Autorenkritik
„Ich wünschte, dieses Blatt würde leer bleiben. Ok, ich war schon immer ein schlechter Lügner. Wie lange will ich dieses verdammten Bleistift eigentlich noch anspitzen? Die Ehe zwischen meiner Ideenlosigkeit und der erzwungenen Motivation läuft immer besser. Schön, dass sie sich zu gut vertragen. Ich dagegen bin müde geworden. Es langweilt mich mittlerweile selbst, die Missstände der Generationen, das Unvermögen blinder Gesellschaften und all die erdachten, allwissenden Individuen zu Papier zu bringen. Für wen quetsche ich mich eigentlich aus? Für die angesehenen Kritiker, deren Lob oder Beschimpfung der Ungewissheit und Willkürlichkeit eines Münzwurfs entspringen? Oder für die treue Leserschaft, deren Ursprung in der Rebellion der Andersartigkeit lag und heute einen roten VW-Passat fährt? Oder aber schreibe ich tatsächlich nur noch für den Kontostand meiner jungen Verlegerin, die mich damals von meinem Job aus der regionalen Tageszeitung herausholte und mir versprach, ich würde der neue Kafka werden? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht!
Wenn ich meine Scripte bearbeite, kommt mir das große Kotzen. Zu viel Pathos hier, zu viel erhobener Zeigefinger dort. Zu wenig Interpretationsspielräume und zu wenig analytische Auseinandersetzungen. Verdammt, ich war doch mal so gut. Der Kaffee ist kalt, die zweite Zigarettenschachtel ist angebrochen und es ist noch nicht mal elf Uhr morgens. Ich muss raus aus dem Arbeitszimmer, am besten ich fahre in die Stadt und beobachte die Obdachlosen im Park. Sie bieten mir zwar lägst keinen neuen Stoff mehr, aber irgendwie belustigen sie mich immer wieder aufs Neue. Der menschliche Abschaum als Komödie, hab´ zwei Preise für ´ne Story bekommen, die nur von ihnen handelt. Na ja, ist jetzt aber auch ausgelutscht und Bukowski und Boyle sind eh schon lange tot. Nicht, dass ich sie jemals gelesen hätte. Von Rennbahnen und Pferden habe ich genau so wenig Ahnung wie von Whisky oder Maler.
Im Park treffe ich einen Bekannten. Jensen grüßt mich freundlich und wie jedes Mal, wenn ich ihn sehe, fallen mir als erstes seine blau-grauen Augen auf. Gott, ich habe noch nie so einen traurigen, Weltschmerz umfassenden Blick gesehen. Er ist Künstler. Klar, dass bin ich auch, aber er ist einfach ein echter Künstler. Nicht jemand, der es wird, weil ihm Leute sagen, dass er talentiert ist. Nein, er lebt das Künstlerdasein direkt vor. Und das nicht mal mit Absicht. Ich beneide ihn nicht unbedingt darum. Er erzählt mir irgendwas davon, dass seine Tochter an Krebs erkrankt ist, aber ich höre nur mit einem halben Ohr hin und suche die Grünanlage nach den Pennern ab. Es ist allerdings kaum etwas los, nur ab ein paar dicke Mütter, die ihre Kinder in die Lagune und raus aus der Betonschicht entführen wollen. Jensen verabschiedet sich mit den Worten, dass ich ihn doch mal wieder in seinem Atelier besuchen solle. Ich stimme ihm zu, obwohl ich genau weiß, dass ich es garantiert nicht tun werde. Plastische Kunst sagt mir einfach nicht zu, wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann langweilt es mich sogar mehr als meine eigenen Geschichten.
Ich verlasse den Park und laufe auf einen Kiosk zu. Als ich noch getrunken habe, war ich spitzfindiger, frischer. Möglicherweise war ich auch einfach noch jünger. Gott, ich hasse Geburtstage!“
Die Tür von Holtermann geht auf und seine Frau schiebt ihren Kopf durch den Spalt. „Schatz, willst du noch Tee? Oh, ist das die Geschichte, die du für die neue Frauenzeitschrift schreiben solltest? Zeig doch mal her!“ Sie überfliegt kurz die Zeilen, gibt ihm einen Kuss auf die Wange und streicht ihm vorsichtig durchs angegraute Haar: „Das ist gut!“ Leise schließt sie die Tür, als sie den Raum wieder verlässt. Holtermann selbst starrt schweigend auf seine Handflächen, dann zerknüllt er seine Arbeit und schmeißt sie in den Mülleimer. Vielleicht war heute ein guter Tag, um endlich in Rente zu gehen.