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Autobahnen beobachten
"Es lebt in mir. In meinem Herzen und zur Hölle ich kann es nicht töten... darum töte ich mich selbst!", dachte Adrian und starrte in die Tiefe. Er steht auf einer kaum befahrenen Brücke, die von vier roten Stahlträgern über der Autobahn gehalten wird. Es ist Nacht, Wolken verdecken das Firmament und der magere Mond wird nur teils sichtbar. Von hinten bläst ein kühler Wind auf Adrians Rücken und lässt sein Hemd flattern. "Da hin will ich! Zu den rauschenden Motoren, plattgedrückt wie Teigmasse. Da hin, da hin!" wiederholt er leise, sodass Adrian es bei dem starken Wind selbst kaum wahrnimmt. Seine Hände klammern sich um das Brückengeländer, lösen sich jedoch allmählich, bis nur noch die Finger schwach die Stange umgreifen. Er hört das entfernte Rauschen der Autos, die sich in der Dunkelheit einzig durch die zwei leuchtenden Punkte der Scheinwerfer entblößen. Das Geräusch wird zu einem Verlangen. Er will es lauter hören. Er muss näher heran, weiter hinab in die Tiefe. Jetzt gleich!
"SPRING! Nieder in die Erlösung!" Noch einmal atmet er Luft etwa fünfzig Meter über dem Erdgrund. Unter ihm rauschen weiterhin die Autos, wie kleinen Wellen, welche sich sanft entlang des Ufers überschlagen. Sein Hemd flattert im Wind. "Asphalt, ich komme!" Die Finger lösen sich von dem Brückengeländer.
Lisas Handy klingelte. Es war irgendeine bekannte klassische Melodie. Jedoch schaffte es Adrian nicht, sich den Namen des Komponisten wieder in Erinnerung zu rufen. Er griff das Handy und drückte auf den grünen Knopf, während sein Blick durch das Küchenfenster in den Garten wanderte. Es regnete und Wasser sammelte sich auf dem Dach eines kleinen Werkzeugschuppens an.
"Ich warte hier auf dich!", sprach eine warme Männerstimme durch den Hörer. Adrian schrak auf. Viele Frauen hätten den Klang dieser Stimme wohl als erotisch empfunden, dachte er und legte den Hörer wieder an sein Ohr. "Ich bin heiß. Oh ich glühe wie eine Herdplatte." Adrian drehte sich um und starrte entgeistert auf die Platten des Herds, an den er sich die ganze Zeit angelehnt hatte. Irgendwie fühlte er sich jetzt so nah bei dem Herd unwohl. Die Männerstimme redete weiter: "Kommst du mich besuchen? Am besten in dem schicken roten Nichts, das ich dir neulich geschenkt habe!" Adrian erinnerte sich daran, das Lisa gestern Abend rote Unterwäsche getragen hatte. Er griff sich eine Tasse aus dem Schrank und goß sich Cola ein. Währenddessen sprach er kein Wort. Es war still. Dieser Mann weiß anscheinend sehr viel über Lisa, und ihre Wäsche kauft er auch noch, dachte er und trank einen Schluck. "Bist du noch da? Ich weiß, das du da bist." Die Stimme klang jetzt entschlossen, aber weiterhin versehen mit einer gewissen Erotik. "Ich weiß es, Schatz, ich warte. Nur Beeilung. Bei dem Gedanken an dich werde ich richtig heiß. Da könnte ich jetzt schon..." Wenn Adrian eben noch die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, es könnte ein neuer Manager für Lisas große Schauspielerkarriere sein, waren diese schwachen Hoffnungen jetzt verflogen.
"Schatz?" Adrian schaffte es nicht wütend zu sein. In ihm regte sich nichts. Es blieb einfach regungslos, seine Gefühle waren für einen Augenblick gefroren. Einzig eine riesige plötzliche Leere füllte seinen Magen und drückte ihn von innen nach außen, bis er das Gefühl bekam zu platzen. Wieder ertönte die Männerstimme:"Schatz? Noch da! Langsam werde ich hier echt geil."
"Ich auch!" Sein Mund stand offen. Ein Augenblick verging. Der unbekannte Mann schwafelte erschrocken irgendeinen Mist, dessen Inhalt Adrian nicht mehr registrierte. Das Handy knallte auf den Boden. Er griff das Glas und schmetterte es mit aller Kraft gegen die Wand. Cola spritzte. Scherben.
Jetzt steht er regungslos am Rand der Autobahnbrücke. Sein Hemd flattert, während er in den finsteren Nachthimmel starrt; irgendwo fliegt eine Sternschnuppe vorüber, aber er schafft es in diesem Augenblick nicht sich Etwas zu wünschen. Die Unendlichkeit, das weite All. Adrian schwenkt den Blick hinab auf die Autos, die vorüberfliegenden Scheinwerferlichter und das unruhige Treiben auf der Autobahn. Dann hebt er seine Hände in die Luft und spreizt jeden einzelnden Finger weit voneinander ab, sodass der Wind durch die großen Abstände hindurchsaust. "Ich bin heiß. Oh ich glühe wie eine Herdplatte." Er sagt es in normaler Lautstärke, ohne dabei irgendeine Leidenschaft zu empfinden.
"Adrian! Wohin willst du?" Lisa stand in der Tür, einzig ein Handtuch um ihren Körper gewickelt. Ihre Haare hingen nass vom Kopf hinab.
"Es gibt einen Ort, wo Verliebte wie ich hingehören!" Es machte keinen Sinn. Eben noch lagen sie im Bett. Arm in Arm.
"Was meinst du?", fragte sie und näherte sich ihm mit einem besorgten Blick. Adrian lachte gespielt.
"Das weißt du nicht. Du wirst eine großartige Schauspielerin sein. Regisseure werden sich um dich reißen. Hollywood wartet, Lisa, Hollywood wartet. ."
"Was redest du da?", fragte sie mit schüttelndem Kopf.
"Ach, Lisa, wenn ich nicht so krank wäre? Wenn ich nicht so verflixt krank wäre." In seiner Stimme ertönte ernsthafte Verzweiflung und aus seinem Blick sprach Hilflosigkeit.
"Krank?", fragte sie erneut und verstand noch immer nicht, was vor sich ging.
"Ja, krank, infiziert von meiner eigenen Seele. Diese beschissene Seele. Sie hat da irgendwas in mein Herz gelegt. So eine fiese klebrige Masse, die sich an meinen Herzschlag heftet, so ein widerliches eckliges Zeug, das in meinem Blut mitfließt!" Adrian verzog wütend sein Gesicht.
"Ich verstehe nicht?"
"Schon O.K. Brauchst du auch nicht. Die Sache ist vorüber. Nicht in dieser Welt, aber woanders. Jemand hat für dich angerufen. Er soll ziemlich heiß sein, heiß wie eine Herdplatte. Es ist glaube ich Zeit, das du gehst und ihn abkühlst. Aber zieh dir vorher noch Etwas an. Am besten das rote Nichts von gestern Abend!" Sie starrt ihm entsetzt entgegen und Adrian meint in ihren Augen Tränen sehen zu können. Lisa läuft auf ihn zu und umarmt ihn. Das Handtuch gleitet zu Boden.
"Nein, nein, bitte nicht, bitte bleib hier! Ich brauche dich.", schluchzt sie nackt und gleitet auf ihre Knie, während sie verzweifelt seine Hände presst. Adrian stößt sie weg, schüttelt den Kopf und verschwindet.
"Die Luft fünfzig Meter über einer Autobahn lässt sich ganz anders atmen, als die im Wald oder in der Stadt.", denkt Adrian. Er schiebt seine Schuhsohle über den Betonrand der Brücke wie ein Stier, der sich wütend auf einen Angriff vorbereitet. Daraufhin hebt er erneut die Hände in die Höhe und blickt ein letztes Mal hinab. Trotz der späten Zeit sind sehr viele Menschen unterwegs. Grelle Scheinwerfer leuchten sich ihren Weg. Unterschiedliche Stärken von Lichtern, welche auf verschiedene Entfernungen gerichtet sind. Manche fahren schnell, manche langsam, aber alle nähern sich ihrem Ziel und weit entfernt über ihnen wartet Adrian. Für seinen letzten Moment! "Wie viele Autos nachts über die Autobahn fahren! Kaum zu glauben. Wenn man bedenkt, was für ein kleiner Abschnitt der Welt das hier ist." Erneut gleitet eine Sternschnuppe den Himmel entlang. Diese lässt sich wirklich viel Zeit, als ob sie in Zeitlupe vorüber fliegt, damit Adrian sie auch wirklich bemerkt. Jetzt formt sich in Adrians Gedanken ein Wunsch. "Wie viele Lisas!"