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Aussprechen

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24.04.2003
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Aussprechen

Wir sind alle wilde Tiere, die ficken und morden wollen, und der Evolution ist da wirklich ein ganz schlimmer Fehler unterlaufen.

Ich denke, also bin ich; bin ich viele, meistens ungeordnet. Fragmente eines Ganzen, das es gar nicht gibt.
Das Individuum definiert sich über das wechselhafte Gewitter der Emotionen, die manchmal als plötzlicher Blitz in den Ozean des Tuns einschlagen, und so bestimmen, was ich als nächstes machen werde.

Gerd grinst ziemlich blöde und deutet auf das Schaufenster.
Natürlich haben sie Dildos in einem Sexladen, doch er findet das trotzdem lustig.

"Gerd", sage ich und lege ihm den Arm um die Schultern, "eines Tages wirst auch du erwachsen werden."
Dann ziehen wir weiter durch die Einkaufspassage. Es ist ein regnerischer Samstagnachmittag, und wir spielen das Pflichtprogramm eigentlich bloß ab, weil wir sonst nichts vorhaben.
"Hast du schonmal mit ner Nutte", will Gerd wissen.
"Yep, und weißt du was? Es hat ihr gefallen. Bezahlt habe ich trotzdem, aber es gibt gute Kunden und es gibt schlechte. Du wärst ein schlechter Kunde, Gerd."
"Wieso?"
Ich schüttel den Kopf.
"Weil du stinkst. Überall stinkst du, Gerd. Du penetrierst die Schleimhäute auf eine Weise, dass selbst ... ach, keine Ahnung. Du bist eben eklig."
Er trottet die kommenden Minuten still neben mir her. Keine Ahnung, ob er beleidigt ist, oder einfach bloß unser Gespräch vergessen hat.
"Da will ich rein", brüllt er mir dann irgendwann ins Ohr, und zerrt mich in Richtung des Kaufhofs.
Drinnen ist es warm. Viel zu warm für den Winter. Leute kaufen Geschenke, die sie in einer Woche wieder umtauschen werden. Ein kleines Mädchen lächelt mich an und ich schaue schnell weg. Kinder sind mir unangenehm. Ich schäme mich dafür, selbst eins gewesen zu sein. Gerd hingegen winkt ihr zurück. Er hat dabei keine versauten Gedanken, das weiß ich. Er mag Kinder. Vermutlich, weil er selbst noch eins ist.
Auf einmal habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn vorhin so niedergemacht habe.
"Playstation", gibt er lapidar von sich.
Die bunt schimmernde, grell bunte, ständig in Bewegung befindliche erste Etage ist Gerds Paradies. Er will auf der Rolltreppe immer vorlaufen, aber heute ist sie zu voll, und er kann sich nicht zwischen den anderen Menschen hindurchdrängeln.
Ich bin 28 Jahre alt; viel jünger als mein Bruder. In Situationen wie diesen wird mir immer bewusst, dass ich viel älter sein sollte, aber es macht mir nichts aus. Peinlich ist es mir nicht, mit Gerd durch die Stadt zu ziehen, weil ich es so gewohnt bin.

Oben angekommen, drängt er sich an zwei Halbstarken vorbei, die Wörter wie Arschloch und Wichser nörgeln, sich aber dennoch nicht trauen, das entrissene Gamepad zurückzuerobern.
In solchen Momenten bin ich irgendwie stolz auf Gerd. Er hat keine Ahnung von Scham, und so pfeift er auch einer prallen Blondine im kurzen Rock völlig unverhohlen hinterher.
"Geile Sau", ruft er. Alle Leute gucken. Gut, dass sie nicht mit ihrem Freund hier ist.

"Ich will das haben!"
Ich schaue mir das Spiel an.
"Bist du sicher, dass du dieses Spiel haben willst? Ich schenke dir nur eins, klar?"
Aufgeregt nickt er.
"Nur dieses. Da kann man am meisten töten."
Ich grinse. Er liest sich die Testberichte ganz genau durch. Ich hätte es mir auch gekauft.
Gerd ist nicht aggressiv. Er will ein Actionspiel haben. Aber anders als normale Menschen, redet er nicht um den heißen Brei herum. Er will ballern. Punkt. Warum auch nicht?
Man braucht das gelegentlich. So ist der Mensch.
"Dann gehen wir zur Kasse."
"Nö, ich wollte doch noch etwas spielen."
"Ne Gerd, ich muss was essen. Ich fahr dich zu Mama und Papa, okay?"
"Wann ist denn Weihnachten?"
"Am Samstag."
"Und dann darf ich Leute töten?"
Wieder schauen die Leute, und ich erkenne erneut, weshalb ich so gerne mit ihm unterwegs bin.
"Du darfst abknallen, wen du willst."

Eine lange Schlange lässt uns warten.
Ist es das? Das Gedachte frei zu sagen?
Gott, wie geil ich die Blonde vorhin fand, und Gerd ist eingeschritten, um meine Gedanken vorzulesen.
Eigentlich tut er das immer. Er sagt, was Sache ist.

Letztes Jahr hat er Teile der Familie in einen Streit gestürzt, da er lauthals formulieren kann, was andere nicht aussprechen möchten.

"Sie sind lahmarschig", sagt er zur Kassiererin und wartet darauf, dass ich für ihn das Spiel bezahle.
Ihr Blick zerfetzt mich.
Wieso eigentlich?
Sie ist lahmarschig. Jeder hier in der Schlange denkt das, aber gesagt hat es mein Bruder.
"Na dann, schöne Festtage", giftet sie uns an.
"Ich wünsche dir keine, du blöde Kuh", erwidert Gerd.

Vor dem Elternhaus setze ich ihn ab.
"Dann bis Samstag."
Er grinst.
"Holst du dir jetzt noch einen runter?"
"Was soll ich lügen, du weißt es doch eh."
"Na denn viel Spaß."

Er lacht, steigt aus, und stolpert zur Eingangstür.

Meine Gedanken verstummen, nur meine innerliche Stimme liest sie mir noch vor.
Vielleicht ist Gerd gar nicht behindert.

Möglicherweise ist er so, wie wir alle hätten sein sollen.

Gerd ist nicht aggressiv.

 

Toll wie sich die anfangs fragmenthafte Geschichte, bei der man zu Anfang nicht wusste, in welche Richtung sie treiben würde, zu einem Ganzen formt. Ich finde es ziemlich beeindruckend wie klar du eine Situation mit einfachen bildgebenden Beispielen beschreiben kannst.

"Oben angekommen, drängt er sich an zwei Halbstarken vorbei, die Wörter wie Arschloch und Wichser nörgeln, sich aber dennoch nicht trauen, das entrissene Gamepad zurückzuerobern.
In solchen Momenten bin ich irgendwie stolz auf Gerd. Er hat keine Ahnung von Scham, und so pfeift er auch einer prallen Blondine im kurzen Rock völlig unverhohlen hinterher.
"Geile Sau", ruft er. Alle Leute gucken. Gut, dass sie nicht mit ihrem Freund hier ist."

=> Toll, mein Lieblingsmoment deiner Geschichte.

Der Plot deines Textes ist ebenso klar und deutlich herauszulesen: Es ist fragwürdig, ob man, aus Gründen der "Seriousität" aus sich selbst eine Marionette des Verhaltenskodex machen sollte, und ob man Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht dazu gezwungen sind, nicht akzeptieren sollte, wie sie sind.

Schön, gefällt mir.

 

Hi Cerb,

der jüngere Bruder kümmert sich um den älteren, der nicht konform läuft und der durch direkte Aussagen manches auf den Punkt bringt. Ich frage mich nur, wie es denn wäre, wenn sich alle Leute so unverschämt direkt verhalten würden.
Wo bliebe das Feingefühl dem Mitmenschen gegenüber, wenn man immer laut das lospoltern würde, was einem in den Sinn kommt.
Der Ton macht die Musik, und man kann auch seinem Gegenüber auf subtile Weise klarmachen, dass irgendwas schief läuft.
Als "Behinderter" hat man seine Portion Narrenfreiheit und viel weniger nehmen eine unverschämte Handlung oder Aussage so ernst.
Das aber dann zu übertragen, ist mir zu einfach.

Die Geschichte hat mir bis auf den Schluß gefallen, denn diese Theorie liegt mir einfach nicht, denn: Wie man in den Wald hineinruft, schallt es hinaus.

Lieber Gruß
bernadette

 

Hi cerberus,

die Frage nach der Normalität, nach dem Segen von Behinderungen wird häufig philosophisch gestellt, etwa in dem klassischen Beispiel vom Blinden, der besser sieht. Auch in der Überlegung über den Segen nach der Direktheit eines Behinderten gehört sie zum Standardrepertoire.
In sofern war leicht auszumachen, wohin deine Geschichte führen würde.
Bernadette ist in die inhaltliche Diskussion eingestiegen. Das zu ermöglichen kann man deiner Geschichte nicht vorwerfen. Sie kann ein Ende haben, das jemandem nicht gefällt, dass ihn zum Widerspruch reizt und gerade daraus eine Qualität ziehen.
Für mich ist dieses Werk hier eines derer von dir, für die du dir sicherlich Gedanken gemacht hast, die sich auch gut lesen lassen, denen man eine deutliche qualitative Routine anmerkt, die mir aber zu wenig tief sind, weil die Fragestellung es nicht ist.
Schön gelungen ist dir Gerd als Figur, die sehr lebendig wirkt.

Wir sind alles wilde Tiere, die ficken und morden wollen, und der Evolution ist da wirklich ein ganz schlimmer Fehler unterlaufen.
Bei diesem Satz hast du einen Kongruenzfehler. "alles" bezieht sich auf "wir" ist also nicht sächlich. Ich habe mal versucht, einfach das s zu streichen, damit ist der Dudenkorrektor aber auch nicht einverstanden. Funktionieren täte: Wir alle sind wilde Tiere, ...
"Dann bist Samstag."
ein t zu viel

Lieben Gruß, sim

 

Hallo zusammen.

Nun, natürlich ist meine Aussage nicht die, dass jeder Mensch sich so wie Gerd es macht, ausdrücken sollte. Vielmehr wollte ich deutlich machen, in welchen angelernet Mustern man oftmals denkt (siehe das Playstationspiel).
So steht Gerds Behinderung eigentlich auch eher im Hintergrund des Textes, wichtiger waren mir die Gedanken seines Bruders, der sich immer häufiger fragt, weshalb er sich nicht traut, Gedanken laut auszusprechen.
Selbstverständlich nicht auf diese "unverschämte" Art und Weise, aber dennoch direkt, ohne unnötige Beschönigung. Ich danke euch jedenfalls für eure Kommentare.

Grüße

Cerberus

 

Hallo Cerberus

Wir sind alle wilde Tiere, die ficken und morden wollen, und der Evolution ist da wirklich ein ganz schlimmer Fehler unterlaufen.
Ohne das 'und' klingt es mE runder.

Du hast ein sonst recht eintöniges Thema, sehr unterhaltsam umgesetzt. Deine Dialoge wirken sehr lebendig und haben mich teilweise sogar zum Schmunzeln gebracht. Gerd ist gut charakterisiert. Manchmal wünsch ich mir auch ein bisschen so zu sein: einfach mal sagen können was mich nervt oder stört. Ich denke das geht vielen so. Gerade im Umgang mit Behinderten stellt das für viele ein Problem dar, da viele mit solchen offenen Äußerungen wie sie dein Prot von sich gibt, nicht umgehen können.

Mir hat die Geschichte sehr gut gefallen.

Liebe Grüße
Ph:) enix

 

Hallo,

Mir hat die Geschichte ebenfalls gut gefallen. Worauf die Geschichte hinausläuft, ist ab der Mitte der Geschichte schon vorhersehbar, aber die Kürze der Geschichte lässt keine Langeweile aufkommen.
Die Geschichte erreicht keine ungeahnten Tiefen, ist aber in sich geschlossen und rund. Darauf kann man aufbauen.

 

Lieber Cerberus!

Also mir gefällt die Geschichte sehr gut. Dein Stil sowieso. Die Themenwahl samt Aussage sind ganz nach meinem Geschmack, die plotmäßige Umsetzung mit dem behinderten Bruder finde ich geschickt. Geschickt deshalb, weil Du so den Konflikt innerhalb der Geschichte vermeidest (bei einem Behinderten regt sich niemand auf) und ihn dem Leser überläßt – das kann man positiv wie negativ sehen.

Mir gefällt der Schluß sehr gut. »Möglicherweise ist er so, wie wir alle hätten sein sollen.« – Ich kann eigentlich nur ja dazu sagen. Ich finde, die Menschen sollten viel ehrlicher zueinander sein. Natürlich nicht in der Form, wie Gerd das in der Geschichte macht, man kann jemandem auch auf nette oder herzliche Art sagen, was einen stört (oder auch, was einen freut, aber selbst das trauen sich manche nicht). Es spielt fast jeder irgendwie ein Theater, belügt sich selbst und die anderen, indem er vorgibt, anders zu sein als er ist. Jedem seine Lebenslüge. Die Frage nach dem Warum stellt niemand, weil es alle tun und man sich vermutlich nicht die Blöße geben will, anders zu sein – Gerd denkt nicht nach solchen Mustern, daher ist er auch frei von diesen Zwängen.
Wirklich ehrliche Menschen findet man nur sehr selten. Manche vertragen es auch gar nicht, wenn man ihnen ehrlich entgegenkommt, und sei es nur ehrlich über sich selbst … das heißt umgekehrt, daß es Menschen gibt, die es gerne haben, wenn man sie belügt. :D
Schön, daß Du dir über solche Themen Gedanken machst und zum Weiterdenken anregst. :)

Noch kurz zum letzten Satz: »Gerd ist nicht aggressiv.« Wolltest Du damit nur noch einmal unterstreichen, daß Gerd es nicht böse meint, wenn er solche Sachen sagt, oder sollte da sowas wie »Ehrlichkeit macht zufrieden, wer ehrlich ist, hat gar keinen Grund, aggressiv zu sein« mitschwingen?

Meine Anmerkungen sind mittlerweile vier Tage alt, aber ich glaub, es ist noch alles aktuell:

»Wir sind alles wilde Tiere,«
– stimme sim zu, fände aber schöner »Wilde Tiere sind wir alle«

»"Gerd", sage ich und lege ihm den Arm um die Schultern, "eines Tages wirst auch du erwachsen werden."«
– würde sagen »erwachsen sein«

»ach, keine Ahnung. Du bist eben eklig."
Er trottet die kommenden Minuten still neben mir her. Keine Ahnung, ob er beleidigt ist,«
– Wiederholung »keine Ahnung«

»oder einfach bloß unser Gespräch vergessen hat.«
– da beides dasselbe aussagt, reicht eins davon: entweder »einfach« oder »bloß«

»"Da will ich rein", brüllt er mir dann irgendwann ins Ohr, und zerrt mich in Richtung des Kaufhofs.«
– wenn er brüllt, würde ich ein Rufzeichen nach »rein« machen
– einfacher: zerrt mich Richtung Kaufhof.

»Meine Gedanken verstummen, nur meine innerliche Stimme liest sie mir noch vor.«
– »lich« kannst Du streichen: meine innere Stimme


Alles Liebe,
Susi :)

 

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