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Begegnung
Ich liebte meinen Job. Und das, obwohl er zwangsläufig mit zwei Dingen verbunden war, die für mich unangenehm waren, die sich aber nicht umgehen ließen.
Zum Einen waren es die großen Hotels der Luxusklasse mit ihrer zwar eleganten, aber sterilen Atmosphäre. Es war hilfreich und deshalb notwendig, sich in solchen Häusern einzuquartieren, denn meine Aufgabe bestand darin für eine große Wirtschaftszeitung Recherchen zum unerschöpflichen Thema ‚Wirtschaftskriminalität' durchzuführen. Da war es wichtig, mit den Bossen aus der Industrie- und Bankenwelt auf Tuchfühlung zu sein, die sich hauptsächlich dieser Hotelkategorie bedienten. Auch mit Ihren diversen Begleiterinnen, die manchmal, ohne es zu ahnen, wertvolle Hinweise gaben.
Das andere, was mir immer zu schaffen machte, waren die langen Wartezeiten. Warten auf Gäste, die mit verspäteten Flügen eintrafen. Warten auf Informanten. Warten auch auf Kollegen, die es nie schafften pünktlich zu sein. Und oft einfach Warten auf einen günstigen Augenblick, auf ein Stichwort in einer Diskussion, das mir einen weiteren Mosaikstein für das Gesamtbild lieferte, das ich benötigte, um meinen Auftrag erledigen zu können.
Und trotzdem - wie gesagt - liebte ich meine Arbeit über alles, denn sie bot immer Neues und geizte nicht mit Überraschungen.
Die großen Tiere aus der Industrie gaben sich damals gern ihr Stelldichein in den traditionellen Luxushäusern in St. Moritz. Sie wussten die Diskretion der Schweizer Hotellerie zu schätzen.
So kam es, dass ich in der vornehmen Halle des Hotels Suvretta House saß und auf einen Gesprächspartner wartete. Aus Gründen der Verschwiegenheit kann ich hier seinen Namen nicht preisgeben, aber er tut auch wenig zur Sache. Ich möchte nämlich viel mehr von einer Dame erzählen, die mir in der langen Wartezeit aufgefallen war.
Die Unbekannte war anders, als die anderen weiblichen Gäste, die in der geräumigen Hotelhalle saßen, oder diese durchquerten. Auch sie war sehr elegant gekleidet, keine Frage, aber die Kombination aus heller Bluse in leichtem Leinenstoff und khakifarbenem Rock war natürlicher, als das, was andere Damen im Raum zur Schau trugen. Es zeugte von einer einfachen Eleganz, die aber trotzdem eine gewisse Raffinesse aufwies. Warum vermochte ich nicht mit Sicherheit zu sagen, aber der Eindruck war eindeutig und nicht zu verkennen. Bestimmt kam dazu, dass ihre Kleidung eher für sommerliche Temperaturen geignet war, als für das rauhe, aber herzliche Klima des Engadins. Wenig Schmuck, nur dezente Ohrringe und eine dünne, aus der Entfernung kaum wahrnehmbare Halskette ergänzten das Bild. Sie wirkte auf mich nicht wie viele der neureichen „Pelztierträgerinnen", die eine Hotelhalle stets mit einem Laufsteg verwechseln, sondern ihre natürliche Erscheinung unterschied sie rein äußerlich vom Gros der anwesenden Gäste. Ihre Bewegungen waren klar und auf das Minimum reduziert. Nichts Fahriges, oder Unkontrolliertes konnte ich dabei feststellen. Ihr Körper bewegte sich exakt wie ein Schweizer Uhrwerk. Den edlen Einrichtungsgegenständen und den teuren Gemälden an den Wänden schenkte sie keinerlei Aufmerksamkeit, als sie zielgerichtet eine freie Sitzgruppe am Fenster ansteuerte. Obwohl die Sonne draußen die einmalige Schneelandschaft in einem zauberhaften Licht erglänzen ließ, setzte sie sich mit dem Rücken zum Fenster, zog ein Buch aus ihrer geräumigen Handtasche und begann zu lesen. Ich schloss daraus, dass sie das Hotel gut kannte. Sie fühlte sich scheinbar zu Hause hier. Besuchte sie St. Moritz öfters? Oder dauerte ihr jetziger Aufenthalt schon länger?
Meine berufliche, aber auch die private Neugier war geweckt. Wer war diese Fremde? Reiste sie alleine? War sie geschäftlich, oder in einer persönlichen Angelegenheit unterwegs? Eine normale Urlauberin war sie jedenfalls nicht.
Ich tat das, was ich in dieser Situation für angebracht hielt: Im stillen weiter beobachten und dabei möglichst viele Informationen sammeln. Langsam begann mir das ungeliebte Warten sogar Spaß zu machen. Ich erhob mich, ging zur Toilette um etwas Zeit zu gewinnen. Dann drehte ich noch eine kleine Runde durch die großzügigen Räumlichkeiten des Hotels um anschließend erneut, aber diesmal von einer anderen Seite, die Hotelhalle zu betreten. Ich fand einen freien Sessel, der zwar in ihrer Nähe war, aber trotzdem weit genug von ihrer Sitzgruppe entfernt, um mich nicht aufdringlich wirken zu lassen. Sie blickte kurz von ihrem Buch auf, als ich mich hinsetzte, und ich glaubte sogar das Aufblitzen eines Lächelns in Ihrem Gesicht festzustellen.
Von hier aus konnte ich erkennen, was sie las: Sie hatte sich in ein gebundenes Buch vertieft. Den Titel konnte ich nicht erkennen, denn die Fremde hatte ihn mit der Hand verdeckt. Deutlich zu erkennen war aber der Name des Autors: Shakespeare.
Als ich gerade dabei war mir zu überlegen, was einen modernen Menschen dazu bringen könnte, sich am hellen Nachmittag intensiv mit Shakespeare zu befassen, kam ein Kellner und stellte mit elegantem Schwung eine Portion Tee und ein Glas Wasser vor die Fremde auf den kleinen Beistelltisch. Ich konnte mich nicht erinnern gehört zu haben, dass sie etwas bestellte. Konnte es sein, dass die Dame jeden Tag zur gleichen Stunde Ihren Tee mit Wasser trank und die Bedienungen im Hotel dieses Ritual schon kannten? Dass sie ihre Bestellung während meiner Abwesenheit aufgab, ist unwahrscheinlich, denn in einem Hotel dieser Klasse gehört zwar ein schneller Service zum guten Ton, aber Eile ist verpönt.
Die fremde Lady wurde für mich immer rätselhafter.
Ich versuchte eine gedankliche Inventur durchzuführen. Was wusste ich von dieser Frau? Ich schätzte sie auf knapp über vierzig, wobei mir wieder schlagartig klar wurde, wie schwer es fällt, Menschen nach ihrem Alter richtig einzuschätzen. Sie zeigte ein selbstsicheres Auftreten und kleidete sich mit einer ausgesprochen eleganten Einfachheit. Sie vermittelte den Eindruck, sich im Suvretta House zu Hause zu fühlen. Und sie las konzentriert Shakespeare. Verglichen mit den anderen Menschen in diesem Hotel, die sich in aller Regel als „Erfolgsmenschen“ gaben, und dies mit herablassender Blasiertheit unterstrichen, war es, als ob sie aus einer anderen Welt käme. Mehr wusste ich nicht von ihr. Doch, noch etwas: Bevor Sie den Tee eingoss gab Sie Milch und Zucker in die Tasse. Diese Reihenfolge kenne ich von England. War sie vielleicht Engländerin? Das würde zumindest wieder zu Shakespeare passen.
Der Hotelpage riss mich aus meinen Überlegungen, als er mich diskret von der Seite ansprach, um mir mitzuteilen, dass mein Gesprächspartner endlich eingetroffen sei.
Beim Gespräch mit diesem Herrn aus der Führungsetage eines internationalen Konzerns war ich nicht bei der Sache. Die wichtigsten Fragen, die mich in meinem Projekt weitergebracht hätten, fielen mir nicht, oder erst zu spät ein. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu der Dame in der Hotelhalle ab. Nicht nur die Gedanken, sondern auch meine Augen, denn ich wählte meinen Sitzplatz so, dass ich durch die offenen Türflügel der Anton's-Bar die Fremde in der Hotelhalle beobachten konnte. Shakespeare schien sie wirklich zu fesseln. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Ihre Umgebung schien sie völlig vergessen zu haben.
Ich hatte es meiner Zerstreutheit zuzuschreiben, dass die Unterredung ergebnislos verlief, also für meinen Gesprächspartner und für mich unbefriedigend. Trotzdem war ich nicht unglücklich, denn von meinem Platz in der Anton's Bar aus konnte ich sehen, dass meine Dame Gesellschaft bekam. Eine untersetzte Frau, gekleidet in ein mausgraues, uniformartig geschnittenes Blazerkleid, ging mit energischen Schritten auf die Sitzgruppe am Fenster zu, setzte sich ohne eine sichtbare Begrüßung neben meine Dame und begann intensiv auf diese einzureden. Natürlich konnte ich aus der Entfernung nicht hören, was gesprochen wurde, aber ich hatte den Eindruck, dass der Inhalt des Monologes meine Lady wenig interessierte. Mit Widerwillen klappte sie ihr Buch zu, ließ aber den Finger zwischen den Seiten stecken, so als wollte sie möglichst schnell weiter lesen. Mit dem Buch in der Hand lehnte sie sich weit zurück in das bequeme Polster ihres Sessels. Während die andere weiter sprach und gestikulierte, schaute sie sich teilnahmslos in der Halle um.
Als ich meinen Gast im Foyer mit einem knappen Gruß verabschiedet hatte, kehrte ich zu meinem Platz in der Bar zurück und trank mein Glas leer.
„Wer sind denn die beiden Gäste?“, fragte ich den Kellner, nachdem er die Gläser auf sein Tablett gestellt und ich ihm die Position der Sitzgruppe in der Halle genau beschrieben hatte.
„Aber entschuldigen Sie, bitte, Herr Adler, Sie wissen doch, dass wir grundsätzlich keine Informationen über unsere Stammgäste weitergeben dürfen. Das sind wir dem Ruf unseres Hauses schuldig“. Immerhin hatte ich schon erfahren, dass es sich um „Stammgäste“ handelt.
Unauffällig schob ich ihm einen größeren Geldschein in die Hand und bestellte einen weiteren Drink.
Die einseitige Unterhaltung zwischen den beiden ungleichen Damen ging weiter. Der Redeschwall der Mausgrauen die sich immer weiter in ihrem Sessel vorbeugte, schien an ihrer Gesprächspartnerin abzuprallen.
Unter dem Fuß des schweren Kristallglases, in dem das nächste Getränk serviert wurde, steckte dann der Zettel mit dem gewünschten Hinweis: „Zimmer 212, Ellen Greenfield, Elisabeth Brown“. Vielleicht lag ich mit meiner Vermutung „England“ richtig?
Beim Versuch herauszufinden, wer von den beiden Damen Ellen und wer Elisabeth war ließ ich die Eiswürfel im Glas leise klirrend kreisen. Ich rollte die beiden Namen auf der Zunge und sprach sie mir leise vor, um zu ergründen, welche Gefühle sie in mir wecken. Elisabeth klang zwar edel; schließlich heißt sogar die englische Queen so. Aber gleichzeitig hinterließ er den Eindruck etwas altbacken und verstaubt zu sein. Ellen wirkte im Vergleich jünger und aufgeschlossener. Ich nahm für mich fest an, dass sich meine Lady Ellen nannte.
Das Trinkgeld, das ich dem Kellner gab, hatte positive Nachwirkungen: Der für mich reservierte Tisch zum Abendessen war direkt neben dem der beiden Damen. Der Austausch der üblichen Höflichkeitsfloskeln ebnete den Weg für ein kurzes, unverbindliches Gespräch, wie es zwischen Hotelgästen, die sich plötzlich als Tischnachbarn sehen, üblich ist. Mit England lag ich goldrichtig. Der Akzent "meiner" Lady verriet die Zugehörigkeit zur besseren Londoner Gesellschaft. Sie wählte ihre Worte mit ruhiger Gelassenheit, wobei sie das "th" mit vornehm gespitztem Mund sprach. Hatte ich vorher übersehen, dass sie eine fragil gestylte Halbbrille mit randlosem Gestell trug? Vielleicht saß ich nur zu weit von ihr entfernt .
Zwischen die einzelnen Sätzen meiner Lady floss der gewaltig sprudelnde Redeschwall der Mausgrauen. Lauter, als es im diskreten Rahmen dieses Raumes erforderlich gewesen wäre. Auch in englisch, aber im breiten Dialekt der Blackcountries. Das Ganze von weit ausladenden, wenig fraulichen Handbewegungen begleitet.
Und dann endlich das ersehnte Stichwort, das Klarheit schaffte: "Am Samstag fahren wir weiter nach Italien, Ellen", sagte die Mausgraue. Mein Gefühl hatte mich also nicht getäuscht.
Elisabeth breitete umständlich eine Straßenkarte von Norditalien auf dem kleinen Tisch aus und warf dabei versehentlich ein Glas um. Schnell hob ich das Glas auf, das auf dem weichen Teppich nicht zu Bruch ging, und stellte es wieder an seinen Platz.
„Sie wollen Ihren Urlaub in Italien fortsetzen?“ Ich ergriff die günstige Gelegenheit, um ein Gespräch mit den beiden Damen anzuknüpfen. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Erwin Adler. In Italien kenne ich mich gut aus und kann Ihnen vielleicht einen Tipp geben, falls Sie das wünschen.“
Die Reaktion der beiden Damen hätte nicht unterschiedlicher ausfallen können. Während Ellen mir aufmunternd zunickte, hätten mich die Augen der Mausgrauen am liebsten durchbohrt. 'Was fällt Ihnen ein, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen?', war die unausgesprochene Botschaft, die sie quer über den Tisch schickte.
"Ellen Greenfield", stellte sich meine Lady mit einer angedeuteten Verbeugung vor "und das ist Elisabeth Brown, meine Begleiterin."
Die Augen der Mausgrauen funkelten immer noch feindselig.
"Welchen Teil von Italien möchten sie denn besuchen? Den Norden, oder lieber die entfernteren Gegenden im Süden?" Ich schob meinen Stuhl näher zum Nachbartisch und zeichnete auf der Landkarte die Route von St. Moritz durch das Bregagliatal bis an die Grenze bei Castasegna, und danach auf der Staatsstraße 36 zum Comer See nach. "Sie fahren mit dem Auto?"
"Wir haben vor, zuerst einige Tage an einem der Seen, nahe der Schweizer Grenze zu bleiben, um dann in den wärmeren Süden zu fahren. Die Gegend hier oben ist zwar wunderbar, aber zu rau für uns. Außerdem ist das Fahren auf schneebedeckten Straßen nicht ganz ungefährlich. Bei uns in England kennen wir diese Verhältnisse selten."
"Da oben könnte man ja glatt erfrieren," grummelte Elisabeth und rieb sich demonstrativ die Hände, sie fror selbst in der komfortabel geheizten Hotelhalle. Ihre Abscheu vor dem winterlichen Gebirgsklima war nicht zu übersehen.
"Ich kenne am Comer See ein hübsches kleines Hotel, das am Hang liegt, in einer wunderbaren Panoramalage. Es ist sehr zu empfehlen, nicht nur wegen der ausgezeichneten regionalen Küche. Das Besitzer-Ehepaar kümmert sich mit größter Aufmerksamkeit um seine Gäste. Ich bin jedes Jahr für ein bis zwei Wochen in ihrem Hotel und kenne sie persönlich. Wenn Sie möchten, kann ich dort anrufen. Es wird bestimmt freie Zimmer geben um diese Jahreszeit." Ich deutete mit meinem Stift auf die Stelle der Straßenkarte, an der das Hotel zu finden war und schaute dann Ellen tief in die Augen. Die kleine Brille brachte die leuchtende Farbe, die irgendwo zwischen Gelb, Braun und Grün lag, gut zur Wirkung.
„Das wäre sehr liebenswürdig von Ihnen“, sagte Ellen mit einem gewinnenden Lächeln auf den Lippen. Sie kam damit einer mit Sicherheit negativen Antwort ihrer Begleiterin zuvor. „Kleinere Hotels sind uns sowieso lieber, als Luxushäuser wie dieses hier. Wir würden gern in drei Tagen fahren und dann zwei bis drei Nächte dort bleiben. Vielleicht auch länger, wenn es wirklich so toll ist, wie Sie sagen“.
„Dann schlage ich vor, dass wir gemeinsam - so quasi als Einstimmung auf Ihr nächstes Urlaubsziel - eine schöne Flasche Rotwein aus der Gegend der oberitalienischen Seen trinken. Darf ich Sie dazu einladen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten winkte ich unseren Kellner heran und bat ihn, uns im Kaminzimmer im Suvretta Club eine Flasche Merlot zu kredenzen. „Am offenen Kamin werden auch Sie bestimmt nicht mehr frösteln“, wandte ich mich an Miss Brown.
Wie ich vermutet hatte, kannten sich die beiden Damen im Hotel aus. Es war nicht erforderlich, ihnen den Weg ins Kaminzimmer zu zeigen.
Außer uns dreien war nur ein einziger Gast anwesend, der in der dunklen Ecken neben dem Eingang saß. Der konzentrierte Schein einer Leselampe beleuchtete den französischen ‚Figaro', in den er vertieft war. Er nahm unser Kommen gar nicht wahr und ließ sich nicht stören. Nur das regelmäßige Aufglimmen seiner Zigarre und das gelegentliche Rascheln der Zeitungsblätter machte auf seine Anwesenheit aufmerksam. Vielleicht hätte ihn die durchdringende Stimme Elisabeth's am Lesen gehindert, aber die Mausgraue beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, die ich mit Ellen führte. Und jene war kaum lauter, als das Geräusch der Flammen, die sich des trockenen Arvenholzes bemächtigten, das der Boy im auslandenden Kamin frisch nachgelegt hatte.
Die wenigen Minuten, die vergingen, bis der Kellner mit dem Wein kam, hatten genügt, um eine vertraute Stimmung zwischen Ellen und mir wachsen zu lassen. Ob sich Elisabeth deswegen ausgeschlossen fühlte, oder ob sie sich aus Prinzip nicht an Gesprächen mit Dritten beteiligte, hatte ich nicht herausgefunden, aber - um ehrlich zu sein - es war mir ziemlich gleichgültig. Schon nach dem ersten Glas verabschiedete sie sich mit dem Vorwand müde zu sein.
Nachdem wir allein waren, setzten wir uns so, dass wir beide in die Flammen schauen konnten, welche die verkohlten Holzscheite jetzt ruhig umzüngelten. Nur, wenn das Feuer ein im Holz eingelagertes Harznest erreichte, loderte es kurz mit einem scharfen Zischen auf, um sich dann wieder zu beruhigen. Wir genossen die ruhige Zweisamkeit und erzählten uns Episoden aus unserem Leben und entdeckten dabei gemeinsame Interessen. Auf Ihre Shakespeare-Lektüre angesprochen, plauderte sie angeregt und mit viel Hintergrundwissen über Literatur und Theater. Wir tauschten Gedanken aus zu Büchern, die wir gemeinsam gelesen hatten - sie in Englisch und ich in Deutsch. Ellen erkundigte sich nach meinem Beruf, stellte aber kaum weitere Fragen, nachdem ich ihr sagte, dass ich in Sachen Wirtschaftskriminalität für einen Zeitungsverlag recherchierte. Offensichtlich fühlte sie sich in der Phantasiewelt der Dichter und Poeten mehr zuhause, als in der harten Realität der internationalen Geschäftswelt.
Der Kellner brachte bald eine zweite Flasche Wein. Als er erneut Holz nachlegen wollte, winkten wir ab. Das sterbende Licht des langsam verglimmenden Feuers gefiel uns. Es sollte nicht neu entfacht werden. Der Raum wurde von der Leselampe in der Ecke matt erleuchtet. Ellen lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter und schaute verträumt in die Asche. In leichten Kreisen bewegte sie den Wein in ihrem halb vollen Glas und summte dabei kaum vernehmbar eine traurige Melodie, die mich an ein Schlaflied für Kinder erinnerte.
Dann richtete sie sich plötzlich auf, setzte sich mit steifem Rücken hin, trank den Rest des Weines in einem Zug aus und begann von sich und von ihrem Leben zu erzählen.
„Ich hatte das Glück, in einem sehr behüteten Elternhaus aufzuwachsen. Die Mangeljahre der Kriegszeit waren vorbei und in der schwierigen Nachkriegsperiode, der viele Menschen danach noch zum Opfer fielen, ging es unserem Clan ausgesprochen gut, denn wir besaßen eine große pharmazeutische Fabrik, die genau die Medikamente herstellte, die im Markt dringend gesucht wurden. In unserem großen Haus, einige Meilen westlich von London gelegen, war alles da, was man sich als Kind erträumen konnten. Mein Vater war in seiner Familie und in seinem Unternehmen, ja sogar im ganzen Dorf ein angesehener Patriarch. Das Verhältnis zwischen ihm und seinen Mitmenschen war von gegenseitigem Respekt und Verständnis getragen. Meine Mutter war nicht nur die elegante Lady an seiner Seite, sondern sie war eine engagierte Mitstreiterin für Gerechtigkeit und Fortschritt in unserer Gesellschaft. Ich kann mich erinnern, dass an unserem Tisch immer vier, oder fünf Waisenkinder mitgegessen hatten. Meine Mutter hatte sie alle eingekleidet und dafür gesorgt, dass sie die gleichen guten Schulen besuchen konnten, wie ich. In jener Zeit lernte ich Elisabeth kennen; sie war eine dieser Waisen. Wir wuchsen wie Geschwister zusammen auf und das hat uns zusammengeschweißt.“
Ich nutzte die Pause, die sie einlegte, um beim Kellner leise einen neuen Wein zu bestellen. Ich wollte ihren Erzählfluss nicht unterbrechen, denn ich spürte, dass sie irgend etwas mitteilen musste, das sie belastete. Das Feuer war zu einem Häufchen zart rot und silbern glimmenden Asche verbrannt. Die wohlige Wärme, die von ihm ausging, nahm langsam ab.
„Als ich mein Schulabschluss erreicht hatte, trennten sich unsere Wege und wir verloren uns für viele Jahre aus den Augen. Ich begann mein Studium in Oxford, um es dann in London fort zu setzen. Elisabeth, die zwei Jahre jünger ist als ich, musste erst die Schule beenden und begann dann eine chemietechnische Ausbildung. Als sich unsere Wege trennten, trennten sich auch unsere Interessen. Sie begeisterte sich für chemische Abläufe und spezialisierte sich schnell auf die organische Chemie. Mein Leben widmete ich den schönen Künsten.“
Bis dahin hatte sie sehr angespannt und konzentriert gesprochen. Die Satzkonstruktionen waren ausgewogen und die Diktion deutlich. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie nicht im vertrauten Rahmen eines Kaminzimmers sprechen würde, sondern in einem Auditorium dozierte. Es war nicht eine lockere Erzählung, sondern wirkte auf mich wie eine gut vorbereitete und auswendig gelernte Rede. So abrupt wie sie sich vorhin aufrichtete, sank sie jetzt wieder in sich zusammen. Ihr Kopf neigte sich erneut gegen meine Schulter, diesmal schwerer als vorhin. Vielleicht tat auch der Wein seine Wirkung. Ich empfand das, was sie mir erzählte wie die Einleitung zu etwas Bedeutendem, was noch folgen sollte. Aber sie sprach nicht weiter.
Der Figaro-Leser hatte das Kaminzimmer unbemerkt verlassen. Die Leselampe beleuchtete nur noch den leeren Sessel, als ich in die Ecke des Zimmers schaute. Der Duft seiner Zigarre wurde vom Geruch des offenen Feuers überlagert.
„Ich möchte schlafen gehen; morgen ist auch noch ein Tag. Hoffentlich werden wir uns wieder sehen? Elisabeth und ich kommen in der Regel um etwas neun Uhr zum Frühstück. Darf ich mich bei Ihnen für den wunderbaren Abend und den Wein bedanken?“ Damit stand sie auf, dehnte die vom langen Sitzen steif gewordenen Glieder und streckte mir dann ihre kleine Hand entgegen. Von der Hotelhalle aus nahm sie den Aufzug in die zweite Etage.
Auch ich fühlte die Schwere des Weines. Trotzdem verspürte ich noch keine Lust, ins Bett gehen. Ohne mir einen Mantel überzuziehen ging ich ein paar Schritte vor das Eingangsportal. Es musste schon kurz nach dem Abendessen angefangen haben zu schneien. Zwei Mitarbeiter des Hotels waren mit großen Schiebern dabei, die Einfahrt freizuschaufeln. Doch es war eine Sisyphusarbeit. Der Niederschlag war so stark, dass die vom Schnee befreiten Stellen im Nu wieder weiß waren. Wahrscheinlich durften aus Rücksicht auf die Nachtruhe der Gäste die motorisierten Räumgeräte nicht eingesetzt werden. Die Äste der Fichten, die im aufwändig beleuchteten Eingangsbereich des Hotels standen, trugen schwer an ihrer Last. Es war etwas wärmer geworden und die weiße Pracht kam in großen Flocken vom Himmel. Trotzdem fröstelte es mich schnell und ich ging wieder zurück in die beheizten Räume.
Der Barkeeper war überrascht, als ich nicht ein alkoholisches Getränk bestellte, sondern einen doppelten Espresso. ‚Und das zu so später Stunde? Ob er danach noch gut schlafen kann?' Dies waren die Fragen, die in seinen Augen deutlich abzulesen waren. Jedoch als gut geschulter Spezialist schob er mir den Kaffee mit einem verbindlichen Lächeln über die Theke. Ich brauchte das starke Gebräu jetzt, um meine Gefühle in Ordnung zu bringen. Wie viele Jahre war es schon her, dass eine Frau vertrauensvoll ihren Kopf an meine Schulter lehnte? Ich konnte mich nicht erinnern. Mein Job machte mich zum Einzelgänger. Als eingefleischter Junggeselle schien ich prädestiniert dafür zu sein immer und überall dort vor Ort zu sein, wo es interessante Neuigkeiten zu erfahren gab. Rücksicht auf eine Familie, oder auf ein intensives Gefühlsleben zu nehmen, wäre kontraproduktiv gewesen. Die Frauen, mit denen ich beruflich zu tun hatte, waren entweder machtgierige Weiber, die sich mit eisernem Willen und oft mit spitzen Ellenbogen bis an die Toppositionen der Wirtschaft gekämpft hatten. Wenn sie überhaupt noch weibliche Reize besaßen, dann setzten sie diese zielbewusst ein, um den eigenen Vorteil zu vergrößern. Vielen von ihnen war eine kriminelle Energie wirklich nicht abzusprechen. Auf der anderen Seite waren die Mitarbeiterinnen in der Redaktion, die ohne Widerspruch immer genau das machten, was ich gerade von ihnen verlangte. Eigenes Denken gehörte dort nicht zur Tagesordnung.
War ich verliebt in Ellen? Ich wollte es selbst noch nicht wahr haben. Oder konnte ich mich an dieses Gefühl einfach nicht mehr erinnern? War es verschüttet? Vielleicht würde der Morgen eine Klärung der Situation bringen.
Aber da gab es noch etwas anderes: am nächsten Tag sollte ich nach Rom weiterreisen. Meine Redaktion hatte für den Abend einen Termin mit einem Mann aus der Energiebranche vereinbart, der mir interne Machenschaften aus seinem Konzern verraten wollte. Angeblich sollte er selbst dort auf Direktionsebene arbeiten. Die Gefahr würde also kaum bestehen, einem kleinen Wichtigtuer aufzusitzen, der seinen Namen gern mal in der Presse sehen möchte. Im Gegenteil, mein Chef rief mich am Vormittag extra nochmals an, um mir einzuschärfen, besonders vorsichtig zu recherchieren in dieser delikaten Angelegenheit. Der Verlag brauchte hieb- und stichfeste Argumente für einen aggressiven Artikel über die Klüngeleien, die sich hinter der Bühne der international arbeitenden Energiekonzerne abspielten. Ich musste mich festlegen: Ellen, oder Interview in Rom? Typisch Mann: Ich verschob die Entscheidung kurzerhand auf den nächsten Tag und ging schlafen.
Am nächsten Morgen erwachte ich lange bevor der Wecker klingelte. Trotzdem fühlte ich mich frisch und ausgeschlafen. Schwungvoll öffnete ich die Vorhänge und blieb dann wie angewurzelt stehen: Die Schneemassen, die sich im hellen Schein der Straßenlaterne häuften, waren gewaltig. Wahrscheinlich hatte es bis zum frühen Morgen durchgeschneit. Jetzt waren am Himmel einige blasse Sterne zwischen den Wolken erkennbar. Beim Rasieren hörte ich in den Nachrichten, dass in der Ostschweiz verschiedene Schneebretter abgegangen seien, was zu Straßensperrungen und einem allgemeinen Verkehrschaos geführt habe. Konnte es besser gehen? Ich rief um acht Uhr sofort in der Redaktion an, um mitzuteilen, dass sie den Termin in Rom verschieben sollen. Ich sei bis auf weiteres eingeschneit und käme mit dem Auto nicht raus.
Einem schönen Tag mit Ellen stand also nichts im Wege!
Als ich im Frühstücksraum ankam, saß sie schon am Nebentisch. Allein. Erneut war sie in das Werk von Shakespeare vertieft. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie nicht konzentriert bei der Sache war. Mit den Augen winkte sie mir hinter den kleinen Brillengläsern zu, als sie mich hereinkommen sah. Hatte sie auf mich gewartet? Diesmal war sie sportlich gekleidet, so, als ob sie sofort nach dem Frühstück zu einem Schneespaziergang aufbrechen möchte. Aber selbst in der dickeren und wärmeren Winterkleidung sah sie vorteilhaft aus.
„Ich habe heute schon mit dem Hotel in Italien telefoniert, weil ich weiß, dass die Inhaber in der Früh persönlich am Empfang sind. Ich ließ für Sie ein besonders schönes Zimmer mit Blick über den Comer See reservieren. Es wird Ihnen bestimmt gefallen.“ Natürlich sagte ich ihr nicht, dass ich auch darum gebeten hatte, bei Ankunft der Gäste frische Blumen aufs Zimmer zu stellen.
„Elisabeth, Herr Adler war so freundlich, für uns das Zimmer in Italien zu reservieren“, begrüßte sie ihre Freundin, die in den Frühstücksraum kam.
„Prima“, erwiderte diese kühl und wandte sich dem großzügigen Büffet zu. Neben Speck mit Eiern brachte sie auch Porridge an den Tisch und einen Brotkorb gefüllt mit frischem Toast. Nachdem sie das alles auf dem Tisch abgestellt hatte, ging sie gleich zurück um zusätzlich Früchte und Süßigkeiten zu holen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sie seit Tagen nicht mehr richtig gegessen hatte, so voll hatte sie ihren Teller geladen. Bevor sich Ellen etwas holen konnte, hatte Elisabeth schon damit begonnen, ihr Essen hinunter zu schlingen. Als der Kellner die bestellten Getränke brachte, war sie schon fast fertig mit ihrem Frühstück.
„Ich gehe jetzt einige Runden schwimmen und danach ins Fitness-Studio. Ich möchte, dass Du bis elf Uhr auch dazu kommst“, sagte sie zu Ellen, „Sport schadet auch Dir nichts.“ Es klang fast wie ein Befehl.
„Natürlich komme ich an die Foltergeräte.“ Es lag wenig Begeisterung in Ellens Worten, und ich war mir gar nicht sicher, ob Elisabeth die Antwort noch mitbekommen hatte. Sie war bereits auf dem Weg zum Ausgang.
Das Wetter hatte sich weiter beruhigt. Die Morgensonne stand als blasse Scheibe hinter einer dünnen Hochnebelschicht über dem Horizont. Sie war schon so kräftig, dass ihr Licht auf dem frischen Schnee in den Augen schmerzte.
„Haben Sie Lust auf einen gemeinsamen Spaziergang? Wir werden bald herrlichsten Sonnenschein haben; der Ostwind wird die letzten Nebel bald vertreiben. Vergessen Sie also die Sonnenbrille nicht!“
„Ich begleite Sie gerne, möchte aber pünktlich um elf Uhr wieder zurück sein. Ich habe es Elisabeth so versprochen.“
Es musste in der zweiten Nachthälfte kälter geworden sein, denn der Schnee knirschte trocken unter den Füssen. Die Zufahrt zum Hotel und die Straße waren bereits geräumt. Aber ein Abzweigen auf einen kleineren Weg war unmöglich; wir wären nicht durch die hohen Schneehaufen gekommen.
Ellen nahm ihre Erzählung exakt an der Stelle wieder auf, wo sie am Abend davor abrupt abgebrochen hatte. Sie hatte ihre fellbesetzte Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Kragen ihres wattierten Anoraks hoch geschlagen um sich gegen die Kälte zu schützen. Sie ging neben mir und hatte sich bei mir untergehakt, denn ihr Tritt auf dem frischen Schnee war unsicher. Immer, wenn sie drohte auszurutschen, drückte sie meinen Arm fester.
„Mit Interesse und Begeisterung war ich bei meinem Studium und erreichte den Abschluss fast in Rekordzeit. Die Prüfungen absolvierte ich mit Auszeichnung und beruflich standen mir Tür und Tor offen. Verlockende Angebote von internationalen Museen flatterten auf meinen Tisch. Ich hätte nur ja sagen müssen, und mein Glück wäre gemacht gewesen. Aber mein Vater bestand darauf, dass ich in der Firma mitarbeitete. Als einziges Kind sollte ich seine Nachfolge antreten und den Betrieb in seinem Sinne weiterführen. Das uneingeschränkte Vertrauen, das er in mich setzte, ehrte mich und schmeichelte meinem Ego. Aber gleichzeitig wuchs in mir die Angst, seinen Anforderungen nicht gerecht zu werden. Weder hatte ich eine kaufmännische Ausbildung, noch war ich in die Geheimnisse der Pharmazie eingeweiht. Auch war ich nie eine Führungspersönlichkeit, die eine ganze Firma leiten und führen kann. Meine Qualitäten lagen auf einer anderen Ebene.“ Zum ersten Mal, seit wir das Hotel verließen, schaute sie mich an. Es war, als ob sie von mir eine Bestätigung ihrer Aussage verlangte.
„Ich war deshalb hell froh, dass ich am ersten Arbeitstag in unserer Firma Elisabeth traf, die dort schon mehr als ein Jahr arbeitete. Die lange unterbrochene Freundschaft war an jenem Tag wieder so frisch erwacht, als ob sie pausenlos gepflegt worden wäre. Sie erzählte mir, dass sie nach ihrer Ausbildung im Betrieb meines Vaters angefangen hätte. Wenige Monate danach sei ihr die Leitung des Labors anvertraut worden und kurz vor meinem Eintritt ins Unternehmen hätte sie die Verantwortung für den gesamten Forschungsbereich übernommen. Vom Waisenkind zur Forschungsleiterin. In einem bedeutenden Unternehmen der britischen Pharmazie hatte sie eine Blitzkarriere hingelegt, um die sie sicher viele beneideten. Elisabeth war nicht nur in ihrem Fachbereich sehr fähig, sie war auch bei den Mitarbeitern und Kollegen angesehen und wurde respektiert. Im Vergleich zu ihr war ich also ein ganz kleines Licht,
das der schützenden Hand meines Vaters bedurfte.“
Ellen erzählte emotionslos. Wenn wir durch ein Auto, das an uns vorbeifuhr unterbrochen wurden, fuhr sie im Satz fort, als ob es keine Störung gegeben hätte.
„Anfeindungen aus den Kreisen der Belegschaft gab es hauptsächlich am Anfang. ‚Die Tochter des Chefs', oder ‚die Künstlerin' wurde hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Erst im Laufe der Monate gelang es mir, mir Respekt zu verschaffen. Aber nicht mit Fachwissen, oder mit gewissen Management-Techniken, sondern einfach dadurch, dass ich den Weg zu den Mitarbeitern über ihre Herzen fand. Die Menschlichkeit, die sie an meinem Vater schätzten, fanden sie allmählich bei mir wieder. Je weiter meine Akzeptanz im Unternehmen wuchs, desto mehr Verantwortung übertrug mir mein alter Herr. Als er dann vor rund drei Jahren, nach kurzer Krankheit verstarb, war meine Position als Chef im Betrieb gefestigt. Zwar wurden meine Entscheidungen von den Führungskräften nach wie vor kritisch hinterfragt, aber im Endeffekt respektiert und meine Anweisungen befolgt. In Elisabeth hatte ich eine starke Stütze. Sie gab mir nicht nur gute Ratschläge, wenn es um den rein technischen - also in unserem Fall chemischen - Bereich ging, sondern sie leitete ihr Ressort, das für die Zukunft des Unternehmens besonders wichtig war, völlig selbständig. Es gab bei mir also eine gradlinige Entwicklung von der ‚Künstlerin' zur Chefin eines Chemieunternehmens. Auch im privaten Bereich wurde unsere Freundschaft noch inniger.“
Warum erzählte sie mir das alles? Worauf wollte sie hinaus? Brauchte sie für sich diese Beweihräucherung? Meine Spannung wuchs. Und warum sprach sie immerzu nur von sich und machte keinerlei Anstalten, etwas über meine Person in Erfahrung zu bringen? Hatte sie an mir gar kein menschliches Interesse, sonder war ich für sie vielleicht nur ein Mittel zum Zweck? Ich spürte, wie sich bei diesen Fragen mein Magen verkrampfte.
Meine Mutter hatte den Tod ihres Mannes nicht verkraftet. Wenige Monate nach ihm verschied auch sie. Natürlich fühlte ich Trauer und Schmerz über den Verlust meiner Mutter, aber die Dynamik, die sich im Betrieb entwickelte, nahm mich sehr in Anspruch und ließ für diese Gefühle wenig Raum frei.
„ Unser Unternehmen hatte die Kapazität zu wachsen. Trotzdem hatten weder mein Mann, noch ich je den Ehrgeiz, mit den multinationalen Großkonzernen in Konkurrenz zu treten. Es lag uns mehr daran, denen wie eine Art Stachel im Fleisch zu sitzen und ihre Kreise im einen, oder anderen Marktsegment zu stören. Wir hielten Patente auf wichtigen chemischen Rezepturen und waren somit bestens gerüstet, unsere Kunden auch im Ausland zu bedienen. Ich begann Kontakte in den nahen Osten und in die arabischen Länder zu knüpfen. Untersuchungen hatten ergeben, dass dort die Marktchancen für uns am größten sind. Aus Angst davor, dass eine Frau allein als Geschäftspartnerin in diesen Ländern nicht für voll genommen wird, reiste ich zusammen mit unserem Vertriebsleiter. Ich ließ ihm bei den Verhandlungen den Vortritt und zog die Fäden jeweils nur im Hintergrund. Es gelang uns in kurzer Zeit, den Absatz unserer Produkte um mehr als einen Viertel zu steigern. Auch der Umsatz legte deutlich zu. Mit den zusätzlich eingefahrenen Gewinnen bauten wir unsere Produktion aus und stellten neue Mitarbeiter ein. Das Labor von Elisabeth wurde auf den allerneuesten technischen Stand gebracht.“
Dieser Bericht kam mir vor, als ob Ellen mir einen fremden Lebenslauf geschildert hätte, der sie überhaupt nicht tangierte. Aber jetzt kam Leben in ihre Stimme. Sie fasste meinen Arm, als sie weiter sprach.
„Und auf einer dieser Dienstreisen passierte es: ich verliebte mich in Jeff, unseren jungen und erfolgreichen Vertriebsleiter.“
Bildete ich mir nur ein zu hören, wie ein Stein von ihrem Herzen rollte, als sie diesen Satz über die Lippen brachte?
„Es funkte bei einem Abendessen, zu dem einer unserer Kunden in Kairo uns eingeladen hatte. Wir feierten den Abschluss eines bedeutenden Liefervertrages und waren in bester Stimmung. Wir saßen bei Tee und süßem Walnuss-Dattel-Gebäck auf den weichen Kissen des Diwans, als sich unsere Blicke trafen und jeder von uns die Botschaft verstand - uns verbindet mehr, als nur der berufliche Erfolg. Das auf Vertrauen aufgebaute Verhältnis gewann schnell an Festigkeit und bereits drei Monate später mündete es in eine Ehe. Mein Mann und ich waren jetzt die Triebfedern im Unternehmen. Auch rein rechtlich wurde seine Stellung im Konzern abgesichert und er konnte seinen Führungsanspruch darauf stützen. Seine Position erlaubte es ihm, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, ohne andere um ihre Meinung zu fragen. Ich vertraute seinen Einschätzungen blind, denn ich liebte ihn. Elisabeth zog sich immer mehr gekränkt in ihr Labor zurück. Sie hatte das Gefühl, als fünftes Rad am Wagen nicht mehr richtig benötigt zu werden. Erst ein dreiviertel Jahr später bemerkten wir, dass diese Zurücksetzung in ihr ein ungeheures Neid- und Rachepotential wachsen ließ.“
„Nein,“ unterbrach sie sich selbst für einen Augenblick, „nicht WIR hatten das gemerkt, nur ICH hatte es so spät realisiert. Mein Mann durchschaute die Situation schon viel früher und machte sie sich zu Nutze. Nachdem er, als mein Ehemann, die Leitung des Unternehmens vollständig übernommen hatte, verstand er es, die fehlgeleitete Energie von Elisabeth wieder in Bahnen zu bringen, die der Firma nutzen sollten. Aber nicht nur der Firma, sondern auch ihm persönlich. Sein Ehrgeiz wuchs bald in ungesunde Dimensionen. Elisabeth entwickelte mit seiner Unterstützung in geheimem Auftrag eine Substanz, mit der es möglich war, schnell und gezielt eine große Anzahl von Menschen zu vergiften. Die Tierversuche waren überzeugend und sämtliche Experimente wurden wissenschaftlich genau aufgezeichnet und ausgewertet. Hinter meinem Rücken, und offensichtlich auch unter Umgehung der offiziellen Regierungsstellen die bei solchen Geschäften eingeschaltet werden sollten, nahm mein Mann mit Regierungen und Untergrundorganisationen im Ausland Kontakt auf und begann, dieses Mittel als Massenvernichtungswaffe anzupreisen. Gott sei Dank nicht mit durchschlagendem Erfolg, wie sich später herausstellte.“
Zum ersten Mal auf unserem Spaziergang blieb sie stehen, ohne dass sie durch ein vorbeifahrendes Auto dazu gezwungen wurde. Sie drehte ihr Gesicht und sah mir in die Augen, so als ob sie mich auffordern wollte, ihr beizupflichten. Doch ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort:
„Jeff leitete das Unternehmen nicht nur immer selbstherrlicher, er begann, ohne dass ich es vorerst bemerkte, meine eigenen Kompetenzen zu beschneiden. Als ich schwanger wurde, war es ihm wichtig, mich davon zu überzeugen, dass ich mich ganz aus dem Geschäftsleben zurückziehen sollte, um mich in aller Ruhe auf die Geburt unseres gemeinsamen Kindes vorzubereiten. Und ich dumme Kuh - entschuldigen Sie bitte den Ausdruck - war ihm für diesen Vorschlag sogar noch dankbar. Durch meine Abwesenheit verlor ich den Überblick und die Kontrolle über unsere Firmengruppe täglich mehr. Doch es war für mich leicht, die Fäden aus der Hand zu geben, denn Jeff erfreute sich meines ganzen Vertrauens. Ich genoss es, mich ausschließlich um meine Schwangerschaft zu kümmern. Leider wurden die Gespräche mit Jeff seltener, denn er kam praktisch jeden Abend spät nach Hause. Die Arbeit nahm ihn vollständig in Beschlag. Natürlich: Er musste ja in der Firma auch meinen Teil komplett übernehmen, und er opferte sich für seinen Job auf. Auch Elisabeth fand kaum noch Gelegenheit zu einem kurzen Besuch in unserem großen Landhaus; der Kontakt zu ihr riss bald ganz ab, was mich besonders traurig machte. Mein Leben kreiste also über Monate hinweg nur um mein Baby in meinem Bauch - bis zu dem Sturz im sechsten Monat. Ich war unachtsam und rutschte auf der Treppe aus, die zum Keller führte. Da ich allein zu Hause war, musste ich bis zur Rückkehr meines Mannes warten, um Hilfe zu holen. Ich schaffte es nicht bis zum Telefon im ersten Stock, und meine Hilferufe verhallten ungehört. Das Leben des Kindes konnte nicht mehr gerettet werden."
Erneut drehte sie sich zu mir um. Ihre Augen waren feucht. Instinktiv legte ich meinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an mich, was sie mit einem dankbaren Blick quittierte.
"Mir selbst passierte außer einem doppelten Beinbruch und einigen Quetschungen im Bereich der Rippen nichts. Aber die Trauer um mein Kind brachte mich fast um. Es war meine Schuld, dass es nicht leben durfte, und das machte alles doppelt schlimm. Als Mutter hatte ich versagt. Und mit Unterstützung meines Mannes durfte ich als Versagerin nicht rechnen. Oder glauben Sie, dass ein erfolgsversessener Mann seiner Frau hilft, der solche tödlichen Fehler unterlaufen?"
Zum ersten Mal bestand die Chance, dass sich ihr Monolog zu einem Dialog ausweitete - und ich war nicht auf eine Antwort vorbereitet. Was sollte ich sagen? Ihr mit einem einfachen 'Ja' recht geben, oder erwartete sie von mir eine flammende Rede zur Verteidigung ihrer Lage? Wollte sie von mir überzeugt werden, dass der Tod des Ungeborenen nicht ihre Schuld sei? Statt einer in Worte gefassten Reaktion nahm ich sie einfach in den Arm und hielt sie fest. Bestimmt waren es nur wenige Sekunden die nicht dazu ausgereicht hätten, die Wärme des anderen durch die dicke Winterkleidung zu spüren. Trotzdem hatte ich das Gefühl ihren Körper nahe und ganz warm zu fühlen. Auch sie schlang ihre Arme um mich und legte ihren Kopf an meine Brust. Ich konnte es nicht sehen, aber ich war überzeugt davon, dass sie ihre Augen dabei geschlossen hielt.
Sie löste sich von mir, richtete sich wieder auf und fuhr in ihrem Bericht fort, nachdem sie einige Male tief durchgeatmet hatte.
"Ab diesem Moment war das Verhältnis zu meinem Mann gestört. Vielleicht begann es aber schon früher und ich hatte es in meiner Vorfreude auf das Kind gar nicht wahr haben wollen. Unfriede hätte das Glück untergraben; und ich wollte mir die Mutterfreuden nicht nehmen lassen. Aber die Trauer, in Verbindung mit meinen Schuldgefühlen machte mich überempfindlich für seine Vorwürfe und Herabsetzungen."
Bitterkeit dominierte jetzt den Ausdruck ihrer Stimme.
"Hätte ich früher noch mit Erfolgen im Betrieb kontern können, blieb mir jetzt nur noch die Möglichkeit zu schlucken und all die Kränkungen in mich hinein zu fressen. Neben der Seele erkrankte auch der Körper. Immer öfters musste ich für mehrere Tage im Bett bleiben und ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, was mich auch davon abhielt, am gesellschaftlichen Leben Teil zu haben."
Am Ausgang des Hotels hatten wir den Weg in Richtung Westen eingeschlagen und gingen auf der Hauptstraße bis Silvaplana. Nachdem verschiedene Schneeräumfahrzeuge aktiv geworden waren, konnten wir am Ende des kleinen Sees die Nebenstraße nach Surlej benutzen. Die Uhr am kleinen Kirchturm zeigte bereits nach zehn Uhr. Es wurde also höchste Zeit umzukehren, wenn wir pünktlich um elf Uhr wieder im Suvretta House sein wollten. Der Ostwind hatte aufgefrischt und schnitt scharf in unsere Gesichter. Ellen zog den Reißverschluss am Kragen ihres Anoraks noch höher. Ihr Mund war vom wattierten Stoff bedeckt und so gingen wir schnellen Schrittes, und ohne zu reden, den Weg zurück.
Kurz vor elf Uhr betraten wir die Hotelhalle. Wir klopften den Schnee aus unseren Schuhen und rieben die steif gewordenen Finger warm. Ellen verabschiedete sich kurz, denn sie hatte es jetzt eilig, in den Fitnessbereich zu gehen. „Bis später“, sagte sie, winkte kurz und verschwand im Aufzug.
Ich brachte meine warmen Sachen nach oben in mein Zimmer und setzte mich dann in die Hotelhalle. Gerade wollte ich meine Redaktion anrufen, um mitzuteilen, dass ich auch am folgenden Tag noch nicht abreisen könne, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte. Ich drehte mich um. Hinter mir stand ein Herr im lässigen Sport-Outfit. „Hallo Herr Kollege, Sie erinnern sich nicht mehr an mich? Ich bin Gérard Maille vom Figaro in Paris. Sind Sie beruflich hier, oder machen Sie Urlaub?“
Er schob einen Sessel zurecht und hievte seinen massigen Körper hinein. Mit einem schnellen Griff, den man ihm kaum zugetraut hätte, holte er ein Zigarrenetui aus der Innentasche seiner Sportjacke und bot mir eine schwarze Havanna an.
„Natürlich, Sie waren vor ein paar Jahren bei diesem Journalisten-Kongress in Berlin dabei. Erinnere ich mich recht, dass die großen Kriminalfälle in der Highsociety es sind, auf die Sie sich spezialisiert haben? Auf jeden Fall erinnere ich mich noch ganz genau an die hervorragende Qualität Ihrer schwarzen Verführer“, lachte ich und musste erst die angebotene Zigarre annehmen, bevor ich ihm die Hand schütteln konnte. „Eigentlich bin ich beruflich hier, aber ich sollte schon längst wieder weg sein - doch die gewaltigen Schneemengen zwingen mich ja geradezu hier zu bleiben!“
„Eigentlich beruflich?“ sagte er mit verschmitztem Lachen. „Was ich aber gestern Abend im Kaminzimmer sah, wirkte eher privat auf mich. Oder haben Sie in der Dame eine gute Informantin für einen spannenden Fall von Industriespionage gefunden? Ich kann mir gut vorstellen, dass Margrit Armstrong interessante Insider-Daten liefern kann!“
Wer ist Margrit Armstrong?
„Sie müssen sich irren, Herr Kollege, aber gestern saß ich mit einem anderen Gast am offenen Kamin, mit einer Frau Ellen Greenfield.“
„Nein, mein Lieber, oder wollen Sie mein fotografisches Gedächtnis anzweifeln? Die Dame, die neben Ihnen saß war zweifelsfrei Margrit Armstrong. Erinnern Sie sich nicht mehr an den Mordfall, der vor einigen Jahren den ganzen Jetset von London in Aufruhr versetzte? Die schöne Lady hatte doch ihren Mann so gekonnt um die Ecke gebracht, dass sie vor Gericht mangels Beweisen sogar frei gesprochen werden musste. Dabei war jedermann in der feinen Londoner Gesellschaft klar, dass es das Ende eines Ehekrieges war. Und die zweite Dame, die Euch beide dann so diskret allein ließ, war Betty Smith.“
Er zündete sich genussvoll seine Zigarre an und wedelte mit dem Streichholz, um es auszulöschen. Bevor er weiter sprach machte er die ersten Züge und konzentrierte sich auf die aufsteigenden Rauchringe. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass es ihn freute, mit seinen halb heimlich gemachten Beobachtungen anzugeben.
„Nein“, nutzte ich die kurze Pause und protestierte ehrlich aufgebracht. Hier muss es sich um einen Irrtum handeln. Die Dame haben sich mir eindeutig als Ellen Greenfield und Elisabeth Brown vorgestellt; und so sind sie auch hier im Hotel gemeldet. Vielleicht war gestern Abend das Licht im Kaminzimmer zu dämmrig.“
„Oh nein, bestimmt nicht. Außerdem traf ich heute früh im Schwimmbad erneut die zweite Frau, die damals in die Sache verwickelt war, Betty Smith. Ich erkannte sie sogar in ihrem Bademantel und der eng anliegenden Badekappe. Fotos von beiden Frauen zierten über viele Wochen die Titelblätter der Londoner Boulevard-Presse. Also zweimal kann ich mich bestimmt nicht irren!“
„Die Begleiterin von Ellen ist Elisabeth Brown“, hielt ich erneut dagegen. Doch mein Protest schwächte sich ab, denn Maille ist in der Branche bekannt als der Mann mit dem untrüglichen Gedächtnis für Bilder.
„Um diese Zeit brauche ich meinen Absinth als Aperitif vor dem Essen. Danach will ich noch etwas die Sonne in dieser herrlichen Landschaft genießen. Wozu habe ich schließlich Urlaub! Sehen wir uns am Nachmittag?“ Mit diesen Worten streifte er nochmals die Asche von seiner Havanna, erhob sich und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
Ellen eine Mörderin? Und Elisabeth ihre Komplizin? Elisabeth könnte man ja einiges zutrauen; aber Ellen? Niemals! Das konnte und wollte ich einfach nicht glauben. Ich bestellte einen Aperitif beim Kellner und ließ mir Ellens Bericht nochmals durch den Kopf gehen. Ehrgeizig und zielstrebig schien sie zu sein, das zeigte der Erfolg, den sie in kurzer Zeit im Konzern aufweisen konnte. Probleme in ihrer Ehe gab es ja auch genügend, wie sie sagte. Aber war all das, was sie in den letzten Stunden über sich erzählt hatte nur der Auftakt zu einer umfassenden Beichte? Der dicke Maille musste sich geirrt haben. Ich weigerte mich, schlecht über Ellen zu denken und steckte den Kopf lieber in den Sand.
Kurz nach ein Uhr ging ich in den kleinen Speisesaal zum Mittagessen. Die beiden Freundinnen waren am Nebentisch in eine lebhafte Unterhaltung vertieft, die hauptsächlich von Elisabeth bestritten wurde. Sie saß mit vom Duschen noch feuchten Haaren in legerer Freizeitkleidung am Tisch, während Ellen wieder elegant zurecht gemacht zum Essen kam. Nur die etwas stärker durchblutete Hautfarbe im Gesicht deutete darauf hin, dass sie sich an den Fitnessgeräten angestrengt hatte. Der Kellner servierte gerade den ersten Gang. Ich beschloss, mich zurückzuhalten und abzuwarten, wie sich die Geschichte weiter entwickelte. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich die beiden und suchte nach Hinweisen, die meine Überzeugung, dass Ellen ein liebenswerter Mensch sei, untermauern würden. Ich konnte bei der Unterhaltung lediglich dem Part von Elisabeth folgen. Wie schon gestern sprach sie laut und eindringlich. Die kurzen Antworten von Ellen waren nur zu erraten. Ihr Gespräch drehte sich um nichts, das mir weiter geholfen hätte.
Den Kellner bat ich, mir meinen Kaffee im Kaminzimmer zu kredenzen. Natürlich tat ich das so laut, dass die beiden es auch gut hören konnten, denn mir lag daran, das Gespräch möglichst bald fortzusetzen, um Klarheit zu bekommen. Die von Maille gesäten Zweifel an der Echtheit der Identität fraßen sich in mein Herz. Doch mein Kopf wehrte sich standhaft gegen eine Verleumdungen.
Der Kellner brachte den Kaffee in einer kleinen Tasse aus feinem Porzellan und den Zucker dazu in einer Schale aus schwerem Silber. Kaum hatte er den Raum wieder verlassen, kam Ellen herein und setzte sich neben mich auf das schwarze Ledersofa direkt vor dem Kamin, auf welchem wir am Vorabend schon saßen.
„Elisabeth hat sich heute Vormittag an ihren Sportgeräten übernommen und ist direkt nach dem Nachtisch ins Zimmer gegangen, um sich auszuruhen. Es ist halt ihre Art immer und überall die Beste zu sein und nirgends klein bei zu geben. Damit sie besser schlafen kann, hat sie auf den Kaffee verzichtet.“
„Und Ihnen tat das kurze Fitnesstraining gut?“
„Ja, ich lernte schon früh, meine Kräfte nicht zu überschätzen und stets im Rahmen meiner Möglichkeiten zu bleiben. Ich glaube, das ist etwas, das ich noch von meinem alten Herrn geerbt habe,“ fügte sie mit Dankbarkeit in der Stimme hinzu. „Aber viel schöner und sicher auch gesünder war unser Spaziergang an der frischen Winterluft.“
Sie rührte den Tee um, den ihr der Kellner leise serviert hatte. Auch heute stellte er wieder ein Glas Wasser dazu.
„Ich habe das Gefühl, mich bei Ihnen entschuldigen zu müssen. Gestern Abend und heute Vormittag hatte ich die ganze Zeit nur von mir geredet, dabei interessiert mich doch brennend, was Sie für ein Mensch sind. Bis jetzt weiß ich doch von Ihnen nur, dass Sie ein netter Mann sind, der zuhören kann und der sich außerdem hier im Engadin und in Italien auskennt. Mögen Sie mir etwas über sich erzählen?“
So sehr es mich noch vor wenigen Stunden verletzte, dass sie kein echtes Interesse an mir als Mensch zu haben schien, so unangenehm war es mir jetzt, von mir zu reden, statt die Fortsetzung ihrer Geschichte zu hören. Mehr als Höflichkeit, denn aus Interesse machte ich sie mit dem Lebenslauf eines gewissen Erwin Adlers vertraut. Um die Sache etwas aufzulockern, flocht ich die eine oder andere Episode aus meiner Tätigkeit als Rechercheur ein.
„Dann sind Sie also beruflich öfters in Großbritannien und sprechen deshalb so gut Englisch?“ Das war die einzige Frage, die sie mir dazu stellte.
„Nein, in England bin ich selten, dafür öfters in den Vereinigten Staaten.“ Das schien sie zu überzeugen. Und sorgfältig lenkte ich die Konversation wieder auf das Thema ‚Ellen'.
„Aber von Ihrer körperlichen Schwäche, die Sie beim Spaziergang erwähnten, ist nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: Sie sehen aus wie das blühende Leben.“ Sie bedankte sich mit einem bezaubernden Lächeln für das kleine Kompliment.
„Es liegt ja alles schon längere Zeit zurück“, seufzte sie. „Und die würzige Bergluft hier auf über 1800 Meter Höhe, zusammen mit Erwin genossen, wirkt wie ein Jungbrunnen auf mich.“ Sie legte vertraulich ihre Hand auf meinen Arm.
Der Wechsel vom steifen ‚Sie' zum vertraulichen ‚Du' passierte ganz selbstverständlich und natürlich.
„Ich würde mich freuen, noch einmal mit Dir rauszugehen. Der Wind scheint sich etwas gelegt zu haben. Die Wintersonne würde sicher uns beiden gut tun. Vielleicht muss ich ja sehr bald wieder in meine Redaktion zurück. Die Behauptung, eingeschneit zu sein, lässt sich nicht mehr lange glaubhaft aufrechterhalten.“ Es lag mir daran sie etwas zur Eile anzutreiben, denn mir brannte die Frage, wie denn die echte Ellen wirklich sei, im Magen. Ich wollte keine Zeit mit Geplänkel verbinden. Und beim Gehen spricht es sich oft lockerer, als in einem geschlossenen Raum. Wollte sie mir wirklich etwas beichten, dann sollte sie dies nicht auf die lange Bank schieben.
„Es wäre auch schön, einen weiteren ausgedehnten Spaziergang mit Dir machen, aber Elisabeth besteht darauf, dass wir heute Nachmittag schwimmen gehen und danach in die Damen-Sauna. Aber wir können uns gern vor dem Abendessen nochmals hier treffen.“
Und wenig später rauschte Elisabeth mit energischen Schritten ins Kaminzimmer, um Ellen abzuholen. Ihre Freundin unterbrach das Gespräch sofort und ging folgsam mit. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Elisabeth in dem Gespann die absolute Kommando-Hoheit besaß, wie man in militärischen Kreisen sagen würde. Das ungleiche Auftreten der beiden Damen war jedenfalls nicht zu übersehen.
Ich holte jetzt mein Telefonat mit der Redaktion nach, bei welchem mich Maille am Vormittag unterbrochen hatte.
„Nein, nein“, beruhigte ich meine Mitarbeiterin, „die Lage hier im Gebirge hat sich etwas stabilisiert. Morgen, oder spätestens übermorgen kann ich wieder fahren. Laut Wetterbericht sind keine weiteren Schneefälle zu erwarten. Versuchen Sie, für Samstag einen Termin mit dem Kerl in Rom zu machen. Ich werde dann direkt von hier mit dem Auto hinfahren. Und geben Sie mir Bescheid, wann ich dort sein soll.“ So hoffte ich noch einen Tag mit Ellen zu gewinnen. Außerdem konnte ich dann mit den beiden Damen gemeinsam bis zum Comer See fahren und ihnen das Hotel zeigen.
Nachdem Ellen für mich keine Zeit hatte, ging ich allein nochmals an die frische Luft. Gedankenverloren schlug ich den Weg zum Zentrum von St. Moritz ein. Ich wollte im Kaffe Hanselmann ein Stück der famosen Engadiner Nusstorte essen.
Der Fußweg war erst notdürftig frei geschaufelt. An manchen Stellen war die Schneise im frisch gefallenen Schnee noch so eng, dass zwei Personen kaum an einander vorbei kamen. An einem solchen Engpass kam mir Maille entgegen, der schwerfällig vom Dorf herauf stapfte.
„Ne, ne, mein Lieber, ich bin mir absolut sicher“, kam er sofort wieder auf unser Gespräch vom Vormittag zurück. Die beiden Damen logieren im Hotel unter falschem Namen. Ich hab mir von der Zentrale in Paris einige der Bilder von damals schicken lassen. Vergleichen Sie selbst!“ Damit zeigte er mir auf dem Display seines Handys die Fotos. Die Ähnlichkeit zu Ellen und Elisabeth konnte ich nicht leugnen.
Da ich sowieso einige Schritte zurückgehen musste, um ihn vorbei zu lassen. Ließ ich die Engadiner Nusstorte fahren und ging mit ihm ins Hotel zurück. Mir war wichtig, die ganze Wahrheit schnell zu erfahren.
„Können Sie sich denn wirklich nicht mehr an den Fall erinnern? Er hat in England so viel Staub aufgewirbelt, dass ich sogar von Paris aus hinreisen musste, um als Beobachter am Prozess teilzunehmen. Es ging damals haarscharf aus für die zwei! Der Anwalt, den sie zu ihrer Verteidigung eingeschaltet hatten, musste ein Vermögen gekostet haben! Er bewirkte jedenfalls den ‚Freispruch mangels Beweisen', was ich in diesem Fall für eine wirkliche Meisterleistung erachte. Schließlich saßen die beiden Angeklagten in ihrer ‚Giftküche' ja an der Quelle.“
„Normalerweise verfolge ich solche Prozesse mindestens am Rande mit, denn meist geht es nicht nur um Society-Geschwätz, sondern im Hintergrund spielen erhebliche wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Und das fällt wieder in mein Ressort. Aber wahrscheinlich war dieser Fall zu jener Zeit aktuell, in der ich ein halbes Jahr in Südamerika war. Und bis dort hin schlagen die Wellen des Londoner Klatsches nicht. Erzählen Sie mir doch bitte einige Details.“
„Also an Bilder kann ich mich immer sehr genau erinnern, dafür nicht so gut an Daten. Aber ich glaube, das Ganze spielte sich vor etwa zwei bis drei Jahren ab. Die Verkündung des Urteils fiel jedenfalls genau in meinen Sommerurlaub vorletztes Jahr. Ich musste ihn extra deswegen verschieben. Aber Sie wissen ja, werter Kollege, Beruf geht manchmal vor! Ich versuche Ihnen eine kurze Zusammenfassung auf dem Weg zum Hotel zu geben. Wenn Sie dann mehr wissen wollen, können wir das bei einer Tasse Kaffee in der Wärme machen. Mir ist saukalt.“
Er hatte recht: Der Wind hatte wieder an Stärke zugelegt und es wurde empfindlich frisch hier draußen.
„Die Armstrong - also Ihre Ellen - gehört zur Dynastie der Pharmaproduzenten, die es schaffte, nach dem Krieg schnell wieder auf die Beine zu kommen und nicht nur das wieder aufzubauen, was durch die Kriegswirren verschüttet worden war, sondern wesentlich mehr. Der alte Armstrong, der das Ruder in den Nachkriegsjahren führte, war ein cleverer Geschäftsmann, der es verstand, aus der miesen Situation Profit zu schlagen. Er hinterließ seiner einzigen Tochter eine florierende Unternehmensgruppe nach dem Motto ‚klein aber fein', und bestimmt auch ein erkleckliches Sümmchen im Sparschwein.“ Mit seinen feisten Händen deutete er den enormen Umfang des Sparschweins an und lachte selber schallend über seinen Witz.
„Die eigene Tochter entwickelte sich aber nicht zu dem, was der Vater gerne gesehen hätte. Sie studierte Kunst, Philosophie, oder sonst so etwas ohne Zukunft und vor allem ohne Bezug zum harten Geschäft in der Pharmabranche. Der Alte wollte sich jedoch in der Gesellschaft keine Blöße geben und überließ ihr nach und nach die Zügel in der Firma - wenigstens nach außen hin. Margrit war seine einzige Tochter, etwas Besseres kam also nicht nach. Die einzige Hoffnung ruhte auf einem geschäftstüchtigen Schwiegersohn. Dieser betrat zwar die Bühne, aber erst nach dem Tod des alten Armstrongs, der sich aus gesundheitlichen Gründen kurz zuvor aus der Firma zurückzog. Und als er dann kam, der liebe Schwiegersohn, entpuppte sich dieser schnell als Schaumschläger und Luftnummer. Margrit aber spielte sich als die große Chefin auf, und sie fühlte sich wohl in dieser Rolle. Sie war wahrscheinlich die einzige, die es gar nicht spannte, dass es eine zweite Person im Hintergrund gab, die die Geschicke der Firma wirklich leitete: Betty Smith. Sie war so etwas wie eine Stiefschwester von Margrit, jedenfalls aber wesentlich geschickter im Geschäft als Margrit. Sie wurde vom alten Armstrong insgeheim zur fähigen Chemikerin und Unternehmerin ausgebildet. Er führte sie in die Kunst ein, die Strippen hinter der Bühne zu ziehen und die Marionette so tanzen zu lassen, wie sie es für richtig hielt. Sie hielt die ganze Unternehmensgruppe nicht nur über Wasser, sondern sorgte mit neuen Produkten und Strategien für steigende Umsätze.
Soweit ging also die Rechnung des alten Herrn auf. Was aber danach geschah, hatte er bestimmt nicht ins Kalkül gezogen! Die Ehe zwischen Margrit und diesem Schaumschläger ging schief. Die intellektuelle Künstlerin fühlte sich von ihrem Mann in der Gesellschaft zurückgesetzt, ja sogar gedemütigt. Er soll ihr sogar verboten haben, an gesellschaftlichen Anlässen teilzunehmen. In der Firma, für die er schon vor der Eheschließung mit Margrit als Verkäufer tätig war, schloss er sich hinter dem Rücken seiner Frau mit Betty Smith zusammen. Als geldgieriger Schurke spürte er instinktiv, dass er sich damit die besseren Karten sicherte. Gemeinsam mit Betty hatte er Taktiken entwickelt, die Margrit nach außen als profilierte Geschäftsführerin erscheinen ließen. Aber in Wirklichkeit schnitt er sie immer mehr vom Informationsfluss innerhalb des Unternehmens ab. Die wirklich wichtigen Entscheidungen im Unternehmen beeinflussten Betty und Margrits Mann in ihrem Sinne und lenkten so das Wasser auf ihre eigene Mühle. Dass Margrit diese Situation nicht durchschaute, konnte man am Anfang noch verstehen. Schließlich war sie über beide Ohren verliebt und da zählen wichtigere Dinge im Leben.“ Er machte mit den Händen eine obszöne Bewegung.
„Das Ergebnis war übrigens eine Schwangerschaft kurz nach der Heirat. Sie verlor aber dann ihr Baby noch vor der Geburt durch einen Unfall. An die Details kann ich mich nicht mehr erinnern. Danach waren es dann wahrscheinlich die vielen kleinen, von ihrem Mann zugefügten Kränkungen, die sie gegenüber der Realität blind werden ließ. Jedenfalls waren es diese Verletzungen und Zurücksetzungen, die das Fass zum Überlaufen brachten.“
Endlich erreichten wir das Hotel und konnten dem inzwischen eisigen Wind entfliehen. Es war schon wesentlich angenehmer, die Schneelandschaft vom geschützten Salon aus zu betrachten, wo uns der Kellner den heißen Kaffee, zusammen mit einer Engadiner Nusstorte servierte.
Ich war dabei, Maille zu erläutern, wie die einzelnen Gipfel des Massivs heißen, das das Engadin in Richtung Süden begrenzt, als Ellen den Raum betrat. Ich machte sie mit Maille bekannt und stellte sie ihm als Ellen Greenfield vor. Ich lud sie ein, ihren Tee doch mit uns zu trinken. Gegenüber Maille machte ich ein Zeichen, nicht über das Thema zu sprechen, über das wir uns gerade unterhalten hatten.
„Ich machte heute nur zwei Saunadurchgänge“, meinte Ellen und strich ihre noch feuchten Haare sorgfältig zurück. „Ich möchte gern das Gespräch mit Dir fortsetzen.“
Maille verstand den ‚Wink mit dem Zaunpfahl' sofort und fand schnell einen Grund, unseren Tisch zu verlassen.
„Lass uns wieder ins Kaminzimmer gehen. Dort, im Halbdunkel des glimmenden Feuers, fällt mir das Erzählen leichter, als hier im hell erleuchteten Café.“ Ohne Ihren Tee ausgetrunken zu haben erhob sie sich und ich folgte ihr wortlos. Der Kellner brachte das Gedeck nach.
„Die ganze Zeit frage ich mich, warum ich Dir soviel über mein Leben erzähle. Wir kennen uns kaum. Trotzdem habe ich das sichere Gefühl, dass ich Dir vertrauen kann und dass Du mitfühlen kannst. Außerdem mag ich Dich einfach. Du bist ein Mensch, der sich selbst zurücknehmen kann, um anderen zu zuhören. Etwas, das man heute nur noch selten findet.“
Ich legte etwas Holz nach, um von meiner Verlegenheit abzulenken. Dann nahm Ellen den Faden ihrer Erzählung wieder auf.
„Mit dem Verlust unseres Babys fiel auch der Schleier von meinen Augen, der mich bis dahin daran gehindert hatte, die Realität so zu sehen, wie sie war: Mein Mann war ein egozentrischer Mensch, der nur auf seinen persönlichen Vorteil bedacht war. In privaten und in geschäftlichen Bereichen bootete er mich rücksichtslos aus, wenn ich seiner persönlichen Karriere im Weg stand.“
Sie unterbrach sich, schaute lange in die wieder größer gewordenen Flammen und schien dabei in sich hinein zu horchen.
„Ich hatte in jener Situation nur die Wahl zwischen zwei Verhaltensweisen: Entweder aufgegeben und damit noch tiefer in die innere und äußere Isolation zu versinken, oder ich raffte mich auf, um mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Meine kämpferische Natur gewann, Gott sei Dank, die Oberhand und ich beschloss, meine Zukunft aktiv zu gestalten. Ungeachtet der Vorstellungen und Wünsche meines Mannes fing ich wieder an, mich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Ich reaktivierte alte Kontakte zu Freunden und Bekannten. Zuerst in all jenen Kreisen, die mein Mann noch nicht für sich in Beschlag genommen hatte. Das gab mir die Selbstsicherheit zurück, die ich früher hatte und die ich für die Zukunft brauchen würde.
Lange zögerte ich, den Kontakt mit Elisabeth wieder aufzunehmen. Immerhin war sie die Komplizin meines Mannes und wurde somit für mich zur natürlichen Feindin. In den Stunden meiner Deprimiertheit malte ich mir aus, wie Elisabeth mit Jeff zusammen die Substanz des Unternehmens, das mein Vater und ich aufbauten, mehr und mehr aushöhlten, mit dem Ziel, sich selber zu bereichern. Albträume in schlaflosen Nächten gaukelten mir sogar vor, dass die beiden ein Verhältnis hatten, von dem alle wussten, nur ich, die Betroffene, nicht. Trotzdem lud ich Elisabeth ein, mich an einem Nachmittag zu besuchen, von dem ich wusste, dass Jeff sich im Ausland aufhielt. Die ersten Minuten dieses Gesprächs nach so langer Zeit fanden in frostiger Atmosphäre statt. Beide lauerten wir auf Worte, Gesten, oder einen bestimmten Ausdruck im Gesicht, der uns etwas über die Gedanken des anderen verriet. Jede von uns war auf der Hut und darauf bedacht, nichts preiszugeben, was die andere dazu nutzen könnte, die persönliche Position zu schwächen. Es war Elisabeth, die es mit einem einzigen Satz schaffte, das Eis zu brechen: ‚Ich bin unglücklich', sagte sie. Und damit standen wir beide plötzlich auf der gleichen Stufe und fühlten uns als ‚Schwestern im Schmerz'. Das Misstrauen war wie weggeblasen und das schaffte wieder Platz für Gefühle der Zuneigung. Bald saßen wir bei Kaffee und Kuchen in unserem kleinen Salon und tauschten in vertrauter Zweisamkeit Erinnerungen aus über unsere gemeinsame Kindheit.
‚Ich ging Deinem Mann genau so auf den Leim, wie Du', kam sie wieder auf den wunden Punkt zu sprechen. ‚Er entdeckte schnell meine Fähigkeiten als Chemikerin und verstand es, mich mit Lob und Ermutigung zu immer besseren Leistungen zu motivieren. Mit der Beförderung zur Leiterin der Entwicklung kam die Anerkennung von Kollegen und Kolleginnen dazu. Als nächstes baute er gezielt meine organisatorischen Begabungen auf und setzte sie zum Nutzen der Firma ein. Es war alles positiv, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich erkannte, wo seine wirklichen Ziele lagen: Es ging im ausschließlich um Macht und Geld. Dabei konnte er über Leichen gehen - wie es sich später zeigte sogar im wörtlichen Sinn.'“
Gebannt folgte ich ihren Worten. Worauf lief das Ganze hinaus? Vor dem Hintergrund von Mailles Bericht konnte Ellens Geschichte nur unmittelbar in Mord und Totschlag münden. Aber wie wäre das mit Ellens Charakter in Einklang zu bringen? Ihre zwar bestimmte, trotzdem liebenswürdige und herzliche Art wollte sich in meinem Kopf nicht mit dem Wesen einer Mörderin decken. Oder war dieses Empfinden mehr in meinem Herzen, als in meinem Gehirn?
„Nachdem Jeff es auf elegante Art und Weise geschafft hatte, mich vom Unternehmen fern zu halten, machte er seine Kundenbesuche allein. Heute weiß ich, dass es für ihn wichtig war, die Anwesenheit von Zeugen bei diesen Treffen nach Möglichkeit zu vermeiden. Einmal aber musste er unbedingt Elisabeth dabei haben. Es ging bei einem Kunden in Libyen um viele wissenschaftliche Details in Bezug auf die chemische Zusammensetzung eines Pflanzenschutzmittels und auf dessen Nebenwirkungen. Das war ein Gebiet, auf dem Jeff sich nicht besonders gut auskannte. Um sich vor dem Kunden keine Blöße zu geben, musste er - wohl oder übel - Elisabeth einweihen. Sie begleitete ihn auf dieser Dienstreise. Und als sie mir dann beim Kaffee davon erzählte redete sie sich richtig in Rage. Ich weiß heute noch nicht, ob es ihre Wut auf Jeff war, die sie schneller und lauter erzählen ließ als sonst, oder ob es ihr schlechtes Gefühl war, von ihm einfach ausgenutzt worden zu sein. Mit geballten Händen fuhr Elisabeth fort: ‚Kannst Du Dir vorstellen, was da los war? Dein lieber Jeff verkaufte den libyschen Geschäftsleuten mein Pflanzenschutzmittel als Massenvernichtungswaffe gegen Menschen. Und ich war gezwungen, für seine Argumente den chemisch-technischen Unterbau zu liefern. Es war widerlich zu sehen, wie die Herren mit ihren goldenen Füllfederhaltern in fahriger Schrift Zahlenreihen aufschrieben: die Anzahl der Gegner, die man mit meinem Mittel töten könnte. Dabei spielten sie verschiedene Szenarien mit unterschiedlichen Annahmen durch und nippten dazwischen an ihren Teetassen aus hauchdünnem Porzellan. Sie wollten von mir genau wissen, um wie viel sie die Einsatzmenge reduzieren konnten, wenn es ‚nur' um Kinder ging, satt um erwachsene Menschen. Unter den scharfen Blicken meines Chefs war ich gezwungen, einige Angaben zu machen, obwohl wir natürlich intern nur Versuchen an Mäusen gemacht hatten. Meine Informationen konnten also nur theoretischer Natur sein. Die Verhandlungen wurden in Französisch geführt. Da ich diese Sprache nicht kenne, war ich auf Jeff als Dolmetscher angewiesen. Aber wer weiß, was er übersetzt hat? Sofort rechneten sie auf ihren Taschenrechnern aus, um welchen Prozentsatz sich der Wirkungsgrad bei gleichen Kosten erhöhen könnte. Auf der Fahr zurück zum Hotel machte ich Jeff die schlimmsten Vorwürfe. Selbst auf die Gefahr hin, alles zu verlieren, was ich mir im Laufe der Jahre mühsam aufgebaut hatte, sagte ich ihm, ich wolle sofort nach London zurück fliegen. Er blickte nur mit einem süffisanten Lächeln vom Fahrersitz zu mir herüber und machte mir klar, dass ich ohne Pass nicht weit käme - und er habe bereits dafür gesorgt, dass mir der Pass im Hotel nicht ausgehändigt würde. Dabei rieb er Daumen und Mittelfinger aneinander und gab mir mit diesem Zeichen zu verstehen, dass er die Hotelangestellten entsprechend geschmiert hätte. Ich war ihm ausgeliefert, und das ließ er mich deutlich spüren.'“
In Ellens Gesicht konnte ich ablesen, dass die Empörung, die Elisabeth damals in sich spürte, auch auf sie selbst übergesprungen war. Sie umfasste das Teeglas so fest, dass ich Angst hatte, dieses würde in ihren Händen zerbersten und sie verletzen.
„Jeff war clever genug, Elisabeth zur Mitwisserin und Geheimnisträgerin zu machen. Nach dem Motto ‚mitgefangen mitgehangen' konnte sie den Kopf nicht mehr aus der Schlinge ziehen. Eine kräftige Gehaltserhöhung legte er oben drauf und kaufte damit ihre Loyalität. Womit der Machtmensch aber nicht rechnete war die Tatsache, dass sie, trotz ihrer rauen Schale, einen weichen Kern hat. Die psychische Belastung wurde bald untragbar für sie. Und deshalb war Elisabeth heilfroh, dass sie in mir eine Mitkämpferin an der Front gegen Jeff fand. Wir trafen uns danach fast jede Woche, um Pläne zu schmieden, wie wir Jeff's Aktivitäten boykottieren könnten, ohne der Firma zu schaden und ohne dass Elisabeth Gefahr lief, bei ihrem Chef Verdacht zu wecken. Aber ich sage Ihnen, das war fast unmöglich. Mein Mann hatte es in den Monaten seiner ‚Alleinherrschaft' verstanden, die Netze so eng zu knüpfen, dass es kaum Schwachstellen gab. Ohne eine offene Konfrontation war unser Ziel kaum zu erreichen. Und eines Tages......“
Meine Nerven waren zum Äußersten gespannt. Jetzt würde das Geständnis kommen, und mein Gefühl für Ellen könnte wie eine Seifenblase platzen und sich in Nichts auflösen. Die in den letzten Stunden gewonnene Zuneigung könnte plötzlich in Hass und Verachtung umschlagen?
Ellen spürte, dass ich nicht, wie zuvor, mit voller Konzentration zuhörte. Sie unterbrach sich, lehnte sich zurück und schaute mich durch ihre Halbbrille lange an. Als sie feststellte, dass ich ihrem Blick stand hielt, nahm sie den Faden wieder auf.
„Und eines Tages“, wiederholte sie den angefangenen Satz, „wussten wir, dass die einzige Lösung darin bestand, Jeff aus dem Verkehr zu ziehen. Die sanfte Art, ihn aus dem Unternehmen wegzuloben funktionierte nicht. Jeff war viel zu sehr mit der Firma und ihrem Erfolg verbunden. Wir mussten zu härteren Methoden greifen.....“
Sie hielt mitten im Satz inne. Ihre Miene wurde hart und dann presste sie, kaum hörbar, zwischen den Zähnen hervor „....wir mussten ihn umbringen.“
Ellen, die bis dahin völlig beherrscht wirkte, sackte nach diesem Geständnis in sich zusammen und Tränen liefen ihr lautlos übers Gesicht. Mit glasigem Blick starrte sie in das Kaminfeuer, das noch schwach glimmte. Sie machte keine Anstalten, die Tränen abzuwischen.
Vielleicht war es dieser Anblick der Hilflosigkeit, der mich so rührte, dass meine Entscheidung ganz allein, ohne weitere Überlegungen in mir gefällt wurde. Wortlos nahm ich Ellen in die Arme und drückte sie fest an mich. Sie fühlte, dass ich ihre Handlung verstand und akzeptierte. Wir saßen völlig regungslos einige Minuten und genossen das Gefühl des gegenseitigen Vertrauens. Dann löste sie sich aus der Umarmung und trocknete die Tränen im Gesicht.
"Es war wirklich nicht einfach, den richtigen Weg zu finden. Wir wollten weder das Risiko eingehen, viele Jahre unseres Lebens hinter Gittern zu verbringen, noch durfte meine Firma in die negativen Schlagzeilen geraten und Schaden nehmen. Alle möglichen und unmöglichen Arten, seinen Mann umzubringen, haben wir durchdiskutiert und versucht die möglichen Folgen für uns abzuschätzen. Sogar in der Nacht träumte ich davon. Und es war schon eigenartig, wenn Jeff mich beim Frühstück dann neckte und meinte, ich hätte wohl schlecht geträumt in der Nacht.
Elisabeth hatte dann die rettende Idee. In Ihrem Geheimlabor, das Jeff extra für sie eingerichtet hatte, entwickelte sie nicht nur das Pflanzengift weiter, sondern führte auch geheime Versuche mit Substanzen durch, die dieses Gift neutralisieren sollen. Zwar waren ihre theoretischen und praktischen Erfahrungen noch gering, aber es waren ermutigende Ansätze vorhanden. Sie hoffte, dieses Gegengift an jene Länder verkaufen zu können, die von Gegnern mit dem Pflanzengift angegriffen wurden, das Jeff ihnen verkaufte. Nur so konnte sie eine große Katastrophe wenigstens abmildern. Vermeiden ließ sie sich nicht mehr. Ihr Problem bestand zum damaligen Zeitpunkt darin, dass das Pflanzengift zwar durch das Gegengift aufgelöst wurde, aber erst nachdem es bei Lebewesen den Tod herbeigeführt hatte. Natürlich war das erst ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Immerhin konnten erbeutete gegnerische Vorräte in ihren Fässern mit dem Gegengift unschädlich gemacht werden. Sie arbeitete fast Tag und Nacht, um die Entwicklung voranzutreiben.
Unserem gemeinsamen Ziel waren wir aber schon sehr nahe! Das Pflanzengift würde Jeff den schnellen und schmerzlosen Tod bringen und danach würde das Gegengift in seinem Körper dafür sorgen, dass die tödliche Substanz vollkommen neutralisiert wird, sprich nicht mehr nachweisbar ist. Wir hatten das perfekte Verbrechen geplant. Die Vergiftung konnte von keinem Gerichtsmediziner bewiesen werden“, sagte sie. Stolz schwang in ihrer Stimme mit und sie sah mich mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht an.
Verdammt, warum musste sie mit meinen Gefühlen Achterbahn fahren? Vor wenigen Minuten hatte ich den Eindruck, sie beschützen zu müssen. Und jetzt hatte ich ein mordendes Monster vor mir. Eine Frau, die das schlimmste Verbrechen kaltblütig und präzise wie ein Uhrwerk plant und darüber völlig emotionslos berichtet. Aber nein, sicher war Elisabeth die treibende Kraft und Ellen war nur notgedrungen die Mitläuferin. Ja, so muss das gewesen sein. Ich wollte es einfach nicht zulassen, dass das positive Bild in meinem Herzen eingetrübt, oder sogar völlig zerstört würde. Jede einigermaßen plausible Ausrede war mir willkommen.
„Und Elisabeth hat das ganze geplant und umgesetzt?“ Es war mehr eine Feststellung, die ich machte, als eine Frage. Und ich hoffte intensiv, dass Ellen mit einem einfachen ‚Ja’ signalisieren würde, dass es tatsächlich so war. Ich wollte keinen langen Erklärungen hören, sondern nur ‚Ja’.
„Sie träufelte ihm das Gift in den Tee und war sofort hilfreich mit einem Glas ‚Wasser’ zur Stelle, als Jeff sich an die Brust fasste, nach Luft schnappte und anfing zu röcheln. Der Todeskampf war kurz. Und das Gegengift räumte im toten Körper so vollständig auf, dass keine Spur von dem Pflanzengift mehr nachweisbar war. Jedenfalls nicht im Magen und im Blut – und nur dort suchten die Mediziner danach.“
Sie stand auf, ging ein paar mal vor dem Kamin auf und ab.
„Liest du englische Tageszeitungen?“ Ich war überrascht, wie schnell sie das Thema wechseln konnte.
„Manchmal“, erwiderte ich ohne zu überlegen.
„Dann hast Du sicher vor knapp zwei Jahren vom Gerichtsverfahren zum Mordfall Smith/Armstrong gelesen.“
Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass wir im Kaminzimmer allein waren.
„Aus Sicherheitsgründen reisen wir hier unter falschem Namen. Elisabeth besorgte über einen Mittelsmann in Libyen gefälschte Pässe für uns. Ich bin nicht Ellen Greenfield, sondern Margrit Armstrong. Und Elisabeth ist in Wirklichkeit Betty Smith. Unsere Story wurde in England vom ganzen Volk täglich in der Presse und im Fernsehen verfolgt. Natürlich war die Stimmung der Engländer gegen uns und man versuchte mit allen Mitteln uns die Schuld zu beweisen – was keinem gelungen ist. Unser Anwalt bewirkte den uneingeschränkten Freispruch für uns beide. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung haben wir England verlassen, um endlich wieder ein Privatleben ohne Anfeindungen führen zu können.“
Also hatte Maille, der alte Fuchs, doch recht! Und trotz allem war für mich Ellen eine charmante und liebenswürdige Frau. Ich blieb bei dieser Einschätzung.
„Ich verstehe Deine Situation. Vielleicht hätte ich an Deiner Stelle auch so gehandelt.“ An meinen Augen konnte sie ablesen, dass ich aufrichtig meinte, was ich sagte.
„Wir wollten außerhalb unseres Heimatlandes ein neues Leben anfangen. Reisen kreuz und quer durch Europa boten interessante Abwechslung und ließen uns die Vergangenheit vergessen. Anfangs fühlten wir uns wie neu geboren. Doch schon nach wenigen Monaten unseres Vagabundentums merkte ich, dass ich die Abhängigkeit, unter der ich in meiner Ehe litt, nur gegen eine neue vertauscht hatte: Elisabeth war immer die Stärkere von uns beiden. Sie war es, die die guten Ideen hatte. Und sie war es, die einen Gedanken zu Ende dachte und dann auch bereit war, ein Konzept konsequent umzusetzen. Nur ihr habe ich es zu verdanken, dass wir heute hier sind. Aber sie lässt mich ihre Überlegenheit täglich spüren, und das tut weh. Ich hatte, bevor wir England verließen, meine Anteile an der Firma versilbert. Mit dem Geld finanziere ich unter anderem unser gemeinsames Leben, was Elisabeth alleine mit ihrem Einkommen nicht schaffen könnte. So hilft mir mein Vermögen, wenigstens einen Teil der Unabhängigkeit zurück zu kaufen. Aber eben: das ist eine gekaufte Unabhängigkeit, und es wäre töricht von mir zu glauben, dass dieser Zustand ewig andauern wird.“
Mit einer raschen Bewegung erhob sie sich, legte wie beiläufig Holz nach und trat dann nahe an mich heran. Sie fasste meine beiden Hände und fuhr fort:
“Obwohl Elisabeth mich und meine geheimen Gedanken und Wünsche gut kennt, gelang es mir, ein Geheimnis vor ihr zu wahren: Einen großen Teil des Erlöses aus dem Verkauf unseres Betriebes legte ich in einer Stiftung an, deren einzige Aufgabe darin besteht, das Leiden der Menschen zu lindern, die durch die Produkte unserer Firma zu Schaden kamen. Ich möchte, dass nicht nur mein Geld hilft, sondern dass ich auch mit meinem Wissen und meiner Erfahrung Unterstützung leisten kann. Das alles bin ich meinem Gewissen schuldig. Deshalb werde ich die Leitung der Stiftung selber übernehmen.“
Sie spürte den festen Druck meiner Hände.
„Möchtest Du mir dabei nicht helfen, Erwin? Zusammen mit einem lieben Menschen könnten wir gemeinsam Gutes tun.“
Mein ‚ja’ ging fast unter in einem lange andauernden Kuss, der gleichsam unseren Entschluss besiegelte.
Beim Abendessen weihten wir Elisabeth in unsere Pläne ein. Natürlich war sie nicht glücklich darüber, denn sie kapierte sofort, dass sie dadurch ihre Vormachtstellung verlor. Trotzdem war sie clever genug, uns bei der Erreichung unserer Ziele nicht im Weg zu stehen.
Maille, der eine kleine Sensation witterte, stieß später zu uns, als wir das ganze mit einer schönen Flasche Wein feierten.