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Ausgebrannt
„...“
Pause.
Irgendwie fühle ich, dass sie eine Frage gestellt hat, habe aber keine Ahnung, was sie will. Noch nicht einmal grob kann ich das Thema einschätzen. Jennifers Wortschwall fing schon vor unserem Spaziergang, daheim in der Wohnung an, plätschert seit Stunden über mich hinweg. Am Anfang habe ich an den passenden Stellen noch „hms“ und „ahas“ von mir gegeben, bevor ich ganz weggedriftet bin. Wenn ich nicht bald etwas sage, wird sie misstrauisch.
„Entschuldige, sagst du das noch einmal?“
Dieses blöde Klischee: Ein Mann – ein Wort. Eine Frau – ein Wörterbuch. Dabei weiß ich es doch und habe Verständnis dafür, dass wir in verschiedenen Lebensbereichen sind. Ich muss ständig mit Leuten reden, mein Handwerk ist es, zuzuhören, nicht nur die harten Fakten zu erfassen, die sie absichtlich äußern, sondern auch die Feinheiten, die sie gar nicht mitteilen wollen. Sie ist den ganzen Tag über allein und vermisst jetzt, wo sie das Examen endlich geschafft hat, ihre Kommilitonen, und mit ihnen die interessanten Gespräche, die sie immer geführt haben. Sonntag bedeutet für sie, sich endlich in Ruhe mit mir auszutauschen, alle Themen zu bereden, für die in der Woche keine Zeit bleibt. Ich dagegen will am Wochenende nur meine Ruhe, und mich stören schon die anderen Passanten um uns herum.
Ich drehe mich kurz um und sehe, wie viel des Weges wir schon hinter uns gelassen haben. Eben noch sind wir aus dem Auto gestiegen, vorbeigegangen an den etwa dreißig Gänsen, die uns wie allen Besuchern schon auf dem Parkplatz entgegenkamen, neugierig und fordernd, in der Hoffnung auf mitgebrachte Körner oder altes Brot. Jennifer hat mich angestupst, lachend aufmerksam gemacht auf die unbekümmerten Vögel, die dreist auf der Straße zwischen Parkplatz und See wandelten und den Autofahrern bei der An- und Abfahrt eine Zwangspause bescherten. Das Recht der Vorfahrt ist manchmal relativ.
Mist, schon wieder nicht zugehört. „Bitte, was?“, frage ich sie wieder.
„6,9 Diagonale,“
Wovon spricht sie bloß? Mini-Fernseher?
„Damit ist das Display fast so groß wie die Fotos selbst.“
Ach so, digitale Kameras. Erleichterung.
„Und die hast du dir jetzt gekauft?“, versuche ich, wieder ins Gespräch einzusteigen.
„Du hörst ja überhaupt nicht zu!“
Sie bleibt abrupt stehen, stemmt die Hände in die Hüften, so dass sie fast von zwei alten Damen angerempelt wird. „Die ganze Zeit erzähle ich dir von den Apparaten, zwischen denen ich mich nicht entscheiden kann. Und du fragst jetzt einfach, ob ich mir die schon geholt habe?“ So langsam dämmert es mir. Ach ja, zu Hause hatte sie Prospekte gewälzt. Als wenn ein dichter Nebelschleier sich nach und nach auflöst, sehe ich meine Frau zum ersten Mal seit unserer Abfahrt deutlich neben mir, und ich erschrecke über ihre Mimik. Die Augen funkeln, die Augenbrauen sind zusammengezogen, und über ihrer Nasenwurzel hat sich wieder die kleine Furche gebildet, die in den letzten Monaten an Tiefe zuzunehmen scheint. Jennifer ist wirklich böse, und ich kann es ihr nicht verdenken. Aber so einfach mache ich es ihr nicht. „Ich hab’ da was verwechselt“, maule ich und gehe langsam weiter. Zögernd folgt sie mir.
Ich werfe noch einen Blick zurück: Jetzt sind wir schon ein gutes Stück von der Brücke an der Straße entfernt, gehen weiter am Ufer entlang, der Sonne entgegen. Die Menschen um mich herum sind mir unbekannt; wir werden gerade von einer gemischten Gruppe mit Walking-Stöcken überholt. Ich erschrecke, denn ich habe keine Ahnung, womit ich die letzten Minuten verbracht habe. Bestimmt waren meine Gedanken auch nicht interessanter als das Geplapper von Jennifer, aber Tatsache ist: ich weiß es einfach nicht. Auch an den bisherigen Weg kann ich mich nicht erinnern. Das Schild mit dem Spruch „Der See stirbt!“, das uns immer am vorderen Ufer begrüßt, habe ich übersehen. Schon liegt die missachtete Warnung gegen die Fütterung der Vögel ein Stückweit hinter uns. Die Sonne strahlt uns wärmend an, ich blinzele.
„Vielleicht kriegst du noch ein paar Sommersprossen“, versuche ich einen neuen Anfang und sehe zu dem Gesicht hinüber, das zwischen Jackenkragen, Schal und Mütze hervorlugt. Ich beuge mich zu ihr hinunter und küsse kurz ihre Nase, und ihr Ärger scheint wie verflogen. Gegen die Sonne blicke ich auf die glitzernde Fläche des Sees, sehe die Vogelinsel in seiner Mitte mit den Bäumen, in deren Kronen sich Reiher und Kormorane ihre Horste gebaut haben, und dann blicke ich zum Ufer auf der anderen Seite, zu den Menschen da drüben, die auch die Aussicht genießen. Wie bin ich wieder froh, dass es so viele schöne Flecke in meiner Heimat gibt. Zwar erinnert mich ein leises Grollen daran, dass nicht weit entfernt zwei Autobahnen entlang führen, aber in diesem Augenblick bleibt das Geräusch unbedeutend, ohne Belang und hat nichts mit mir und der Schönheit um uns herum zu tun. Bekannte, die mich zum ersten Mal in dieser Stadt besuchen, wundern sich über all die Bäume und Parks und Seen. Sie erwarten immer noch rauchende Fabrikschornsteine und kahle, schwarze Halden; das ist alles, was sie über das Ruhrgebiet zu wissen glauben. Ich fühle mich von der Umgebung angerührt, und wir gehen den Weg weiter, am See entlang. Auch Jennifers Laune ist wieder gestiegen; sie strahlt und legt ihre zierliche Hand in meine.
Ohne mir etwas anmerken zu lassen, schrecke ich vor dem Kontakt zurück. Am liebsten möchte ich ihre Hand abschütteln, mir meine wiederholen. Extremität, geht mir durch den Kopf. Ich nehme die Ausdehnung meiner Gliedmaßen wahr, spüre bis in meine Finger hinein. Merkwürdige Ausstülpungen, wenn man drüber nachdenkt. Dann wird meine Hand starr und gefühllos, und ich versuche, nichts an mich heran kommen zu lassen von der Berührung, meine Wahrnehmung der Hand abzuschalten oder auszublenden.
Innerlich gebe ich mir einen Ruck und versuche, an etwas anderes zu denken. Wann hat es eigentlich angefangen, dass ich Jennifers Ausführungen so schwer folgen kann? War es vor anderthalb Jahren, als ich die eigene Praxis eröffnet habe? Für mich war das ein wichtiger Einschnitt in meinem Leben, der viele Veränderungen nach sich zog. Plötzlich war ich nicht mehr angestellt, habe angefangen, jede Terminabsage persönlich zu nehmen, weil sie sich direkt auf mein Konto auswirkte. Meine Träume nachts wurden grauer und verworrener, doch ich hatte kein Geld für Supervision und weigerte mich, die Zeichen ernst zu nehmen. Bewusst habe ich es nur der ganzen Umstellung zugeschrieben.
Jennifer besuchte mich in den neuen Räumen, spendierte mir eine selbstgetöpferte Schale mit Keksen und Süßigkeiten und einen Kerzenleuchter für eine gute Atmosphäre. Sie saß eine Weile bei mir, sah seufzend aus dem Fenster und langweilte sich, als ich noch meine Abrechnung machte. Schließlich sagte sie in anzüglichem Ton :“Gib mir eine MM.“
Etwas unschlüssig sah ich sie über meine Lesebrille hinweg an, suchte ihr zwei Schokolinsen aus der Schale und reichte sie hinüber. Sie lachte auf, lehnte sich im Sessel zurück, hob ihren Rock und spreizte ihre Beine. „MM ist eine Muschi-Massage. Die Wahl der Mittel liegt bei dir.“
Damals war alles so einfach. MM wurde unser Code, und wir haben es in Variationen immer wieder nachgespielt, so dass wir schon losprusteten, wenn jemand auch nur „Smarties“ sagte.
Jetzt sind wir an der schmalen Seite des Sees angelangt, die der Straße gegenüber liegt. Hier führt eine kleine Brücke über den ablaufenden Bach, und auf dem Holzsteg bleiben wir stehen. Ich mag es, dem Wasser in seiner Strömung zuzusehen, welche Kraft, welche Macht es besitzt! Der See bleibt auch bei Minus-Graden ohne Eis, ganz im Gegensatz zu den Teichen, die sich, ein paar Meter entfernt, jenseits der Brücke anschließen. Heute ist das Eis dort nur eine glasige Fläche, zu dünn, um einen Körper tragen zu können. Ein Mann pfeift seinen Hund zurück, und ein Pärchen nimmt das Kleinkind schützend zwischen sich.
Ein kleines Mädchen, dick eingepackt in einen Schneeanzug, quengelt nach etwas Süßem, und ich muss wieder an die „Smarties“ denken. Plötzlich fällt mir auf, wie lange Jennifer es nicht mehr gespielt hat. Unruhe regt sich in mir, noch mehr bei einem anderen Gedanken: Wie würde ich reagieren, wenn sie es wieder versuchte? Bloße Gewohnheit starrt mir entgegen, oder ist es eine schleichende Verzweiflung? Nachts im Dunkeln schreien wir uns noch immer die Seele aus dem Leib, und wie ein Kind schlafe ich ein, den Kopf zwischen ihre Brüste gekuschelt, von ihren Armen gehalten.
Jennifer hat wieder angefangen zu erzählen, und nebenbei hängt sie sich bei mir ein. Als wir uns kennen lernten, nannte sie mich wegen meiner Länge „Lulatsch“, und ich sie „Federbällchen“ nach einem alten Kinderbuch, weil sie so zart und so zerrupft wirkte wie ein kleines Küken. Obwohl sie nicht wesentlich schwerer ist, spüre ich, wie ihr Gewicht an meiner Seite zieht, mich in Schieflage bringt. Zumindest fühlt es sich so an; ich stöhne: „Vorsicht, mein Hexenschuss!“ und entziehe ihr meinen Arm. Folgsam lässt sie mich gehen, erschrocken, schuldbewusst ...
Ich bin doch so ein Arschloch! Was mache ich nur mit ihr? Warum kann ich sie nicht an mich drücken, wie das junge Paar dort drüben, das verträumt am Wasser steht und dem Flug eines Reihers zusieht, der elegant seine Runden zieht in der Luft. Oder gemeinsam mit Jennifer den Enten und Schwänen Bröckchen zuwerfen und uns wie Kinder freuen an den zutraulichen Tieren. Stattdessen würde ich gern hier verharren, allein, ungesehen, nur stehen und schauen. Mich eins fühlen mit der Natur, „einzeln und stark wie ein Baum, brüderlich wie ein Wald“, ganz nach dem türkischen Sprichwort. Sollen sie mich doch in Ruhe stehen lassen, alle! Sollen sie sich doch abwenden: meine Frau mit ihren Tausend Worten, mit ihrem unstillbaren Wunsch nach Nähe! Und meine Eltern, die langsam gebrechlich werden und nur Forderungen stellen, die ich niemals zu ihrer Zufriedenheit erfüllen kann! Und ganz besonders meine Klienten, die mir tagaus, tagein die Ohren zuheulen und doch zu keiner Änderung bereit sind!
Was war ich doch früher idealistisch! Allen habe ich helfen wollen und habe daran geglaubt. Der erste Suizid eines Klienten hat mich erschüttert, aber meine Kollegen trösteten mich, und ich habe es auf die schlechte Ausstattung und die lange Warteliste in der Beratungsstelle geschoben. Seit ich selbstständig bin, kann ich mir nur noch leisten, für Menschen da zu sein, die mich auch bezahlen können. Und selbst bei denen habe ich ein schlechtes Gewissen, so dass ich nur gerade soviel berechne, um über die Runden zu kommen.
Deshalb war ich ja auch so froh über die Anfrage vor ein paar Monaten, stundenweise im Gefängnis in unserer Stadtmitte Gruppensitzungen anzubieten. Wenigstens ein regelmäßiges Einkommen als Basis, auf das ich bauen konnte. Aber mehr noch, ein Abenteuer, endlich mal hinter diese Mauern und Absperrungen zu gucken, um die ich so oft gefahren bin. Und schließlich, etwas zu bewirken, gesellschaftlich wichtig zu sein! Endlich hatte ich wieder ein edles Ziel: jungen Menschen zu zeigen, dass es andere Wege als Gewalt gibt, dass man einfach miteinander reden kann.
Wie war ich doch naiv! Schon in der ersten Stunde lief alles anders als geplant: „Göt!“ „Arsch!“ Mahmut und Sascha gingen sich fast an die Kehle und überhäuften sich in gebrochenem Deutsch mit Vulgärausdrücken. Johannes, ein dünner, blasser Teenager mit Pickeln überall versuchte anscheinend zu erraten, was ich von ihm hören wollte und versuchte, genau diese Worte zu produzieren. Der Rest saß teilnahmslos da, wie in dichtem Nebel. Insgesamt kamen sie doch nur in meine Gruppe, weil sie sich eine Belohnung davon versprachen. Vielleicht weniger Arbeit, oder Aussicht auf baldige Entlassung! Vertrauen ist die Voraussetzung jeder Art von Beziehung, besonders aber in der Therapie. Doch wie sollte ich ihnen helfen können, wenn ich keinem von ihnen vertrauen konnte?
Als ich Jennifer das erste Mal mein Leid klagen wollte, hat sie nur mit einer Handbewegung abgewinkt und gemeint: „Das ist dein Job. Du wolltest ihn.“ Damals war sie in Examensvorbereitungen, hat ständig für Prüfungen gelernt und an ihrer Arbeit geschrieben, und ich habe bereitwillig und verständnisvoll diesen Teil von ihr ferngehalten. Diesen, und was noch alles?
Wir haben fast den See umrundet, dort vor uns liegt wieder der Parkplatz. Am liebsten würde ich jetzt nicht zurück in den Wagen steigen, sondern einfach weiterlaufen, quer über die angrenzende Wiese, dann die Straße entlang, bis der nächste Wald, das nächste winterlich unberührte Feld mich locken würde. Meinen Körper in Bewegung spüren, den Sauerstoff in alle Zellen pumpen, mich wohler fühlen, heil werden ... Aber selbst Sieben-Meilen-Stiefel würden nicht reichen, um vor allem davonzulaufen. Täglich, stündlich kommen neue Erlebnisse hinzu, die mich kränken oder verstören. „Leiden ist einfacher als handeln“, kommt mir ein Zitat in den Sinn.
Jennifer kramt lächelnd den Autoschlüssel aus der Tasche hervor. Während ich noch einmal zurücksehe, zu den Gänsen, dem See, der Sonne, fragt sie gutgelaunt:
„Na, bist du jetzt glücklich, dass ich mitgekommen bin?“
Ich starre sie kurz an. Wie immer fehlen mir die Worte. Ich nicke.