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Befreiung
Befreiung
Ich sah sie kommen, während ich im Herd das Feuer zu entfachen versuchte. Obwohl ich längst geahnt hatte, dass ich das heutige Mittagsmahl versäumen würde. Ich kann nicht sagen, warum – ich wusste es einfach, so wie man ein herannahendes Unglück oder doch wenigstens ein unangenehmes Ereignis bereits im Voraus spürt, mit einer eigentümlichen Enge der Kehle und einer Schwere im Magen, die es mir wohl auch nicht ermöglicht hätte, zu essen.
Doch was macht es für einen Unterschied? Sie kamen und ich war vorbereitet. Selbst wenn du sie persönlich kennst, wenn sie stets gut auf dich zu sprechen waren; haben sie dich erst einmal auserkoren, oder besser: wurdest du ihnen genannt, so vergessen sie auf der Stelle alle Regeln der Höflichkeit – Fähnlein im Wind. Bei Weitem nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum in aller Welt die große Menge der Menschheit ihre Handlungen darauf ausrichten muss, anderen zu gefallen – und dabei jegliche Menschlichkeit vergisst. Wie starke, grimmige Krieger treten sie auf, ich achtete sie niemals und machte auch keinen Hehl daraus. Warum auch? Stark und grimmig, ja, uns gegenüber, einfachen, wehrlosen Bewohnern der Stadt gegenüber. Gaben sie ihrem Hauptmann jemals ein Widerwort, ganz gleich, wie sie zu seinen Befehlen standen? Kann man das als Stärke bezeichnen, als Mut, etwa Ehre? Ich kann es nicht. Doch zurück zum Wesentlichen. Ich sah sie kommen und wusste, dass sie zu mir wollten. Schnell, ohne zu überlegen, steckte ich mein Küchenmesser, mit welchem ich zuvor noch Gemüse geschnitten hatte, in meinen Rock. Das kalte, an meinem Schenkel ruhende Metall gab mir ein Gefühl von Sicherheit, von Schutz, allen voran Hoffnung. Es war ebenso wenig ein spontaner Entschluss wie ein gut durchdachter Plan. Schlicht und einfach schien es mir in jenem Augenblick wie das Selbstverständlichste der Welt.
In diesem Augenblick hämmerten sie gegen meine Tür, beinahe so, als wollten sie sie einschlagen. Bitte sehr, dann sollten sie es tun. Ich würde sie nicht aufhalten, ebenso wenig aber gedachte ich ihnen entgegen zu kommen. Ich wusste: Sie bekamen stets, was sie wollten. Ich wusste auch: Ich stellte keine Ausnahme dar. Ihnen aber eigenhändig die Tür zu öffnen in der Gewissheit, dass sie kamen, mich zu verhaften, das hätte meinen Stolz sehr verletzt. Eine einfache Frau und Stolz? Ein schlichtes, hartes Leben und dennoch Stolz? Nun, ich war fest davon überzeugt, dass ich mehr Grund zu solcherlei Gefühlen hatte als jeder dieser Soldaten, dieser Stadtwachen, die heute deine Freunde sind und dich morgen verhaften, quälen, foltern, ehe sie dich auf Befehl ihres Dienstherrn hinrichten. Auch war mir durchaus bewusst, dass allein Gedanken wie diese mein Schicksal schlussendlich besiegelt hatten. Gut, dann war es eben mein Schicksal.
Sie brachen die Tür ein, mit einem lauten Krachen schlug sie zersplitternd auf dem Holzboden auf. Dummköpfe, Fanatiker, dachte ich. Ich hatte den Riegel nicht vorgeschoben an diesem Morgen. Sie hätten die Tür nur zu öffnen brauchen. Feste, rasche Schritte näherten sich mir. Mit verschränkten Armen stand ich in der Küche, den Rücken zum Fenster. Entschlossen blickte ich direkt in die kalten Augen meiner Gäste. Für einen Augenblick schienen sie zu erstarren, zu zögern. Wenig später waren sie mit je einem langen Schritt bei mir und ergriffen unsanft meine Arme. Ich wehrte mich nicht, als sie mich mehr oder minder brutal aus meinem Haus zerrten. Das Feuer in meinem Herd hatte ich nicht gelöscht.
Nun stehe ich hier, vor dem Eingang zum Kerker, umringt von einer gaffenden, höchst interessierten Menge Schaulustiger. Nicht wenige von ihnen hatten sich bis gestern noch meine Freunde genannt. Über alles hatte ich mit ihnen sprechen können, angeblich. Sie hätten meine Meinung akzeptiert, auch wenn die sich so sehr von der erlaubten Meinung der Allgemeinheit unterschied. Niemals hatte ich es glauben können, am wenigsten nach all den drängenden, nötigenden Versuchen, meine eigene Meinung zugunsten jener der breiten Masse aufzugeben. Deutlich ist mir bewusst, dass sie es waren, meine Freunde, die mich verraten haben. Möglicherweise war es ihre erste ehrliche Handlung.
Vergeblich versucht einer der beiden Soldaten, das schwere Eisentor, welches in die kalten, unwirtlichen, unterirdischen Gänge dieses bedrohlichen Gemäuers führt. Dunkel und erschreckend ragt der Turm in die Höhe, verdeckt den Blick auf den blauen, wolkenlosen Himmel dahinter und wirft seinen Schatten auf die Stadt, erdrückend. Die „Masse“ scheint sich durchaus wohlzufühlen in diesem Schatten.
Der Soldat steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht daran, zerrt, schüttelt an dem Tor, flucht – es öffnet sich nicht. Nur ein Mann noch steht an meiner Seite, hält meinen linken Arm in lockerem Griff. Umringt von nahezu allen Einwohnern der Stadt, die ihnen so zujubeln, das weiß er, wird es mir nicht möglich sein, zu fliehen. Vielleicht ist es seine Hoffnung, ich möge es dennoch versuchen. In diesem Fall würde meine Folter lediglich eine Spur härter ausfallen, das kann nur nach seinem Geschmack sein, ganz abgesehen davon, dass die erwartungsvollen Städter sich über eine fehlgeschlagene Flucht meinerseits freuen würden. Abwechslung ist ihnen immer recht, ganz gleich, welcher Art sie sein mag.
Je länger ich warte, desto stärker wird mein Zorn auf all diese Falschheit, die mich umgibt, ebenso wie meine Entschlossenheit stetig wächst. Ich werde nicht aufgeben, ich werde, nein, ich kann meinen „Feinden“ nicht die Genugtuung lassen, über meinen Tod zu bestimmen. Weder werde ich in einem feuchten, kalten Kerker tief unter der Erde schmachten, noch wird man mich hinrichten. Ich weiß es und ich habe vorgesorgt. Sollte ich jemals gezweifelt haben, in diesem Augenblick sind alle Zweifel verschwunden, untergetaucht im tiefen Meer der Vergessenheit. Und zweierlei weiß ich sicher: Dies ist meine Chance. Und Ich habe nichts mehr zu verlieren.
Angewidert spucke ich dem Soldaten an meiner Seite vor die Füße und blicke herausfordernd in seine entsetzten Augen. Das hat ihm offenbar niemand zuvor geboten. Schnell jedoch fängt er sich wieder. Er hebt seine Hand, holt zum Schlag aus. Die Menge hält gespannt den Atem an.
Ich weiß nicht, wie ich plötzlich so rasch zu reagieren vermag. Ohne darüber nachzudenken tauche ich unter seinem hinabschnellenden Arm hindurch und weiche stolpernd einige Schritte zurück. Wutentbrannt, weil entblößt von einer einfachen „verurteilten“ Frau, setzt er mir nach. Doch er hält augenblicklich in der Bewegung inne, als ich das Messer aus meinem Rock ziehe und empor halte. Die Gelegenheit ist da und ich werde sie nutzen. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich bin bereit. Tief in meinem Innern war ich schon seit langer Zeit darauf vorbereitet. Gänzlich ohne Angst, ohne irgendeinen Gedanken, hebe ich das Messer auf Brusthöhe und steche zu.
Ein erstauntes Raunen geht durch die Menge, als die verhaftete Frau mit dem eigenen Messer in der Brust zusammenbricht und eine Blutlache sich um den Leichnam herum bildet. Die ebenso angewidert wie erschrocken zurücktretenden Soldaten erkennen mit Erstaunen ein triumphales Lächeln auf den Lippen der Frau. Und sie wissen: Diese Frau starb nicht aus Verzweiflung. Ihr Ziel war es, sich über das Urteil des Stadtherrn hinwegzusetzen. Und sie hat dieses Ziel erreicht. Sie mögen es sich selbst und vor allem anderen nicht so recht eingestehen wollen, aber keiner der beiden kommt umhin, ein wenig Achtung für sie zu empfinden.
Etwa zur gleichen Zeit wie die Verhaftete sich von ihrer Last befreit hatte, war ihr Haus in Flammen aufgegangen. Und als die Stadtbewohner zu ihren Häusern zurückkehren, müssen einige von ihnen mit purem Entsetzen feststellen, dass das Feuer auf die Häuser der Nachbarschaft übergeschlagen hatte und im Begriff war, eine Schneise der Vernichtung zu schaffen.