menschen, sondern einen Mann, der sein Opfer wirklich als Engel, als heiliges, fast göttergleiches Wesen, angesehen hat. Ich zeige also lediglich diese Relatitätsverzerrung. Nicht mehr und nicht weniger. Ich kann auch gar nicht mit einem bloßen Dialog als Autor über eine Person urteilen. Das hast nur du getan. Du hast wundervoll in den Dialog hineininterpretiert, was ich ja schließlich, wie in meiner Anmerkung nachzulesen, von mir beabsichtigt wurde.
Und es ist doch herzlich gewöhnlich, stets seine Protagonisten vollkommen zu charakterisieren. Ich will dem Leser lediglich einen Ausschnitt aus der Persönlichkeit der Figur präsentieren. Das ist auch nur realistisch. Die meisten Menschen, die man in seinem Leben kennen lernt, stellen sich einem nur in einem einzigen Ausschnitt vor. Mehr erfährt man über sie nicht. Genau wie in meiner Geschichte.

 

Ein Drehbuch, wie niedlich. Doch finde ich gut.
Zwar ist das Drehbuch zu kurz, um genau den Wandel des nuechternen Protagonisten zum verrueckten Paedophilen genau dnachzuvollziehen, im Film waere das aber sehr anschaulich gewesen. Bleib aber bei deinem "normalen" Schreibstil. ;)

 

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