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Böser Alkohol
Das Erste was mir an Jörg auffiel, war seine extreme Hässlichkeit. Susanne, -auch Suse genannt- meine allerbeste Busenfreundin hatte ihn allerdings zuerst gesehen.
Manchmal glaube ich, sie hat so was wie ein drittes „Auge des Mitleids“… Ihr erster Kommentar, mit nicht ganz eindeutig Richtung weisendem Zeigefinger lautete: „Ooch Gottschn, wie aaamselich is dat´n?!“
Als ich ihn erblickte war es bereits zu spät um zu flüchten oder sich zu übergeben. Wie ferngesteuert, torkelte er unwillkürlich auf mich zu und blieb, die 60cm Mindestabstandsgrenze durchbrechend, eine Bierfahnenlänge vor mir stehen.
Somit wurde mir das ganze Ausmaß einer Laune der Natur deutlich. Jörgs genetische Masse war wie eine Art Naturkatastrophe. Das Haupthaar schien einem Hurrikan zum Opfer gefallen zu sein und das Gesicht musste schweren Hagelschaden erlitten haben. Ganz abgesehen davon, verpackte er seine Hühnerbrust in einem T-Shirt mit der Aufschrift: „Ich war als Kind schon Scheiße“ und das Symbol seiner nicht vorhandenen Männlichkeit, verwahrloste ohne jeglichen Sauerstoff in einer viel zu engen Jeans, die ihre besten Jahre weit hinter sich gelassen hatte. Das sei nur mal am Rande erwähnt aber zurück in die völlig verqualmte Kneipe für armselige Wolfgang Petry Anhänger.
Jörg stand in seltsam kreisender Bewegung vor mir und mit begleitenden Lauten wie: „Aäh“, „Uuuihhuhhuzzz“ oder „Nnnnaasii ichrr bnnn daa Jöööaarrg… waalismfff“, gaffte er mich wie ein Uhu an. „Aha du bist also der äh… Jörg?! Schön. Nett. Ja, äh…!“
Ich bekam beklemmende Angst, dass er mir gleich mein freizügiges Top voll kotzen würde aber glücklicherweise rutsche ihm plötzlich sein Bierglas aus den glipschigen Wurstfingern und als er das Klirren von zerschmettertem Glas in seinem desolaten Zustand wahrnahm, machte er sich „as soon as possible“ auf den Weg nach unten um die restlichen Bierpfützen aufzuschlürfen. (Was die Tresentussi anscheinend erfreut zur Kenntnis nahm weil es ihr den Gang mit dem Feudel ersparte.)
„Soo ei-n-n könnt iich aauch suhu-haus füa diee Fliiesn g-gebrauchn“, freute Susanne sich. Mich überkam das Gefühl, dass wir langsam mal ein Taxi suchen sollten bevor es mit Susanne richtig peinlich werden würde.
„Komm Suse, ab nach Hause!“
„Jahaaa… da watet Jiiimiii uf mich-ch-ich“, sabberte sie grinsend, während ich versuchte mich stabil bei ihr einzuhaken. Doch ihre Arme waren wie Gummi und hatten ein hyperaktives Eigenleben und bevor ich Susanne, an dem immer noch erbärmlich am Boden krabbelnden, Jörg vorbei schieben konnte, hatte sie schon ein neues männliches Opfer erspäht. Ungefähr 10 Meter vor uns erstrahlte das sexy Gesicht von Brad Pitt. Das es sich dabei um ein schlichtes Plakat an der Wand handelte, schien Susanne aufgrund der eingeschränkten Hirnaktivität nicht mehr wahrzunehmen.
„Laaaasst miihiich duuuhuuchh“, brüllte sie plötzlich los, „Bretti…!“
Sie riss sich zu meinem Erstaunen aus meinem mütterlich, kräftigen Handgriff und als hätte ich es nicht schon voraus geahnt, landete sie keine Sekunde später mit dem Gesicht nach unten, auf den klebrigen Resten aus Bier, Asche und Salzstangen, die den PVC-Boden verzierten. Dabei schaffte sie es, ihren Intimbereich nicht gewollt aber dennoch gekonnt in Szene zu setzen.
Jörg hatte wohl, den bis dahin besten Ausblick seines Lebens und verweilte dementsprechend starr in einer Art Erdmännchen-Haltung. Mund und Augen weit aufgerissen, machte er mir den Eindruck, als hätte er zum ersten Mal den biologischen Unterschied zwischen Mann und Frau entdeckt.
Susanne schien derweil –wie all die anderen männlichen Kneipenbesucher- großes Gefallen an ihrer waagerechten Haltung gefunden zu haben. Zumindest machte sie keinerlei Anstalten wieder aufzustehen. Ihr wurde anscheinend schlagartig klar, dass sie schlafen will. Mir dagegen wurde schlagartig klar, dass es nicht nur für ein Taxi zu spät, sondern dass ich auch noch viel zu nüchtern war. Entnervt drehte ich mich in Richtung Tresen und stöhnte: „Noch ne Bacardi-Cola, bitte!“
Dann wandte ich mich wieder meiner, spontan im Koma liegenden, Freundin zu. Immerhin, es war noch keiner über sie rüber getrampelt!
Ich kniete mich nieder und während ich sie an der Schulter packte und lustlos hin und her schüttelte, versuchte ich sie aus dem Tiefschlaf zu quatschen: „Suse komm nu. Steh auf du Suffnase. Komm pullern, Susaaanneeeee!“
Sie hob den Kopf ein paar Zentimeter und drehte ihr Gesicht, an dem unzählige mit Bier durchtränkte Haarsträhnen klebten, in meine Richtung. Respekt!
Aber obwohl Frauen ja eigentlich multifunktional sind, gelang es ihr nicht mehr auch nur einen Satz, geschweige denn ein vernünftiges Wort herauszubringen.
„Komm hoch Suse!“, mahnte ich sie und griff sie mit beiden Händen an Arm und Schulter.
Inzwischen hatte auch Jörg sich mühselig in die Senkrechte gebracht. „K-k-k-an-n-nnn ichh helfnnn?“, stotterte er völlig breit und schaute mich an wie ein Trecker.
In Notsituationen produziert der menschliche Körper verstärkt Adrenalin und durch diese körpereigene Droge verstärken sich alle Sinne. Das Hirn entscheidet: Flucht oder Angriff.
Ich befand mich nun eindeutig in einer Notsituation und so verschärfte das Adrenalin meinen Sehsinn ungemein. Innerhalb weniger Augenblicke hatte ich den gesamten Schuppen röntgen artig durchsucht. Tatsächlich… am Tresen trampelten sich die Leute die Füße platt und nur wenige Meter vor uns bot sich ungewöhnlich ausreichende Sitzgelegenheit. Eine versiffte Couch die nur noch aus feuchtem Schaumstoff zu bestehen schien dessen Alkoholgehalt dem eines selbst gebrannten Schnapses wohl in nichts nachstehen würde. Direkt neben den Toiletten. Vielleicht nicht gerade die VIP-Lounge aber meine Rettung.
„Ja, setz sie da drüben auf die Couch“, befahl ich mit Hilfe von Gebärdensprache. Wohl wissend, dass mein Gegenüber mit Worten allein nicht mehr viel anfangen konnte. Umso überraschter war ich, dass Jörg es vor allem so schnell schaffte, Susanne –galant wie einen Müllsack- über die Schulter zu schmeißen. Mit einer Art „Hausfrauenblick“ (links nach den Klammern, rechts nach der Wäsche) peilte er die Couch in der vernebelten Ecke an. Stapfte los und während er um irgendwelche imaginären Hindernisse herum eierte, nahm ich in Ruhe meinen Bacardi-Cola entgegen.
Jörg hatte mir soeben eine 75 Kilo schwere Last abgenommen und so nutzte ich diese Verschnaufpause für einen Absacker auf dem Barhocker, der gerade frei wurde. Ich schlürfte an meinem Glas und beobachtete Susanne, die kopfüber –wie ein nasser Sack- an Jörgs Schulter herunterbaumelte.
Wenn ich der morgen erzählen würde, ein Typ hätte sie vom Boden gekratzt und auf Schultern getragen… die würde ausflippen, weil sie es verpennt hat. Ich hielt einen Moment inne, dann meldete sich mein Gehirn wieder… und erstrecht ausflippen wenn sie wüsste, welchem Typ die Schultern gehören.
„Böser Alkohol“, lachte ich in mich hinein, „ich würde nicht mal tot über Jörgs Schulter hängen wollen!“
Ich griff nach meiner Tasche und kramte Zigaretten heraus. Während ich mir eine Fluppe ansteckte, fragte ich mich, wie ich die 75 Kilo lebloses Fleisch nach Hause bekommen und den genetischen Unfall daneben loswerden würde?
8 Bacardi-Cola, 6 Ouzo und 2 Schachteln Kippen später hatte ich noch immer keine Antwort auf meine Frage, doch ich war auch nicht mehr in der Lage darüber nachzudenken. Inzwischen war es mir auch egal. Ich hatte mich meiner Umgebung restlos angepasst und war blau wie der Ozean.
Suse war derweil aus ihrem Delirium erwacht, saß aber apathisch vor sich hin sabbernd, noch immer auf der verwarzten Couch. Kein Grund also den Barhocker verlassen zu müssen. Zumal der Tresen auf wundersame Weise an meinen Händen festzukleben schien. Was ich mir dadurch erklärte, dass er ansonsten umkippen würde. Schließlich entfernte er sich immer dann von mir, wenn ich versuchte die eng gewordene Verbindung zu lösen.
Fasziniert von dieser Anziehungskraft, starrte ich vor mich hin und stellte fest, dass ich weit mehr Finger zu besitzen schien als der Durchschnittsmensch. Ich hatte gerade zwanzig Finger gezählt, als ich plötzlich eine dumpfe Stimme an meinem rechten Ohr wahrnahm:
„Schschtöört ees disch wennn ichrr rrauchee?“
Immer noch auf meine zwanzig Finger starrend raunzte ich im gleichen Alkoholdialekt: „Es wühürd miich niich ma störrn wennu brennssst!“
„Häh?“ Die dumpfe Stimme schien zu einer Dumpfbacke zu gehören. Wütend drehte ich mich herum und brüllte: „Ich sahagte es…äh…“, meine Stimme versagte abrupt und mein Atem stockte. Vor mir stand der Mann meiner Träume!
Ein rasierter, blank polierter und wohlgeformter Kopf. Ein markantes Gesicht das voll von Leben war und ein adonisgleicher Körper, den er zu meinem Leidwesen, in einem frechen Shirt versteckte. Doch seine Jeans versprach ein Werkzeug, das sein Besitzer sicher zu benutzen wusste um einer Frau den Himmel auf Erden zu bereiten.
Ich war hin und weg und konnte mein Glück kaum fassen. Das konnte nur Schicksal sein, denn er kam mir sofort vertraut vor. Bestimmt kannten wir uns aus einem früheren Leben.
Mein Puls raste und ich konnte mich kaum satt sehen, auch wenn mein Sehsinn sich bereits langsam verabschiedete.
Auch mein Traummann schien mich trotz meines oder gerade wegen seines Alkoholpegels höchst attraktiv zu finden und ich spürte, dass ich ihn noch heute Nacht mein Eigen nennen würde. Ich musste die Chance ergreifen und mir irgendwie seine Aufmerksamkeit sichern und mit folgender Frage konnte ich zudem auch endgültig seine volle Zuneigung gewinnen: „Gehenn wirr zu dir oda zuhu mirr?“
Seine Antwort war voll männlicher Enscheidungskraft: „Suu diaaa!“
Von Leidenschaft getrieben, konnte ich mich wie durch Zauberkraft schlagartig vom Tresen lösen und meldete mich ordnungsgemäß bei meiner Busenfreundin ab, indem ich brüllte: „Tschöö Suse!
Zu den Klängen von „Love is in the air“ exte ich meinen neunten Bacardi-Cola und war bereit für die Nacht meines Lebens.
Das Nächste woran ich mich erinnerte, war dieser stechende Kopfschmerz als ich die Augen aufschlug und feststellte, dass ich nicht mehr in der Kneipe war, sondern längst in meinem heimischen Bett lag. Ich versuchte zu rekonstruieren: Suse und ich, Kneipe, Jörg, Bacardi-Cola, Tresen… Traummann! Oh mein Gott. Meine Hand tastete hinter meinem Rücken das Bett ab. Da war etwas! Ein Körper. Ich wurde nervös. Ich wusste nicht mal wie der Traummann hieß?! Wiso hatte ich die Nacht mit meinem Traummann verbracht, konnte mich aber kein Stück mehr daran erinnern? Das Letzte woran ich mich erinnern konnte, war die Tür, die aus der Kneipe führte…
Diese Erkenntnis war nicht gerade beruhigend und mich überkam ein ungutes Gefühl – auch in der Magengegend. Doch bevor ich den Mut fand mich herum zu drehen und den, im Vollrausch gekürten, Traummann zu betrachten, klingelte mein Telefon auf dem Nachttisch.
Aus Angst, der Bettnachbar könnte durch das Klingeln wach werden, riss ich den Hörer prompt an mein Ohr und flüsterte: „Hallo?“
„Moin Schnecke, Suse hier.“, ertönte es bestens gelaunt am anderen Ende der Leitung, „Hattest du ne heisse Nacht, Baby?“
Mir wurde übel. „Äh, ich weiß nicht… ich kann mich an nichts mehr erinnern!“
„Das ist wohl auch besser so!“, lachte Suse irgendwie gehässig, „Wie voll warst du bitteschön, dass du so einen Typen abschleppst?! Ich meine, mir fehlte nicht mehr viel bis zu einer Alkoholvergiftung aber du musst kurz vor einer Lebertransplantation gewesen sein!“
Ich hatte das Gefühl mich gleich übergeben zu müssen aber Suse fuhr ungehindert fort: „Ich meine dieser Typ Schätzchen… sei mir nicht böse aber der ist vergleichbar mit verschimmeltem Aufschnitt!“
Wie auf´s Stichwort, tippte mir die ranzige Wurst, der ich wohl vergangener Nacht Einlass in mein Heiligtum gewährt hatte, an die Schulter und ich wusste, der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Es war zu spät um Vegetarierin zu werden.
Langsam drehte ich den Kopf herum und schickte ein Stoßgebet in den Himmel, bei dem ich um eine spontane Bewusstlosigkeit bat… doch es gab kein Erbarmen.
Ich blickte in ein, durch Hurrikans und Hagelschauer, entstelltes Gesicht. Als wäre das allein nicht schon schlimm genug, begann der Gesichtsbrei auch noch ungefragt mit mir zu sprechen: „Deine äh Küsse schmecken noch besser als die meiner Mutti. Willst du mich äh heiraten?“
Leider brachte mein darauf folgender Aufschrei nicht, wie gewünscht, meinen Kopf zum Platzen aber dafür meinen Magen. Und während sich der Restalkohol des gestrigen Abends seinen Weg über meine Speiseröhre ins Freie bahnte, hörte ich Suse durchs Telefon trällern:
„Böser Alkohol! Ich würde nicht mal tot mit diesem Jörg poppen wollen!“