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Baustelle Mensch (Altpunk Version)
Eine alternative Version der Geschichte findet ihr hier.
Kassel ist schon ein beklemmendes Nest. Das ist es schon immer gewesen und ich wüsste auch nicht, warum sich daran etwas ändern sollte. Immer, wenn ich mal wieder in meiner alten Heimat bin, wird mir das erst wieder richtig bewusst. Wie hätte ich hier auch meine Jugend überstehen können, ohne kriminell und ... ja, manche mögen es „asozial“ nennen, zu werden. Heute mag es sich geändert haben, aber zu meiner Zeit war Koksen so normal wie Fernsehen. Und wer kokst, also ich meine jetzt nicht, nur so auf Party oder mal am Wochenende oder um es mal ausprobiert zu haben, ich meine so richtig regelmäßig und intensiv, der geht auch nicht arbeiten. Wo auch? Wer will dich denn? Und über so was hatte man sich auch keine Gedanken gemacht. Die Gedanken, die man sich machte, waren zeitlich bis zur nächsten Nase Koks beschränkt. Weiter dachte man nicht. Weiter wollte und konnte man auch nicht denken. Dieses Ziel hatte man vor Augen. Wie und durch welchen Aufwand man dazu kam, interessierte nicht wirklich.
Die Stadt nannte uns Punks. Wegen der auf meinen Kopf drapierten Irokesenstacheln, der bunt-karierten Klamotten und natürlich wegen des Verhaltens. Ach, ich muss schmunzeln, wenn ich dran denke. Politische Aktivität hatten wir nicht zu verzeichnen, was uns auch eigentlich nicht zu Punks machte. Der Auffassung bin ich inzwischen. Wenn man nichts zu tun hat, und auch nichts mit sich anzufangen weiß, kommt man halt auf so Ideen, wie Gullydeckel ausheben, Wasserbomben von Autobahnbrücken zu werfen oder die Hüte der Bettler und Straßenmusikanten wegzutreten.
Gleich, wenn ich in die Arme meines Bruders sinken werde, denn deswegen bin ich hier, werde ich mit ihm über diese Zeit reden. Denn er war immer dabei gewesen, der olle Mike, der Junkie. Wir waren nur zur Hälfte Brüder, da wir nur die Mutter teilten, eine Prostituierte aus ... ach, wieso erzähl ich euch das?
Ich möchte von mir nicht behaupten, dass ich es in meinem Leben zu etwas gebracht habe. Bei Gott nicht! Dazu war die Zeit damals dann doch zu intensiv gewesen. Aber zumindest hatte ich es geschafft aus diesem Nest rauszukommen, hatte einen Job als Zimmermann bekommen und mache bald meinen Meister. Ich kann mich nicht beklagen, sagen wir es so.
Mein Bruderherz wohnt immer noch hier. Zwar etwas außerhalb, aber halt immer noch hier. Von daher hatte ich ihm was voraus. Aber er wird bald heiraten. Wer hätte damit gerechnet? Im „Spot“ hat er sie kennen gelernt und viel mehr weiß ich auch noch nicht über sie. Deswegen bin ich ja hier.
Ich fahre in die Wolfhagener Straße ein. Glaubt es mir: Kassel hat mit Abstand die hässlichsten Nutten der Welt. Geschlechtskrankheiten werden hier rumgereicht wie Zigaretten.
Ob es das „Spot“ noch gibt? Es scheint geöffnet zu sein, soviel kann ich aus dem Auto heraus sagen. So früh hatte es sonst nicht auf. Ich werde schauen gehen.
Putzfrauen sind hier nicht angestellt, soviel lässt sich sagen. Ansonsten ist der große Saal geschlossen, ist ja auch noch früh. Die kleine Lounge, wo früher immer die Jungs von "Sprengsatz" spielen durften, war geöffnet, die Diskokugel drehte sich gelangweilt und der rauchende Barkeeper beachtete mich nicht. Auf einem der Barhocker saß jemand, dessen Aussehen meinem zu der damaligen Zeit sehr ähnelte. Der „Punks not dead“-Pulli, der Nietengürtel: bis ins Detail.
Ich setzte mich drei Hocker neben ihn und bestellte ein Bier. Ich sagte es einfach in den Raum hinein, da sich mir niemand anbot, bereit zu sein, eine Bestellung aufzunehmen. Als ich mein überschäumendes Bier auf den Tresen gerotzt bekam, fragte ich den Barkeeper, wann der große Saal denn öffnen würde. Erst, als das Lied verstummt war und eine längere Pause verstrichen war, in der sich die Diskokugel mindestens zwei mal meckernd und altersschwach gedreht hatte und schließlich das nächste Lied erklungen war, erhob mein Thekennachbar seine Irokesenstacheln, musterte mich, nahm einen Schluck Bier und sagte mehr als dass er es fragte:
„Du bist nicht von hier, oder?“ Für ihn war es eine Feststellung.
Und ich möge verdammt sein, wenn ich dieser Visage nicht schon mal begegnet war. Ich meine jetzt nicht, weil er meiner damaligen Person ähnlich sah. Sein vernarbtes Gesicht ähnelte mir zum Glück gar nicht. Aber ich kannte diesen Vogel!
„Nein. Ich bin auf der Durchreise“, antwortete ich nach einer Weile, da mir das hier so üblich schien. Man musste ja nicht gleich mit offenen Karten spielen. Für einen Fremden ist es gelegentlich einfacher, Dinge zu erfahren, als für Insider.
„Sei froh, man! Hier will doch keiner wohnen!“ Beide lachten.
„Ja, das stimmt schon“, ergänzte ich, als er sich gerade wieder wegdrehen wollte und das Gespräch, sowie mich, abgestempelt hatte. „Hier würde ich nicht einmal tot überm Zaun hängen wollen.“
Provokant drehte er sich wieder zu mir, musterte mich noch einmal und fragte schließlich, ob ich die Geschichte der Getränkemarktpunks kenne.
- dem geschulten Leser mag jetzt wahrscheinlich aufgefallen sein, dass dies eine sehr abrupte und ungewöhnliche Gesprächsentwicklung war. Nun soll der Leser erfahren, dass es sich für einen stolzen Kasselaner (was schon Ironie genug ist) gehört, schlecht über seine Stadt zu reden. Und er tut dies gern und ausgiebig. War das Thema einmal angeschnitten, übertrumpften sich beide Parteien mit kreativen Umschreibungen. Bis, so drei gemeinsame Biere später, mein Gesprächsgegenüber zu dieser Einleitung einblendete -
Die Geschichte sei ein Mythos in der linken Szene, davon hätte ich zwar keine Ahnung, aber er würde sie mir trotzdem gerne erzählen. Ich merkte, wie er sich in einen Redeschwall steigerte und ich gehe einmal stark davon aus, dass er sich zuvor auf der Toilette die Nase gepudert hatte.
Der Barkeeper verdehte genervt die Augen, als er die Worte Mythos und Geschichte vernahm. Der Barbesucher erzählte sie nicht zum ersten Mal, soviel war klar.
Er erzählte von einem dieser heißen Sommertage, wo einem die Sonne das Bier wegtrank, der Schatten vor der Menschheit zu flüchten schien und sogar die Hunde zu träge zum Pissen gewesen seien. Umschreibungen, die vorbereitet waren. Dieser Typ hatte es trainiert, diese Geschichte zu erzählen.
Mit brennender Leidenschaft beschrieb er mir eine Gruppe von ungefähr fünf bis sieben Leuten (ich konnte ihm nicht immer folgen) die, seinen Ausführungen nach, tagtäglich vor einem Getränkemarkt unten im Friedrichstal saßen. Er gebrauchte das Wort abhängen. Und ich glaube, selbst den wortgewandtesten Schriftkünstlern würde für das alltägliche Sitzen vor einem Getränkemarkt kein passenderes Wort einfallen.
So, wie dem aufgeklärten Leser dieser Geschichte, dämmerte auch mir schon, worauf die Erzählung hinauslaufen würde.
Gerade, als er dann erwähnte, er könnte diese Geschichte so präzise wiedergeben, da er zu der Zeit gerade ein Praktikum in diesem Getränkemarkt absolvierte.
Ich sah ihn an, erkannte ihn und schmunzelte.
Dann erzählte er, wie er mit den Punks abgedreht sei. Wie sie mit ihm eine Band aufmachen wollten, mit ihm in die Altkleidersammeltonne urinierten und seinen Teilzeitchef, er nannte ihn Hitler (was selbstredend nicht sein amtlicher Name war), mit Bier bespritzt hatten.
„Uns war nichts heilig, Mann! Absolut nichts! Gesetzte? Sowatt gabs bei uns nicht! Da kannste dir aber `n Ei drauf backen!“. Mit der Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger zeigte er auf mich.
Sie wären der Schrecken der Stadt gewesen, und die Bullenschweine wären einmal pro Tag an ihrem Treffpunkt vorbeigefahren, weil sie neue, ich würde ja „Streiche“ sagen, er nannte es „Anschläge“, befürchteten.
„Weißt du: Die Zeiten waren hart. Du brauchtest deine Leute, sonst warst du nichts. Wir waren gegen die Spießer, gegen die verfickte Pedanterie und gegen die verdammten Nazis.“
Halt dagegen! Ich hatte es verstanden. Dann begann er endlich von mir und meinem Bruder zu berichten. Von zwei Pfundskerlen, die in den Tag hineinlebten, denen kein Mittel krass genug war, um an Drogen oder Alkohol zu kommen, denen keiner was anhaben konnte.
Von Cola mit Persil, Randaleakten und meinem angeblichen Erfolg bei den Weibchen erzählte er. Wusste ich auch noch nicht.
Aber lassen wir ihn doch erzählen:
„Weißt du, es gab wieder mal nichts zu tun. Vollgekokst waren wir alle. War so üblich damals. Ich hoffe, du bist kein Zivibulle! Sonst müsst ich dich jetzt umlegen. Höhö.
Diese beiden Brüder, von denen ich dir eben erzählt habe, hatten wieder einen Bruch gemacht. Sie prahlten mit einer Geldbörse wo so Fotos von Spießerkindern drin waren. Höhö. Ich musste ja eigentlich arbeiten, aber ich hab drauf geschissen, Mann. Der alte Rokal, so hieß mein Sklaventreiber damals, hat mich immer angeschrieen. Aber der konnte mich mal. War doch nur ein beschissenes Praktikum. Arbeit ist die falsche Droge, sag ich immer. Also hab ich meinen Jungs immer Bier rausgebracht. Das hat der alte Nazi gar nicht mitbekommen.
Und als ich mal länger drin war, und dann wieder raus kam, sah ich einige der Jungs mit Sachen ankommen. Du weißt schon, ich mein so ... höhö Arbeitskram. Kellen und Säcke mit Zement und so was. Ja und dann gings auch schon los! Da wurde nicht lange geschnackt! Da haben wir unserem Getränkemarkt da eine Mauer hingefickt.
Weißt du, diese Anlieferrampe war zu den Seiten nicht begrenzt. Und ... ach, frag mich nicht. Darum gings auch gar nicht. Weißt du, Mike war gelernter Maurer. Ihr Spießer ... höhö denkt ja immer, wir Schmuddelpunks hättens nicht raus. Aber ich sag dir: Binnen drei Stunden stand da eine erstklassige Mauer. Kannste mir glauben, Mann. In Waage und alles. Da hätten so manche aber gestutzt. Das würdest du und dein Rechtsscheitel nicht hinbekommen. Höhö."
Er entflammte sich eine neue Zichte und fuhr fort.
„Und dann kamen die Bullenschweine. Und weißt du: Die wollten unsere Mauer doch tatsächlich wieder einreißen! Kannste dir das vorstellen? Die waren so perplex. Und ... höhö, natürlich artete die Situation dann aus. Wie und warum genau, weiß, wie immer, natürlich keiner mehr so genau. Aber ... höhä gefickt haben wir sie, Mann. Die scheiß Bullenschweine! Deutsche Polizisten: Mörder und Faschisten, Gärtner und Floristen! Höhä.
Weißt du: Die Mauer steht noch heute. Kannste kucken! Unten im Friedrichstal. Der REWE Getränkemarkt.
Mann, ich sag dir: Die Wichser haben wir so richtig abgefegt! Die haben nicht mehr ordnungsgemäß gegrinst, soviel kann ich dir sagen.
Klar, Mann. Ich hab in meinem beschissenen Leben einen Scheißdreck erreicht. Eine Alte geschwängert und einen Bullen k.o. geschlagen. Das kann ich vorweisen.
Und diese eine Mauer, Mann. Die steht noch da. Als Zeichen, Mann! Dass man sich nicht unterkriegen lassen sollte. Verstehste? `Punks not dead´ haben wir draufgesprüht. Und niemand wischt es weg. Verstehst du? Das wagt kein Bulle!
Und jetzt frag ich dich und deinen Scheitel: Was hast du in deinem Leben erreicht?“
Ich leerte mein Bier und antwortete:
„Anscheinend nichts!“
Fin