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Ausgelöscht
Wenn das hier die Hölle auf Erden war, was würde ihn dann erst im Jenseits erwarten?
Simon wusste es nicht, er wusste gar nichts mehr. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er schon weiß Gott genug Leid und Elend ertragen müssen. Er hatte in Abgründe der menschlichen Seele geblickt, die ihm besser verborgen geblieben wären. Und dennoch …
Ein bestialischer Gestank, dem niemand entfliehen konnte, breitete sich überall im Lager aus. Männer in Uniformen standen regungslos in kleinen Grüppchen zusammen und beobachteten das Geschehen, sahen dabei zu, wie die zuckenden Leiber vor ihren Augen verendeten.
Sie tun nur ihren Job, kam es Simon in den Sinn, sich der perversen Logik dahinter bewusst.
Unbändige Wut ergriff plötzlich von ihm Besitz.
In einem Akt schierer Verzweiflung beschloss er zu handeln. Dieses eine Mal würde er nicht tatenlos daneben stehen und zusehen, wie seine Freunde und Verwandten von diesen Untieren in Menschengestalt abgeschlachtet werden. Nicht dieses Mal, nie mehr.
In der Vergangenheit war er selbst zu einem Komplizen der Vernichtung geworden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er hatte den Neuankömmlingen Lügenmärchen erzählt und von den himmlischen Verhältnissen im Lager geschwärmt. Er hatte sie kaltblütig belogen, nur um den hoffnungsfrohen Ausdruck wahrzunehmen, der sich nach seinen Ausführungen in ihren Gesichtern abzeichnete. Im Nachhinein waren sie nicht einmal besonders wütend auf ihn gewesen, denn er hatte ihnen vor ihren Qualen noch einen letzten Glücksmoment beschert. Aber jetzt, im Angesicht des Unabwendbaren, kam es für ihn nur noch darauf an, das Richtige zu tun.
Seine letzten Kraftreserven mobilisierend stürmte er los.
***
Das Leben im Lager war nicht immer von Tod und Verdammnis geprägt gewesen, er hatte auch friedfertige Zeiten erlebt. Zeiten, in denen der Zyklop noch über sie wachte. Der Zyklop war ein gutmütiger alter Mann, der bis vor kurzem die Oberaufsicht im Lager innehatte. Sein linkes Auge hatte er bei einem Unfall verloren und versteckte die leere Höhle nun hinter einer schwarzen Augenklappe. Der Zyklop besaß eine ungewöhnliche Eigenschaft, die seinen Kollegen fast gänzlich fehlte, Empathie. Immer, wenn er sich der Baracke leise schlurfend näherte, in der Simon untergebracht war, entstand eine freudige Erwartungshaltung unter den Gefangenen.
Der Zyklop war allseits beliebt und dafür bekannt, ihnen noch mitten in der Nacht, wenn es nicht weiter auffiel, besondere Essensrationen mitzubringen. Manchmal hatte er nur ein trockenes Stück Roggenbrot dabei, manchmal aber auch saftig dampfende Maiskolben, die er gerecht unter den Gefangenen aufteilte. Simon und seine Leidensgenossen waren heilfroh, dass es einen Wärter wie den Zyklopen gab, der sie nicht wie Tiere behandelte, sondern ihnen Respekt und Mitgefühl entgegenbrachte. Er war es auch, der die anderen Wachmänner maßregelte, wenn diese ihre Macht missbrauchten und sich an einem Gefangenen vergingen oder wahllos mordeten.
Simon wurde während seiner Gefangenschaft, die schon seit seiner Geburt andauerte, unzählige Male Zeuge von Misshandlungen und grausamen Exzessen, die sich in sein Gedächtnis einbrannten und ihn schleichend in einem schreckhaften Verhaltensgestörten verwandelt hatten.
Manchmal wachte er nachts schweißgebadet aus einem Albtraum auf, nur um festzustellen, dass vor den hölzernen Dielen der Baracke, durch die eisiger Wind hereinpfiff, gerade eine Freundin von ihm um ihr Leben bettelte. Er sah sie in der Regel nie wieder, die Wachen kannten kein Erbarmen mit ihren Opfern.
Dann, eines Nachts geschah ein nahezu unvorstellbares Wunder. Jemand von außerhalb hatte es geschafft, die Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen und zu ihnen ins Lager zu gelangen. Ungläubig musterten Simon und seine Mitgefangenen den Besucher aus der Freiheit.
Er sah, entgegen ihren Erwartungen, alles andere als gut aus.
Gewiss, sein Körper war kräftig und muskulös. Hinter seinen glasigen Augen loderte jedoch ein gieriges Fegefeuer, das seinen Verstand bereits ausgelöscht zu haben schien. Apathisch stand er vor ihnen und hohes Fieber strahlte eine unerträgliche Hitze aus seinem Körperinneren. Er atmete schwer und unendlich langsam, an seinem Kopf und Hals waren deutlich sichtbare Schwellungen zu erkennen, die bereits eine ungesunde dunkelblaue Färbung angenommen hatten.
Simon wich automatisch einen Schritt zurück, denn er hatte als erster erkannt, dass der unbekannte Besucher zum Sterben in ihr Lager gekommen war. Ohne letzte Worte kippte der Besucher vornüber und blieb leblos auf dem Strohboden liegen.
Niemand rührte sich. Die meisten von ihnen starrten nur fassungslos auf den entsetzlich entstellten Leichnam vor ihren Füßen. Einige schluchzten leise vor sich hin. Und auf einmal begann im Hintergrund jemand zu husten. In diesem Moment war sich Simon sicher: Das ist der Anfang vom Ende.
Die nächsten Tage verliefen noch im gewohnten Trott. Die Leiche des Besuchers wurde vom Zyklopen entdeckt und, mit ehrlicher Traurigkeit in seinen Augen, entfernt und beseitigt. Simon und die anderen bekamen weiterhin ihre karge Nahrung, in die seit dem nächtlichen Vorfall Unmengen von Antibiotika beigemischt waren. Danach mussten sie für gewöhnlich zur Selektion antreten. Nur die gesündesten und fettesten seiner Bekannten und Freunde wurden, ahnungsvoll schreiend, aus der Gruppe herausgezerrt und ihrem endgültigen Schicksal übergeben.
Aufgehängt an ihren Füßen und absolut wehrlos konnten die bemitleidenswerten Geschöpfe dabei zusehen, wie ihr Vordermann kopfüber in ein unter Strom gesetztes Wasserbad getaucht wurde. Diese Prozedur raubte den meisten von ihnen das Bewusstsein und ließ sie in eine gnädige Ohnmacht fallen, aber bei weitem nicht bei allen.
Manche waren gezwungen mitzuerleben, wie ihnen rostige Klingen die Kehlen durchschnitten und sie qualvoll langsam ausbluteten. Erst nach mehreren Minuten entwich der letzte Lebenshauch aus ihren gepeinigten Seelen.
Danach nahmen Menschenhände in weißen Schutzhandschuhen ihre Leiber von der automatischen Schiene herunter, rupften sie und legten sie anschließend, zur Weiterverarbeitung, in eine sterile PVC-Verpackung. Die Federn wurden im Anschluss zusammengeklaubt und ebenfalls gehortet, als Kopfkisseneinlage.
***
An einem warmen Sommertag hörte Simon das erste Mal den schwammigen, unverdächtig klingenden Begriff H5N1. Zuerst konnte er mit der scheinbar sinnlos zusammen gewürfelten Kombination aus Ziffern und Buchstaben nicht viel anfangen. Doch nach und nach erkrankten immer mehr seiner Freunde an derselben Krankheit, die schon den geheimnisvollen Besucher dahingerafft hatte.
Der Strohboden ihrer Baracke war auf einmal übersät von grünlich-schleimigem Durchfall, schalenlosen grauen Eiern und ausgefallenen Federn. Die Erkrankten waren kaum noch zurechnungsfähig, ihre Köpfe hingen schief und schlaff von ihrem Hals herunter und Simons Versuche, sie anzusprechen, scheiterten. Als der gutmütige alte Zyklop den Zustand der Tiere entdeckte, liefen ihm Tränen der Verzweiflung aus seinem verbliebenen Auge. Der Anblick ängstigte und verstörte ihn zugleich, das war für Simon eindeutig zu erkennen.
Er selbst sah den Zyklopen nie wieder.
Sämtliche Wachen waren auf einmal verschwunden und es herrschte eine irreale, unheimliche Stille auf dem Hof. Zum ersten Mal in seinem Leben erkundete Simon die nähere Umgebung abseits seines bisherigen Bewegungsradius. Nur wenige Überlebenden folgten ihm, die meisten waren zu schwach und schon deutlich vom Todesvirus gezeichnet. Nur Simon ging es erstaunlich gut. Er fühlte sich zwar etwas matt und müde, ließ sich aber nicht von seiner Neugier abbringen.
Das große Gebäude aus grauem Beton vor der Baracke beherbergte nichts, von dessen Existenz er nichts geahnt hatte. Aber endlich wurden ihm die Zusammenhänge deutlich. Die Unmengen von ungeborenen Föten, die man ihnen tagtäglich geraubt hatte, befanden sich sorgsam einsortiert in Pappkartons mit der Aufschrift „Wiesenhof - Eier von glücklichen Hühnern - Garantierte Freilandhaltung“.
Bis unter die Decke stapelten sich hunderte; wenn nicht tausende von Paletten und ließen Simon ehrfurchtsvoll staunen, angesichts der Perfektion, mit der die Vernichtung seiner Artgenossen betrieben wurde.
Auf dem gekachelten Fußboden vor seinen Läufen lag ein zerbrochenes Ei. Die flauschigen Federn eines Jungtieres quollen durch einen gezackten Riss in der Schale nach draußen. Das Küken war anscheinend in einem Karton der oberen Paletten geschlüpft und dann ahnungslos in den sicheren Tod gestürzt. Betroffen stand Simon vor dem toten Neugeborenen und sog frische Morgenluft durch die Nüstern seines Schnabels ein.
Minuten später vernahm er das quietschende Geräusch von bremsenden Autoreifen vor dem Haupttor. Die Wachmannschaft war zurückgekehrt, so glaubte er jedenfalls. Doch als er nach draußen sah, ließ ihn der Anblick von Fremden in reflektierenden Schutzanzügen erzittern.
***
Sie kannten keine Skrupel.
In Windeseile hatten sie die frei umherlaufenden Hähne und Glucken wieder eingefangen und eingepfercht. Mit ihren verspiegelten schwarzen Sonnenbrillen und dem Mundschutz vermittelten sie den Eindruck von Außerirdischen. Außerirdische, die auf dem Geflügelhof erschienen waren, um eine Mission zu erfüllen.
Und wirklich, mit eiskalter Präzision packten sie die todkranken Vögel am Schopf und steckten sie anschließend lebendig, trotz heftiger Gegenwehr in blaue Plastiksäcke, die verknotet und in frisch ausgehobene Gruben geworfen wurden.
Wenn die Verdammten Glück hatten, erstickten sie nur jämmerlich. Hatten sie Pech, dann wurde über die blauen Plastiksäcke in der Grube noch ungelöschter Kalk geschüttet und die armen Kreaturen darin bei lebendigem Leib verätzt.
Simon konnte das Ausmaß der Katastrophe nicht mehr länger ertragen. Nur ihm war es gelungen, sich unentdeckt in der verwaisten Legebatterie zu verstecken. Aber was machte es jetzt noch für einen Sinn zu überleben? Selbst wenn er der gezielten Vernichtung entgangen war, so würde er doch früher oder später verhungern.
***
In seinem Inneren schäumte das Blut vor Erregung. Der Virus hatte nun endgültig die Kontrolle über sein geschwächtes Immunsystem übernommen und Simon war dem Tod geweiht, rettungslos. Schlimmer noch, in ihm als Wirtskörper war der H5N1-Erreger bis zur Unkenntlichkeit mutiert und nun gefährlicher als je zuvor. Eine biblische Plage, dazu bereit, aus der Büchse der Pandora zu entfliehen und der Menschheit den verdienten Untergang zu bescheren.
Er war dazu auserwählt worden, der Überbringer der „frohen Botschaft“ zu sein. Durch ihn würde das Virus in den menschlichen Organismus übergehen und sein zerstörerisches Werk innerhalb der Krone der Schöpfung fortsetzen, gegen dessen Ausmaß selbst die schwarze Pest wie eine harmlose Sommergrippe erscheinen musste.
Simon warf noch einen letzten Blick zurück in sein altes Zuhause und seufzte traurig.
Dann stürmte er los.
Vor ihm auf dem Hof lehnten zwei Männer an einem Baum und rauchten, während in einer Grube vor ihnen die letzten Regungen in dutzenden von blauen Plastiksäcken langsam erstarben. Gelangweilt verfolgten sie das Geschehen, nichts ahnend, dass hinter ihrem Rücken ein wildgewordener Hahn auf sie zueilte.
„Was meinst du? Ist doch schade. Die ganze sinnlose Vernichtung, meine ich.“
Rudi genehmigte sich noch einen kräftigen Zug.
„Hm.“
„Großartiger Kommentar, mehr fällt dir wohl nicht dazu ein?“
Rudis Kollege Walter galt nicht gerade als Schwätzer, aber zu ihrer Arbeit musste er doch eine eigene Meinung besitzen, oder?
„Krieg dich wieder ein, du Mimose“ entgegnete Walter. Er sprach ruhig und unaufgeregt. „Wir tun hier schließlich nur, was getan werden muss. Die Verbraucher im Supermarkt machen sich in der Regel keine Gedanken, wenn sie sich ein Schnitzel in die Pfanne hauen. Nur wenn sie um ihr eigenes jämmerliches Leben fürchten, bricht Panik aus und das Geschäft leidet darunter. Dann treten wir auf den Plan und übernehmen die notwendige Drecksarbeit, nichts weiter.“
„Aber, das ganze ist doch irgendwie …“
„Ja, was?“ Walter sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an.
„… unmenschlich. Ich hab’ erst neulich gelesen, dass Tiere, genauso wie Menschen Gefühle und sogar ein Erinnerungsvermögen besitzen.“
Walter legte ihm mitfühlend den Arm um die Schultern und lächelte.
„Du machst dir zu viele Gedanken mein Lieber, ehrlich. Glaub mir, wenn diese hirnlosen Viecher allen Ernstes denken und fühlen könnten, dann würden sie wohl kaum ertragen, was …“
Walter verstummte. Etwas versuchte sich an seinem Fuß zu schaffen zu machen. Als er an sich herunter sah, entdeckte er einen majestätischen Hahn, der wie wild auf ihn einpickte, ohne die Neopren-Schutzhülle seines Anzuges zu durchdringen.
„Na da schau her. Einer ist uns doch tatsächlich entwischt, und was für ein Prachtexemplar.“
Mühelos packte Walter den stolzen Hahn im Nacken und hob ihn zu sich empor. Der Kopf des Hahnes und sein angeschwollener Kamm bewegten sich ruckartig hin und her, vor und zurück. Walter wandte sich wieder seinem Kollegen Rudi zu.
„Und du meinst also allen Ernstes, dass dieser Gockel mit seinen epileptischen Zuckungen so was wie einen Verstand besitzt?“
Rudi antwortete nicht. Gebannt beobachtete er das Verhalten des erregten Hahnes, in dessen knopfrunden Augen er etwas zu erkennen glaubte. Ein Gefühl wie … Wut.
Walter bemerkte, dass Rudi sich nicht für ihn zu interessieren schien. Missmutig umschloss er den langen gefiederten Hals des Hahnes.
Das Letzte was Simon von der Welt wahrnahm war der frische Frühlingswind auf seinem Federkleid, das Funkeln der Sonnenstrahlen hinter den Tannenwipfeln und das knackende Geräusch, als sein Genick brach.