Befristete Zuneigung
Befristete Zuneigung
Als der Verwaltungsangestellte Hermann Krawutke die LPG-Arbeiterin Editha Pilokat ehelichte, war sie schon Ende Dreißig, eine „Übriggebliebene“, maskulin gebaut, schwarzhaarig, mit deutlichem Bartflaum in einem rotwangigem, fleischigem Gesicht. Der scheue Hermann hatte zwar von einer grazilen Schönheit geträumt, aber er war bereits über vierzig, dürr, kleinwüchsig und krumm, mit einer hässlichen Hakennase. Da konnte man keine Ansprüche erheben.
Er hatte vergeblich versucht, Editha für das zu begeistern, wofür nun mal sein Herz schlug, für die Poesie und die bildende Kunst. Er verzagte, denn diesen Dingen gegenüber erwies sie sich als undurchdringliches Bollwerk, und so zog er sich mehr und mehr von ihr in sich zurück, während sie enttäuscht ihren Tagträumen von einem handfesten Kerl, den sie sich eigentlich gewünscht hatte, nachhing.
Dann kam es zur überraschenden Grenzöffnung der DDR, dem Mauerfall. Am selben Abend noch fuhren sie in ihrem Trabi nach Berlin. Hermann und Editha erreichten problemlos das Westterritorium. Erst hier, im für sie exotischem Leuchtreklame-Flair, verloren sie alle Zweifel. Ihr Volk war wirklich frei. Und stürmisch fielen sie sich in die Arme. Eine viertel Stunde hielten sie sich fest umschlungen. Es war Monate her, als sie sich zuletzt umarmt hatten, und jetzt waren sie sich nahe wie nie zuvor.
Später erinnerten sie sich häufig daran. Jedes Mal fielen sie dabei in ein ratloses Schweigen, denn sie trauerten um dies sofort wieder abhanden gekommene Gefühl ihrer damaligen Seelenverwandtschaft, um dies innige Miteinander-Einssein, um diese kurzlebige Blitzliebe im Angesicht des Brandenburger Tores. Und sie wussten, die Grenzöffnung wird sich nicht wiederholen. Aber vielleicht käme ja ein Krieg . . .
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