Back in Germany
Ich ging durch die Schwingtür und stand mitten im Warteraum. Stühle rechts, Stühle links an den Wänden. Etliche davon besetzt. Ich grüßte. Kaum einer hob den Kopf. Eine grüßte tonlos zurück.
“Wer war vor mir der Letzte?”, fragte ich. Jemand hob die Hand. Ich setzte mich auch.
Etwas Beklemmendes lag in der Luft.
Es war egal, wie sie aussahen, was sie anhatten. Hinter den Gesichtern, unter den Kleidern: Unsicherheit, Resignation, Angst.
Ich roch es. Ich sah es in ihren Augen.
Egal auch, wie sich jeder auf seine Weise im Lauf der sich wie Kaugummi ziehenden Wartezeit Luft zu machen begann. Stöhnend, schnaufend - aggressiv, gelangweilt, oder wieder einmal die Ungerechtigkeit der Welt an sich und die der deutschen Bürokratie im Speziellen - laut, oder leise im Inneren - beklagend.
Die Beklemmung wuchs.
Dann ging die Tür des Amtszimmers auf. Einer erschien, zog die Tür zu, grüßte nicht, durchquerte eilig den Raum und verschwand durch die Schwingtür nach draußen. Gleichzeitig erhob sich ein anderer Gleicher aus den Stuhlreihen, klopfte an die Tür und trat ein.
Ein neuer Zeitkaugummi begann, sich zu ziehen.
Niemand sprach mit jemandem. Alle starrten ausdruckslos vor sich hin.
Wir saßen wie in der Wartehalle eines längst stillgelegten Bahnhofs und schauten den aus den Winkeln und zwischen den Fugen hervor sprießenden Grashalmen zu. - Unkraut. Wie Unkraut auch wir.
Versteinert - und ich spürte, wie sich erste Ranken aus dem Boden um meine Füße zu schlingen begannen. Ich stand auf und wechselte den Stuhl. Keiner nahm Notiz davon.
Vielleicht lag diese Apathie daran, dass sie offensichtlich schon Bilanz gezogen hatten, noch ehe ihr Leben tatsächlich zu Ende war. Vielleicht war ihnen das Einhalten des “Standards” so wichtig, dass sie sich und ihre noch verbleibenden Jahre aufgaben, nur weil sie aus eigener Anschauung oder aus Sicht der Anderen diesen Standard nicht mehr halten konnten.
Endstation Sehnsucht.
Ich spürte, dass ich hier fehl am Platz war. Aber genau das konnte meine Chance sein. - Ich blieb also sitzen und wartete.
Es vergingen Stunden. Dann war ich an der Reihe.
Der Beamte war sehr jung. Er war nicht unfreundlich, aber er wirkte ebenfalls sehr müde.
Sorgfältig tippte er die Angaben in den Computer ein, die ich zuvor schriftlich auf Bögen gemacht hatte. Manchmal fragte er mich etwas, um besser zu verstehen, in welche der vorgegebenen Sparten er mich einordnen könne.
“Waren Sie schon einmal im Internetportal des Arbeitsamtes?”
“Ja.”
“Und?”
“Es bringt nichts” - er sah mich überrascht an.
“Wie - es bringt nichts?!”
“Ich kann sehr vieles, habe aber für nichts einen Schein. Schon bei der Eingabe des Berufes komme ich nicht weiter. Es ist zu schematisch.”
“Haben Sie es mit Dienstleistungen versucht?”
“Ja.”
“Und?”
“Derartige Angebote finde ich auch in der Zeitung - und da im lokalen Raum.”
“Hm.”
Er tippte weiter. Es verging wiederum viel Zeit.
“Hat so eine alte Schachtel wie ich überhaupt noch eine Chance?”
“Nun, Sie sind bereit, zeitbefristete Arbeiten zu übernehmen - und das bundesweit. Ich denke, es sieht gar nicht so schlecht aus. - Welche Gehaltsvorstellungen haben Sie?”
“Keine. Kost&Logis und ein Handgeld ist auch o.k.”
“Können Sie drei Stunden am Stück arbeiten?”
Ich war mir nicht sicher, ob er das ernst meinte, blieb also vorsichtshalber höflich: “Hören Sie: ich habe jahrelang 65 Stunden die Woche gearbeitet - wollen Sie mir eine Arbeit vermitteln … oder mich in Urlaub schicken?!”
Er sah mich seltsam an. Fast musste ich lachen.
“Wo haben Sie bisher gearbeitet?”
“Ich habe Frondienst geleistet. Erst bei meinem Mann, dann bei einem Lebensgefährten.”
“Gibt es dafür irgendwelche Belege?”
“Keine sichtbaren.”
“Haben Sie irgendeine Rente, Unterhalt, Altersvorsorge, finanzielle Rücklagen?”
“Nein.”
“Kein Unterhalt von ihrem Mann??”
“Nein.”
Ich sah, dass er mir nicht glaubte.
“Schluss ist Schluss”, versuchte ich zu erklären. “Ich habe auf alles verzichtet.”
“Haben Sie eine Rentenversicherung?”
“Nein.”
“Haben Sie eine Lohnsteuerkarte?”
“Nein. Als ich damals nach Italien ging habe ich noch studiert.”
“Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft und Ihre zukünftige Arbeit vor?”
“Ich möchte nicht-sesshaft werden.”
“Wie bitte?!”
“Ich möchte, wenn es irgendwie möglich ist, keine Wohnung beziehen, nicht die nächsten 20 Jahre an ein und demselben Arbeitsplatz bleiben und nie mehr Wurzeln schlagen.”
“Das ist ungewöhnlich.”
Es entstand eine Pause.
“Wie stellen Sie sich das vor?”
“Ich weiß es noch nicht. Vielleicht als Saisonkraft in Tourismusgebieten, einmal am Meer, dann wieder in den Bergen. Vielleicht als Kartoffelschäler auf einem Bananendampfer - oder als Tippelschwester von Ort zu Ort und von Tagarbeit zu Tagarbeit …”
“Das ist nicht Ihr Ernst?!”
“Doch.”
Pause.
“Wieso sind Sie zu uns gekommen?”
“Ich dachte, vielleicht könnten Sie mir helfen, einen Job auf einem Bananendampfer zu finden …?”
„Ich weiß nicht, ob Sie hier an der richtigen Stelle sind.”
“Welche Stelle würden Sie mir empfehlen?”
Er sagte nichts, aber ich wusste, er würde mich an die nächstbeste Neurologie verweisen - wenn er etwas gesagt hätte, außer: “Ihr Profil ist nun in unsere Dateien aufgenommen. Sie haben zwei Betreuer: Herrn Heppmaier für die sozialen Fragen, Herrn Nüßl für die Arbeitssuche. Bitte gehen Sie nun hoch in den zweiten Stock und machen Sie mit Herrn Heppmaier einen Beratungstermin aus. - Ich brauche von Ihnen noch eine Sozialversicherungsnummer und eine Bescheinigung über Ihren momentanen Wohnsitz. Wo und wie sind Sie zur Zeit untergebracht?”
“Meine hier ansässige Cousine gewährt mir derzeit Asyl.”
“Sie sind nicht Mit- oder Untermieter?”
“Nein.”
“Dann bringen Sie mir bitte eine Einverständniserklärung des Vermieters, dass Sie bis auf weiteres dort wohnen bleiben können.”
“O.K.”
Ich sammelte meine Papiere auf dem Tisch zusammen und steckte das Bündel in die Tasche.
Er stand auf, gab mir die Hand und sagte mit einem Ton, als würde er mir sein Beileid zu meinem eigenen Ableben ausdrücken: “Herr Heppmaier kann Ihnen eventuell auch psychologischen Beistand vermitteln …”
Ich bedankte mich und ging.
Als ich das Wartezimmer durchschritt, machte ich auf meinem Weg an der Treppe und am Aufzug vorbei all das aus den Ritzen rankende Unkraut platt, stieß durch die Schwingtür und stand im Freien.
Draußen schien die Sonne.