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Aus seiner Sicht
„Also...warum sind Sie hier?“
„Eine gute Frage. Freiwillig wäre ich sicher nicht gekommen. Ich musste ja. Dabei habe ich überhaupt nichts getan.“
„Ach nein?“
„Natürlich nicht. Hören Sie. Sie sind doch sicher ein vernünftiger Mensch. Wenn Sie es nicht wären, würden Sie ja wohl nicht hier sitzen und sich das Geschwafel von irgendwelchen Geisteskranken anhören, nicht wahr?“
„Nun, wir haben alle unsere Fehler. Wir alle.“
„Ja, aber nicht jeder wird deshalb zum Therapeuten geschickt. Tz, nette Umschreibung für Seelenverpfuscher...“
„...oh, vielen Dank.“
„Es tut mir ja Leid, aber verstehen Sie mich doch; dafür werden Sie ja schließlich bezahlt. Ich bin heute Morgen aufgewacht, ging wie üblich, ja wie an jedem anderen Tag auch, aus meiner Haustür hinaus, um zu joggen. Ich joggte also die Straße hinunter, bis zum Zentrum meiner Stadt, von dem ich ziemlich entfernt wohne. So, und da geht mir doch die Puste aus und...“
„Ja? Was geschah dann?“
„Dann hörte ich diesen Aufprall...“
„Aufprall?“
„Ja, einen Aufprall. Als wenn etwas auf ein großes Stück Blech fallen würde.“
„Und was war es? Ein Autounfall? Wurde jemand angefahren?“
„Nein. Etwas fiel auf einen dieser großen grauen Müllcontainer.“
„Was fiel darauf?“
„Ich dachte erst es wäre eine Katze oder ein großer Vogel. Aber dafür war der Aufprall doch zu laut gewesen. Ich ging also hin, um nachzusehen. Und da sah ich es – ein Kind. Vielleicht sieben oder acht Jahre alt.“
„War das Kind am Leben?“
„Ja, war es. Es atmete aber schwer. Hören Sie doch. Deshalb bin ich ja hier. Da finde ich ein Kind und schon lande ich beim Psychiater.“
„Machen Sie uns beiden das Leben nicht noch schwerer. Sie wollen hier doch sicher bald wieder weg, oder? Also was machten Sie mit dem Kind?“
„Das klingt ja so, als ob Sie mir unterstellen würden, dass ich dem Kind etwas getan hätte. Nicht alle Menschen sind Geier, nicht alle. Ich nicht. Das Kind fiel von diesem Container auf ein paar Müllsäcke. Es war richtig tief eingewühlt in diese blauen Plastiksäcke. Es war ganz schmutzig. Und es war nackt...“
„Nackt? Ein nacktes Kind ist also auf einen Müllcontainer gefallen...?“
„Ja. Und mager war es. Beim Einatmen krümmte sich der Brustkorb des Kindes richtig nach oben und man sah jede Rippe. Außerdem schluchzte es fürchterlich. Es war ein richtig jämmerlicher Anblick.“
„Sie haben darauf sicherlich die Polizei verständigt, oder?“
„Nein, erst später. Zwar war kein Krankenhaus in der Nähe, dafür aber eine Arztpraxis. Besser als nichts. Ich hob das Kind also auf...und da sah ich es dann...“
„Was war es?“
„...kleine zerknickte Flügel. Braun, dreckig.“
„Flügel? Wie bei einem...?“
„Ja doch! Ganz genau so. Auch mit Flügeln aus Federn. Am Rücken.“
„Und Sie...?“
„Ich kann nicht sagen, wie erschreckt ich war. Ich ließ dieses Kind oder was es war sofort los und schrie es an.“
„Sie schrieen es an? Wieso?“
„Ich dachte, das wäre, nun ja...wie realistisch halten Sie es, dass man einfach so, am helllichten Tage so ein Ding findet. Bei einem verdammten Müllcontainer!? Würden Sie da nicht schreien!?“
„Warum haben Sie denn aber dieses ‚Geschöpf’ angeschrieen, das da halbtot zwischen den Mülltüten lag? Das war doch nicht seine Schuld?“
„O Gott! Da lag ein fast toter...Engel...auf dem Boden! Kein ‚Geschöpf’! Ein Engel! Ich bin seit zwanzig Jahren aus der Kirche, nein aus meinem Glauben ausgetreten und da liegt eines Tages ein Engel in einer Gasse!“
„...Tja, ein Engel. Was haben Sie dann getan?“
„Ich wollte weglaufen. Zur Polizei, nach Hause oder sonst wo hin. Ich hatte Panik...“
„...Angst...?“
„Ja und wie. Doch dann bekam ich den Zwang es anzufassen. Dieses Ding musste ich einfach noch einmal richtig berühren, spüren, dass es wirklich da war.“
„Und wie fühlte es sich an?“
„Es öffnete plötzlich die Augen. Sie waren schwarz. Ganz schwarz. Schwärzer als alles sonst, was man in seinem Leben zu sehen bekommt. Und da neigte sich der Brustkorb wieder und es schien mit dem Atmen vollends aufzuhören. Doch unerwartet sprang es auf, aber nicht sehr hoch. Es war viel mehr wie ein reflexartiges Zucken oder so etwas. Kaum wieder auf dem Boden wollte es an mir vorbei gelangen. Aber es war viel zu schwach und die Flügel schlugen so unermüdlich. Es war so wenig Leben noch in ihm. Auf allen Vieren versuchte es abzuheben und wegzufliegen. Und dabei kreischte es regelrecht. Wie eine Mutter, deren Kind gerade gestorben war. Es verlor dabei so viel Kraft, ich dachte es würde vor Schmerzen sterben. Ich wollte es festhalten, doch ich konnte die Flügel einfach nicht zu fassen kriegen...ein Hahn ohne Kopf, der in Kreisen in den Tod rennt...“
„Er starb, nicht wahr? Der Engel starb...“
„Ja. Und während er starb, sah er mich an. Mit diesen schwarzen Augen. Das kann ich nicht vergessen.“
„Gingen Sie dann zur Polizei?“
„Nein. Ich war wie paralysiert. Ich hob den...Engel...auf und nahm ihn in den Arm, kniete und weinte. Irgendwann wurde ein anderer Passant darauf aufmerksam und rief die Polizei.“
„Die Polizei fand Sie, verhörte Sie, schickte Sie zu mir.“
„Ja.“
„Und der Engel?“
„Ich legte ihn in den Container, damit die Polizei ihn nicht finden würde.“
„Warum sollte die Polizei ihn nicht auffinden?“
„Es war doch mein Engel! Nur ich durfte ihn sehen und niemand sonst! Niemand sonst! Das war Schicksal!“
„Es war gar kein Engel, nicht wahr?“
„Doch. Er war dünn und...“
„Nein. So war es nicht.“
„Oh doch! Ich bin doch nicht verrückt! Ein Engel! Ein Engel! O Gott, es war doch ein Engel...“
„Alles, was die Polizei fand, war ein geschundener kleiner toter Körper. Mager und voller Schmutz. Aber ohne Flügel.“
„Sie kennen die Geschichte doch gar nicht! Ich war dabei, Sie nicht! Es war ein Engel. Ein Engel war es! Und obwohl er so armselig anmutete, war er doch wunderschön. Wunderschön.“
„So wunderschön, dass sie es töten mussten, das Kind, ja? Sie haben ein Kind getötet. Es war kein Engel. Kein Engel. Verstehen Sie das?“
„Nein. Es war ein Engel. Es war mein Engel. Und ich habe ihn geliebt. Geliebt habe ich ihn. Dieses dreckige schäbige Mistding. Weil es ein Engel war!“
„...Unsere Stunde für heute ist um. Ich sehe Sie morgen wieder.“
„Muss das sein? Ich will wieder nach Hause.“
„Ja, es muss.“
„Und was wird aus meinem Engel? Ich habe ihn doch so geliebt. So sehr geliebt.“
„Er ist tot.“