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Bahnfahrt ins Ungewisse
Der kalte Regen tropfte Steve an den Schläfen und der Nasenspitze runter. „Was ein Mistwetter“, dachte er. Er war auf dem Weg ins Studio. Es war Montagabend, 18 Uhr, dunkel.
Steve arbeitete in einem recht ansehnlichen Musikstudio, obwohl nur 3 Leute dort arbeiteten, nämlich der Eigentümer, Toni Mahoni, er selbst, und die Putzfrau, die einmal die Woche kam, um die überfüllten Mülleimer auszuleeren und den Boden zu saugen. Mehr durfte sie nicht anfassen, denn die empfindlichen Anlagen, Mischpulte, Keyboards, Lautsprecher und Effektmaschinen waren für sie tabu, darauf legte Toni großen Wert. Sogar so großen, dass er höchstpersönlich all seine Geräte abstaubte. Er, Toni Mahoni, der – nach seiner Auffassung- männlichste aller Männer, der Frauen nur als Sexobjekte und Haushaltsgerät betrachtete, er, der sogar sein Auto von anderen säubern ließ, nahm einen Lappen in die Hand und führte diesen, sehr sanft, fast schon mit Zuneigung, zwischen den Reglern und Schaltern über die hauchdünne Staubschicht.
Das Studio selbst war relativ klein, allerdings sehr ordentlich, und was die Ausrüstung, das Know-how des Inhabers und seines Assistenten anging absolute Spitzenklasse.
Steve hatte vor einem Jahr sein Tontechnik-Studium abgeschlossen, und war eher durch Zufall auf Toni gestoßen. Trotz ihrer gegensätzlichen Persönlichkeiten waren sich die beiden auf Anhieb sympathisch, und da Toni die vielen Aufträge langsam über den Kopf wuchsen, beschloss er spontan, ihn einzustellen. Die Rollenverteilung war sehr gerecht, insofern dass Toni keinesfalls den Chef raushängen ließ. Er behandelte Steve vielmehr als Freund, was er auch war, sie teilten in bedingungsloser Gleichberechtigung die Arbeit. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Toni derjenige war, dem die ganze Ausrüstung und das Studio gehörten.
Erst am Wochenende hatte Toni Steve angerufen, und ihm angekündigt, dass er mit ihm reden müsse. Es ginge um seine Arbeit im Studio, er könne sie so wie bisher nicht weiter machen, es kämen neue Zeiten und Wege auf ihn zu.
Toni war sehr knapp gewesen am Telefon, bemüht, emotionslos zu klingen. So kannte er ihn gar nicht…
Steve war mittlerweile an der Straßenbahnhaltestelle angekommen, durchnässt, frierend, mit wirren Gedanken im Kopf. Er konnte rein gar nichts damit anfangen, was Toni ihm am Wochenende am Telefon gesagt hatte, wusste nichts mit „neuen Zeiten und Wegen“ anzufangen. Er befürchtete das Schlimmste und war dementsprechend, auch meteorologisch bedingt, eher mies gelaunt.
Er wartete auf die Linie 3, seine persönliche Unglückszahl. Er musste in die Stadt rein, was ihm immer wieder aufs Neue zuwider war. Das Gedränge, die vielen Lichter, der Konsum, die vielen ausdruckslosen Gesichter anonymer Passanten, die hinter ihrer ausdruckslosen Fassade ein ganzes Universum an Geschichten, Ereignissen, Emotionen und zwischenmenschlicher Beziehungen verbargen.
Diese Fülle von Möglichkeiten machte Steve Angst. Wie konnte ein Einzelner in dieser Unendlichkeit sich über sich selbst bewusst werden, wissen welchen Weg er gehen soll, was richtig und was falsch ist, oder sich auch nur sicher sein, dass ein Mensch unter all diesen etwas besonderes ist. Denn Steve war schon seit langer Zeit alleine. Seine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er 3 war, hatte sie also kaum gekannt, und war bei Pflegeeltern aufgewachsen, die ihm zwar viel Liebe und Zuneigung entgegenbrachten, jedoch niemals seine leiblichen Eltern ersetzen konnten. Allein war er auch zu jener Zeit: er war Junggeselle. Er hatte zwar zuvor schon die eine oder andere Beziehung gehabt, doch waren diese meist vorbei, bevor der Jahrestag gefeiert werden konnte, und oft auch von rein sexueller Natur. Die große Liebe, die Frau, die ihn selbst erst „ganz“ machen konnte, hatte er bis dato noch nicht kennen gelernt, und mit seinen 25 Jahren fing er ganz langsam an daran zu zweifeln, ob er sie jemals finden würde, ob es sie überhaupt gab.
Die Ankunft der Bahn riss ihn aus seinen Gedanken. Die Türen öffneten sich, und die Menschen stiegen aus, ausdruckslos, anonym, jeder in der Menge einsamer denn je. Wie immer hatten es ein paar ganz eilig einzusteigen, und Steve regte sich innerlich über diese Ungeduldigen auf, die es kaum erwarten konnten, sich als erste einen Sitzplatz zu sichern. „Ob man die paar Minuten nun sitzt oder steht, was macht es schon für einen Unterschied, wenn man die Länge eines Lebens bedenkt“, dachte Steve.
Er stieg ein, stellte sich hin, gegenüber vom Fahrkarten-Automaten, inmitten einer mittelgroßen Menge von anderen Fahrgästen, die alle in die selbe Richtung fuhren, vielleicht sogar an der selben Haltestelle aussteigen würden, und dort wieder ihren ganz unterschiedlichen Beschäftigungen und Zielen nachgehen würden. Fünf Minuten gemeinsames Leben, ein identischer Abschnitt in unendlich vielen individuellen Kontinuen.
Und so schaute sich Steve die Menschen in der Straßenbahn an, versuchte zu erraten was sie wohl für eine Geschichte hatten, woher sie kamen und wohin sie wollten, und was sie dort machen würden.
Sein Blick fiel auf eine junge Frau Anfang 20. Er war Augenblicklich von ihr fasziniert, obgleich er nicht auf Anhieb sagen konnte, weshalb sie seinen Blick wie magnetisch anzog. Sie hatte lange, gelockte, dunkelbraune Haare, war etwas kleiner als er, hatte große, ausdrucksvolle Augen, ein feines Gesicht und einen Körper, dessen Formen seine Phantasie durchaus anregten.
Doch solche Frauen gab es viele, und so fragte er sich, inwiefern gerade diese eine so sehr aus der Menge herausstach. Er beobachtete sie also weiter, und je mehr er sie ansah, umso mehr geriet er in ihren Bann.
Sie war definitiv anders als die anderen Fahrgäste. Nach 3 Haltestellen fiel ihm auf, dass sie die ganze Zeit leicht lächelte. Sie war allein unterwegs und lächelte, daraus schloss Steve, dass sie wohl schönere Gedanken hatte als er selbst, wobei er gerade dabei feststellte, dass er gar nicht mehr an seine unsichere Zukunft und den kalten Regen dachte, als vielmehr an diese fremde Frau in der Straßenbahn, die ohne erkennbaren Grund vor sich hinlächelte. Es war schon fast wie hohn, wie sie dastand und lächelte, einfach so vor sich hin, ohne erkennbaren Grund, als wolle sie ein wenig Farbe, Wärme und Licht in diesen grauen, kalten Tag bringen, in diese anonyme, nach außen hin emotionslose Menge in der Straßenbahn. Als wüsste sie etwas, das sie über die Menge erhebte.
In dem Moment bewegte sie sich in Richtung Tür, machte eine Handbewegung zum Haltewunsch-Knopf und drückte ihn.
Steve lief es kalt den Rücken herunter, wie er das sah. Nie hatte er jemanden auf solch eine graziöse, dennoch resolute Art und Weise den Knopf drücken sehen, der bedeutete, dass man zurück in die Kälte musste.
Die Straßenbahn hielt, doch die Türen öffneten sich nicht. Sie, und einige andere Fahrgäste drückten erneut, sie jedoch weiterhin mit einem ruhigen Lächeln, als würde sie sich widerstandslos ihrem Schicksal fügen, die anderen energisch, fast panisch, teilweise empört, manche fingen an zu fluchen. Doch die Türen öffneten sich nicht, und die Bahn fuhr weiter.
Erst jetzt fiel Steve auf, dass er gerade hier auch hätte aussteigen müssen. Merkwürdigerweise war es ihm beinahe gleichgültig. Er hatte die ganze Studiogeschichte und die neuen Wege schon ganz vergessen, so sehr faszinierte ihn diese Frau. Inmitten der Masse, der Hektik und der Anonymität hatte er einen Ruhepunkt gefunden, einen Fokus, der all seine Aufmerksamkeit auf sich zog wie ein schwarzes Loch.
„Vielleicht hast du falsch gedrückt“, sagte Steve zu der Frau, mit einem leichten Grinsen im Gesicht.
Sie blickte ihn an, schweigend, jedoch weiterhin lächelnd, schien in ihn hinein zu sehen. Nach einer Zeit, die Steve wie eine Ewigkeit schien, antwortete sie:
„Mein Name ist Marla, ich wollte hier gar nicht aussteigen, genauso wenig wie an irgendeiner anderen Haltestelle. Ich habe kein bestimmtes Ziel, sondern nur einen Startpunkt. Vielleicht habe ich falsch gedrückt, vielleicht war aber nur der Knopf kaputt. Wer kann das schon sagen?“
- „Du fährst hier nur so rum, und steigst aus, wenn die Tür mal aufgeht?!“ Steve wunderte sich, dass sie überhaupt geantwortet hatte. Aber noch vielmehr überraschte ihn diese ungewöhnliche Antwort.
- „Wenn die Tür aufgeht“ sagte sie weiter, „und mir gerade danach ist auszusteigen, vielleicht steige ich dann aus, vielleicht aber auch nicht. Wer weiß, vielleicht spricht mich ein fremder Mann an, wir fangen ein Gespräch an, und fahren noch 3, vielleicht aber auch 4 oder 5 Runden?“
- „Ich beneide Dich darum, dass Du einfach so umherfährst und tust wonach Dir gerade ist. Die meisten hier drinnen, mich eingeschlossen, fahren nur von A nach B. Du fährst von A nach X, wieder zurück und noch viel weiter. Du bist freier…“
- „Wo ist denn dein B?“ fragte Marla, mit einem Blick als wollte sie Steve dazu anregen ganz genau darüber nachzudenken was er nun sagen würde.
- „Mir fällt gerade auf, wir sind schon vorbeigefahren. Die Türen sind wohl nicht aufgegangen. Vielleicht hat jemand nicht richtig gedrückt?“
- „Mag sein. Du hast also ein Ziel? Wo wolltest Du denn hin?“
- „Ins Studio. Ein Tonstudio, genauer gesagt. Ich bin Toningenieur. Mein Freund, Kollege und Arbeitgeber hat mich vorgestern angerufen, dass ich meinen jetzigen Arbeitsplatz nicht behalten könne. Er klang so komisch, ungewohnt, und das kann alles bedeuten. Vielleicht übergibt er mir sein Studio, er hatte mal so was angedeutet. Vielleicht will er mich aber auch rauswerfen, wir hatten vorige Woche mal einen kleinen Streit. Ich weiß es nicht, keine Ahnung, was da auf mich wartet.“
Steve hielt inne und wunderte sich, wieso er einer wildfremden Frau, die er gerade erst in der Straßenbahn kennen gelernt hatte, solch detaillierte Informationen gab. Irgendetwas war an ihr anders, irgendwie genoss sie jetzt schon sein vollstes Verstrauen, er hatte das Gefühl, sie könnte ihm weiterhelfen.
Es kam ihm vor, als wüsste sie mehr als er. Als hätte sie den Plan vom Ganzen, der ihm fehlte.
- „Was wäre Dir denn lieber?“, fragte Marla.
- „Lieber?!? Äh… keine Ahnung. Ehrlich gesagt hab ich mir darüber gar keine Gedanken gemacht.“ Nach einer Weile des Schweigens, in der sie ihn erwartungsvoll anblickte, fuhr er fort: „ich glaube, ich könnte mich mit beidem abfinden. Ich bin mir noch nicht sicher, wie das alles weitergehen soll. Ob ich das so ewig weitermachen will, oder doch lieber etwas ganz anderes.“
- „Dann hast Du keinen Grund, mich zu beneiden. Du bist genauso frei wie ich, sollten wir das überhaupt sein können. Du hast dein Ziel, anders gesagt, den Punkt, der Dich zum Glück führen soll, noch nicht festgelegt. Der Kompass Deines Lebens zeigt nicht in eine Richtung, und schließt so alle anderen Richtungen aus.“
Diese Frau war die personifizierte Weisheit, dachte Steve. Er konnte es nicht fassen. Vor nicht einmal 3 Minuten hatte er sie kennen gelernt. Durch Zufall, in einer Straßenbahn, deren Türen sich weigerten sich zu öffnen.
„Ich habe mein Glück nicht gefunden, bisher“, fuhr Marla fort. „Jeder der behauptet er wisse genau was er brauche um glücklich zu sein, ist in meinen Augen ein Lügner, oder er hat bereits die Suche aufgegeben. Wie kann man aus der Unendlichkeit der Möglichkeiten festlegen welches DAS Ziel sein soll, DIE Erfüllung, das wonach wir streben, wenn es doch unmöglich ist, auch nur einen Bruchteil dessen zu erfassen?“
- „Aber kannst Du auf diese Art und Weise dein Glück finden? Nach Deiner Ansicht ist es doch völlig unmöglich!“
- „Mein Glück, anders gesagt meine Erfüllung liegt in der Suche. Das Ziel, anders gesagt das Ende der Suche, wäre auch mein Ende. Wäre ich dort angelangt, würde mich nichts mehr antreiben, morgens aufzustehen. Ich bräuchte mir die Bäume und den Himmel nicht mehr anschauen, die grünen Wiesen, die Blumen. Der Vogelgesang würde mir nichts mehr bedeuten, die Sterne würden mir keine Rätsel mehr aufgeben, ich hätte mein Ziel vor Augen und würde für das was rechts und links von meinem Weg liegt blind werden. Ich würde durch einen von mir gebauten Tunnel laufen, im Dunkel umhertappen, doch am Ende dieses Tunnels wäre kein Licht, sondern eine Sackgasse.“
Steve wusste nichts darauf zu antworten. Er musste das Ganze erst einmal geistig verdauen. Einige Zeit verging, Menschen stiegen ein und aus, die Türen öffneten sich wieder, und er und Marla schwiegen, hielten jedoch Blickkontakt. Es schien eine unsichtbare Verbindung zwischen beiden zu bestehen, Zumindest ging es Steve so, er hatte mittlerweile all die anderen Menschen um ihn, bis auf Marla, völlig vergessen. Er war in eine andere Welt geraten. Vielleicht in Marlas Welt.
Die Straßenbahn hielt an, sie waren in der Zwischenzeit an der Endhaltestelle angekommen.
Ohne sich abzusprechen, stiegen beide aus.
Wortlos nahm sie seine Hand in ihre.
So schritten sie schweigend in die Dunkelheit. Ins Ungewisse, glücklich darüber, nicht zu wissen, was sie erwarten würde, in dieser Stunde, in dieser Nacht, in diesem Leben.