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Aussprechen
Wir sind alle wilde Tiere, die ficken und morden wollen, und der Evolution ist da wirklich ein ganz schlimmer Fehler unterlaufen.
Ich denke, also bin ich; bin ich viele, meistens ungeordnet. Fragmente eines Ganzen, das es gar nicht gibt.
Das Individuum definiert sich über das wechselhafte Gewitter der Emotionen, die manchmal als plötzlicher Blitz in den Ozean des Tuns einschlagen, und so bestimmen, was ich als nächstes machen werde.
Gerd grinst ziemlich blöde und deutet auf das Schaufenster.
Natürlich haben sie Dildos in einem Sexladen, doch er findet das trotzdem lustig.
"Gerd", sage ich und lege ihm den Arm um die Schultern, "eines Tages wirst auch du erwachsen werden."
Dann ziehen wir weiter durch die Einkaufspassage. Es ist ein regnerischer Samstagnachmittag, und wir spielen das Pflichtprogramm eigentlich bloß ab, weil wir sonst nichts vorhaben.
"Hast du schonmal mit ner Nutte", will Gerd wissen.
"Yep, und weißt du was? Es hat ihr gefallen. Bezahlt habe ich trotzdem, aber es gibt gute Kunden und es gibt schlechte. Du wärst ein schlechter Kunde, Gerd."
"Wieso?"
Ich schüttel den Kopf.
"Weil du stinkst. Überall stinkst du, Gerd. Du penetrierst die Schleimhäute auf eine Weise, dass selbst ... ach, keine Ahnung. Du bist eben eklig."
Er trottet die kommenden Minuten still neben mir her. Keine Ahnung, ob er beleidigt ist, oder einfach bloß unser Gespräch vergessen hat.
"Da will ich rein", brüllt er mir dann irgendwann ins Ohr, und zerrt mich in Richtung des Kaufhofs.
Drinnen ist es warm. Viel zu warm für den Winter. Leute kaufen Geschenke, die sie in einer Woche wieder umtauschen werden. Ein kleines Mädchen lächelt mich an und ich schaue schnell weg. Kinder sind mir unangenehm. Ich schäme mich dafür, selbst eins gewesen zu sein. Gerd hingegen winkt ihr zurück. Er hat dabei keine versauten Gedanken, das weiß ich. Er mag Kinder. Vermutlich, weil er selbst noch eins ist.
Auf einmal habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn vorhin so niedergemacht habe.
"Playstation", gibt er lapidar von sich.
Die bunt schimmernde, grell bunte, ständig in Bewegung befindliche erste Etage ist Gerds Paradies. Er will auf der Rolltreppe immer vorlaufen, aber heute ist sie zu voll, und er kann sich nicht zwischen den anderen Menschen hindurchdrängeln.
Ich bin 28 Jahre alt; viel jünger als mein Bruder. In Situationen wie diesen wird mir immer bewusst, dass ich viel älter sein sollte, aber es macht mir nichts aus. Peinlich ist es mir nicht, mit Gerd durch die Stadt zu ziehen, weil ich es so gewohnt bin.
Oben angekommen, drängt er sich an zwei Halbstarken vorbei, die Wörter wie Arschloch und Wichser nörgeln, sich aber dennoch nicht trauen, das entrissene Gamepad zurückzuerobern.
In solchen Momenten bin ich irgendwie stolz auf Gerd. Er hat keine Ahnung von Scham, und so pfeift er auch einer prallen Blondine im kurzen Rock völlig unverhohlen hinterher.
"Geile Sau", ruft er. Alle Leute gucken. Gut, dass sie nicht mit ihrem Freund hier ist.
"Ich will das haben!"
Ich schaue mir das Spiel an.
"Bist du sicher, dass du dieses Spiel haben willst? Ich schenke dir nur eins, klar?"
Aufgeregt nickt er.
"Nur dieses. Da kann man am meisten töten."
Ich grinse. Er liest sich die Testberichte ganz genau durch. Ich hätte es mir auch gekauft.
Gerd ist nicht aggressiv. Er will ein Actionspiel haben. Aber anders als normale Menschen, redet er nicht um den heißen Brei herum. Er will ballern. Punkt. Warum auch nicht?
Man braucht das gelegentlich. So ist der Mensch.
"Dann gehen wir zur Kasse."
"Nö, ich wollte doch noch etwas spielen."
"Ne Gerd, ich muss was essen. Ich fahr dich zu Mama und Papa, okay?"
"Wann ist denn Weihnachten?"
"Am Samstag."
"Und dann darf ich Leute töten?"
Wieder schauen die Leute, und ich erkenne erneut, weshalb ich so gerne mit ihm unterwegs bin.
"Du darfst abknallen, wen du willst."
Eine lange Schlange lässt uns warten.
Ist es das? Das Gedachte frei zu sagen?
Gott, wie geil ich die Blonde vorhin fand, und Gerd ist eingeschritten, um meine Gedanken vorzulesen.
Eigentlich tut er das immer. Er sagt, was Sache ist.
Letztes Jahr hat er Teile der Familie in einen Streit gestürzt, da er lauthals formulieren kann, was andere nicht aussprechen möchten.
"Sie sind lahmarschig", sagt er zur Kassiererin und wartet darauf, dass ich für ihn das Spiel bezahle.
Ihr Blick zerfetzt mich.
Wieso eigentlich?
Sie ist lahmarschig. Jeder hier in der Schlange denkt das, aber gesagt hat es mein Bruder.
"Na dann, schöne Festtage", giftet sie uns an.
"Ich wünsche dir keine, du blöde Kuh", erwidert Gerd.
Vor dem Elternhaus setze ich ihn ab.
"Dann bis Samstag."
Er grinst.
"Holst du dir jetzt noch einen runter?"
"Was soll ich lügen, du weißt es doch eh."
"Na denn viel Spaß."
Er lacht, steigt aus, und stolpert zur Eingangstür.
Meine Gedanken verstummen, nur meine innerliche Stimme liest sie mir noch vor.
Vielleicht ist Gerd gar nicht behindert.
Möglicherweise ist er so, wie wir alle hätten sein sollen.
Gerd ist nicht aggressiv.