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Bahnhof

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13.11.2001
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Bahnhof

Seltsam sieht er aus, wie er da alleine auf dem Bahnsteig steht, denken sicher die anderen Menschen, die sich auf dem kleinen Bahnhof aufhalten. Doch es sind nicht viele, es ist kalt, eigentlich zu kalt. Ja, ich sehe mit Sicherheit komisch aus, wie ich immer wieder auf und ab marschiere in der Hoffnung, die Kälte ließe sich durch diese Bewegung vertreiben. Doch es hat keinen Sinn, es funktioniert nicht. Mein schwerer, schwarzer Mantel wärmt schon längst nicht mehr, der Schal, der den Hals schützen soll, ist feucht vom Schnee, der in leichten Flocken vom Himmel weht. Eigentlich ein schöner Anblick, wenn es nicht so eisig kalt wäre, denke ich. Mir fällt auf, dass ich es liebe, wenn der Schnee die Landschaften in seine Obhut nimmt und verwandelt. Die Kälte raubt mir sämtliche Gefühle in den Gliedern. Dass ich zittere, registriere ich schon lange nicht mehr. Auf dem anderen Bahnsteig ist ein Pärchen erschienen. Ich betrachte die Beiden aus den Augenwinkeln, wie sie sich umarmen und gegenseitig versuchen zu wärmen. Ich beneide sie. Damit ich nicht ganz alleine bin, zünde ich mir eine Zigarette an. Es gelingt nicht gleich, da immer wieder Schneeflocken auf das Feuerzeug fallen und die Flamme löschen. Als es endlich doch gelingt, nehme ich einen so tiefen Lungenzug, daß ich einen Moment befürchte, die Kontrolle über meinen eigentlich schön geraden Marschschritt zu verlieren. Ich bleibe im Takt, im Takt jener Musik, die ich über Kopfhörer höre. Schwermütige Musik, die sich wunderbar der unwirklichen Situation anpaßt. Die Schneeflocken sind mittlerweile überall, es ist unmöglich, weiter als zehn Meter zu schauen. Ich erkenne, daß das Pärchen mich ausgiebig mustert. Wie lange wohl schon? Ich schaue auf die Uhr und stelle erschreckt fest, daß ich erst seit fünf Minuten hier bin. Da der Bus bei diesem Wetter nicht fuhr, mußte ich zu Fuß zum Bahnhof, ein Unterfangen, daß gar nicht so einfach war. Mir war klar, warum der Bus nicht fuhr. Aber ich bin wohl schneller gewesen, als ich eingeplant hatte. Der Zug kommt erst in 25 Minuten. Fünf Minuten! Dieser Gedanke läßt mich nicht ruhen. Ich komme mir vor, als wäre ich schon stundenlang in dieser Kälte. Ich dachte immer, kalt ist kalt. Ab einer bestimmten Temperatur ist es einfach nur noch kalt, kälter geht es nicht mehr. Aber ich irre mich gewaltig, das ist mir nun klar.
Mein Blick wandert von der Armbanduhr zur Bahnhofsuhr. Während ich automatisch den Ärmel zurechtrücke und in den Handschuh stecke, haftet mein Blick auf dem Sekundenzeiger. Mir fällt auf, daß er immer auf der Zwölf anhält, dann springt der Minutenzeiger eine Minute weiter und der Sekundenzeiger schleicht weiter. Ich überlege, ob dadurch nicht mit jeder Minute ein paar Sekunden verschluckt werden. Es fällt mir schwer, überhaupt irgendwelche Gedanken zuende zu bringen. In meinem Kopf ist nur ein Gedanke: Kälte. Wahrscheinlich entsteht ein Großteil der Kälte durch die Eisigkeit, die mein Herz schon seit Monaten eingenommen hat. Aber darüber denke ich nicht nach, eigentlich nie. Das einzusehen würde ja bedeuten, aufgegeben zu haben. Und ich habe dich nicht aufgegeben. Das mußt du doch auch sehen. Würde ich sonst jeden zweiten Tag zu dir kommen, bei Wind und Wetter? Du machst mir immer wieder klar, daß du mich als Freund sehr magst und schätzt, aber dass da niemals mehr werden könne. Wenn du das sagst, nehme ich es gar nicht wahr. Es paßt nicht in meine Welt, die ich mir zurechtlüge. Ja, ich weiß, daß ich mich selbst belüge. Na und? Was ist so schlimm daran? Ich schade niemandem außer mir selbst. Oder schade ich auch dir? Ich weiß es nicht, denn ich denke nie darüber nach. Zu schmerzlich sind die anderen Gedanken und Gefühle, die mit diesen Überlegungen an die Oberfläche kommen. Im Grunde bin ich froh über dieses Wetter. So kann ich mich schlecht fühlen und leiden, ohne dabei über mich nachdenken zu müssen. Ich kann den Schmerz genießen, ohne all die anderen Ängste und Sorgen. Und es ist schmerzhaft.
Der Wind hat aufgefrischt und zerschneidet mir mein Gesicht. Ich habe den Schal etwas höher gezogen. Das Pärchen ist wieder in die Unterführung gegangen und sucht Schutz vor dem Wind. Das könnte ich auch tun, aber irgendwie bindet mich der Anblick dieses unwirklichen Bahnhofs an sich. Ein Zug fährt ein. Der Stromabnehmer der Lokomotive sprüht ein paar Funken, weil die Hochspannungsleitung teilweise vereist ist. Die Türen öffnen sich und ein paar Menschen verlassen den Zug. Man sieht den Dampf aus den Türen quellen, der Zug scheint gut geheizt zu sein. Ich stelle mir vor, wie sie sich fühlen müssen, aus dieser Wärme in die Kälte zu gehen. Ich habe mich eigentlich nie sehr für andere Menschen interessiert, aber heute ist das anders. Ich schaue sie an und überlege, ob sie glücklich sind. Ob sie einen Partner haben, der zuhause auf sie wartet? Der Gedanke in mir will immer wieder in meinen Kopf, auch wenn ich ihn unterdrücke. Er findet "Partnergedanken", die mein Selbstschutz nicht als gefährlich erkennt und deswegen zuläßt. Ich denke darüber nach, wie ich noch vor einer Stunde mit dir zusammen im Wohnzimmer saß, wie wir uns unterhalten haben über die banalstan Sachen und wie ich mich immer wieder dabei erwischt habe davon zu träumen, daß ich in deinen Armen liege. Und ich denke eine Stunde weiter, dann sitze ich bei mir zuhause, allerdings alleine. Wahrscheinlich werde ich mir einen heißen Tee machen und mich mit einer Wärmflasche ins Bett legen. Darauf freue ich mich. Mir fällt auf, daß es schon die kleinsten Sachen sind, die einen in Zeiten der Trostlosigkeit ein wenig glücklich machen. Wenn ich darüber nachdenke, komme ich mir ganz klein vor. Was würden die Menschen auf dem anderen Bahnsteig wohl denken, wenn sie wüßten, daß ich mich mit einer Tasse Tee in einen Rauschzustand des vollkommenen Glücks hineinzutäuschen versuche? Würden sie mich auslachen? Würde ich über jemanden lachen, der so wäre wie ich? Es ist schwer zu sagen.
Noch zwanzig Minuten. Die Stunden bei dir sind wunderschön, aber Momente wie diese, wenn ich mit mir alleine bin, sind unglaublich schwer. Mein Gott, jetzt denke ich wirklich über uns nach. Das darf nicht sein, das macht mich fertig, ich darf es nicht zulassen. Ich wünsche mir, daß mich jemand anspricht und ablenkt, und sei es nur, weil er die Uhrzeit wissen möchte. Aber auf meinem Bahnsteig ist weit und breit niemand zu sehen. Was nicht heißen muß, daß auch niemand hier ist. Ich versuche, den Zigarettenstummel so weit wie möglich wegzuschnippen, daß er dort am Boden aufkommt, wo ich ihn nicht mehr sehen kann. Es gelingt mir nicht, aber nach ein paar Sekunden ist er so eingeschneit, daß ich ihn trotzdem aus den Augen verliere. Was machst du wohl gerade? Wahrscheinlich liegst du auf dem Sofa und siehst fern. Am liebsten würde ich zurückgehen. Zurückgehen? Ich hatte mir einmal vorgenommen, niemals zurückzugehen. Alles hinter mir zu lassen, dich zu vergessen. Aber schon am nächsten Tag war ich wieder bei dir und habe dich umspült mit Liebe, dich unausgesprochen um Verzeihung gebeten, daß ich mit dem Gedanken gespielt hatte, nie mehr zurückzukehren. Wahrscheinlich wäre es sogar besser gewesen. Aber das erkenne ich nicht. Noch nicht jetzt. Vielleicht morgen, aber das ist eher unwahrscheinlich, das weiß selbst ich.
Plötzlich fällt mir auf, daß der Zug gar nicht mehr da ist. Ich habe nicht bemerkt, wie er abgefahren ist. Ich hatte sogar vergessen, wie kalt es ist. In Gedanken fühle ich in meine Tasche und versuche, die Zigarettenschachtel herauszunehmen. Das ist nicht so leicht mit den Handschuhen. Aber es gelingt mir dann doch und ich zünde mir eine weitere Zigarette an. Es ist deine Marke. Ich rauche deine Marke! Nur, um etwas von dir mit nach Hause nehmen zu können. Dieser Gedanke ist mir fast schon peinlich. Ich merke, daß ich keinerlei Respekt mehr vor mir selbst habe. Was muß denn noch geschehen, damit ich mich lösen kann? Die Schneeflocken wehen mir immer stärker ins Gesicht. Das Dach des Bahnsteigs bietet mir keinen Schutz, schon lange nicht mehr. Ich versuche, mich auf etwas Schönes zu konzentrieren. Meine Suche nach schönen Gedanken wird unterbrochen von der Lautsprecherdurchsage des Bahnhofsvorstehers, der bekannt gibt, daß der Zug fünf Minuten Verspätung haben wird. Ich blicke auf die Uhr und stelle fest, daß der Zug laut Fahrplan in einer Minute hätte eintreffen müssen. Ich habe also fast zwanzig Minuten vor mich hingeträumt auf der Suche nach einem schönen Gedanken. Nun gut, mir soll es recht sein, umso schneller kommt der Zug. Trotzdem wundere ich mich darüber und überlege, was die letzten zwanzig Minuten um mich herum passiert ist. Ich weiß es nicht. Der Schnee bildet mittlerweile einen grauen Vorhang, der mich von allen Seiten umgibt. Ich fühle mich isoliert. Langsam wird es dunkel. Eigentlich stimmt das nicht, es wird sehr schnell dunkel. Bald werden die Laternen angehen und das Schneechaos in regelmäßigen Abständen mit einem orangefarbenen Lichtkegel verzieren. Ich fühle mein Gesicht nicht mehr. Ist das das Gefühl, wenn man sein Gesicht verloren hat? Ist das damit gemeint? Es schmerzt ziemlich, zumindest etwas fühle ich noch. Aber ich kann nicht mehr sagen, ob es die Nase ist oder vielleicht doch die Ohren.
Plötzlich taucht der Zug aus der Schneewand auf. Mit quietschenden Bremsen kommt er zum Stehen. Ich gehe einige Schritte durch den knöcheltiefen Schnee bis zur Tür eines Wagons. Ein älterer Herr öffnet von drinnen die Tür und steigt aus. Er ist sehr klein, trägt einen schwarzen Hut und einen grauen Mantel, dazu braune Schuhe. Das fällt mir auf, irgendwie passt es nicht. Aber an solchen Tagen gilt es wohl eher, sich warm zu halten als modisch gekleidet zu sein. Mit dem Herren schlägt mir die Wärme des Zuges entgegen. Es tut gut, gleichzeitig fühlt es sich an wie tausende kleine Nadeln, die sich in mein gefrorenes Gesicht bohren. Der Herr nickt grüßend, ich nicke mechanisch zurück. Ich steige ein und schließe die Tür, eine dumme Angewohnheit, denn eigentlich schließen die Türen ja von selbst. Ich öffne die Tür zum Abteil, glücklicherweise ist es ein Raucherabteil. Beissender Qualm, vermischt mit trockener Heizungsluft, schlägt mir entgegen und läßt mich husten. Eine dicke Frau, die links neben der Tür sitzt, wendet sich entsetzt ab und zischt mich an, ich solle sie bloß nicht anstecken. Ich entschuldige mich und steuere auf einen freien Platz zu. Ich setze mich und öffne den obersten Knopf des Mantels, dann ziehe ich den Schal ein wenig heraus. Jetzt erst merke ich, wie nass er ist. Ich lege ihn ganz ab und werfe ihn auf die Heizung, bin mir aber nicht sicher, ob er trocken sein wird, bis ich wieder aussteigen muß. Ich schaue aus dem Fenster. Der Zug fährt an und die Landschaft, die wie aus Zuckerguss scheint, zieht vorrüber. Langsam kriecht die Wärme in meine erstarrten Glieder, es brennt. Und eine Müdigkeit überkommt mich. Ich hätte nicht gedacht, daß Frieren so müde machen kann. Und dann schlafe ich ein.
Glücklicherweise wache ich rechtzeitig auf, um auszusteigen. Wieder hinaus in die Kälte. Aber der Schlaf hat mir gutgetan. Der Schal ist wirklich trocken und zudem schön warm, das letzte bisschen Wärme, das ich mit in die Kälte nehme. Der Schnee hat nachgelassen, aber der Wind ist genauso stark. Ich schließe den obersten Knopf meines Mantels. Auf dem Bahnsteig mir gegenüber sehe ich einen Mann stehen, der eine Zigarette in der Hand hält. Er schaut mich an. Ob er wohl auf seinen Zug wartet und sich die Zeit damit vertreibt, darüber nachzudenken, was die Menschen um ihn herum für Probleme haben? Ich spüre die Versuchung zu winken und zu rufen, daß es mir auch nicht besser geht, aber mir wird klar, daß ich mich damit lächerlich machen würde. Also gehe ich stumm die Treppen hinunter in die große Bahnhofshalle. Hier ist es warm und reges Treiben herrscht. Ohne großartig nachzudenken, lasse ich mich von der Menschenmenge, die mit mir aus dem Zug gestiegen ist, in Richtung Busse drängen. Ich schaue noch einmal auf das Bahnhofsgebäude zurück und denke daran, daß ich morgen abend vielleicht schon wieder hier bin. Vielleicht, wenn ich nicht bis dahin zur Vernunft gekommen bin. Ich lächele über mein sonderbar nüchternes Einschätzen der trostlosen Situation, in der ich mich befinde, und steige in den Bus.

 

Nix Schlaues nun von mir, nur: schööön ausgedrückt, ich sah richtig die Schnellflocken herumflirren, obwohl ich sie schon so lange nicht mehr in echt gesehen habe! Ich wußte gar nicht, daß Männer so gefühlvoll schreiben können... :)

 

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