- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Bei Villiger zuhause
Villigers Hang zur Melancholie (man könnte es auch als inneren Rückzug, als Flucht bezeichnen) war eine wesentliche Charaktereigenschaft, die oft bestimmend sein Denken und Handeln beeinflusste.
Martha, mit der er seit elf Jahren zusammenlebte, aber auch die drei Kinder, Meret, 9-, Christoph, 6- und Adrian, 5-jährig, waren der ausgleichende Gegenpol in Villigers Leben, seine „Lebensretter“, wie er sie gerne immer wieder nannte.
Sie wohnten, seit seine Frau wieder berufstätig war und die finanzielle Situation es daher erlaubte, in einem kleinen Einfamilienhaus, unweit der Musikschule, wo Villiger unterrichtete, was den Vorteil hatte, dass er zur Arbeit gehen konnte und keine öffentlichen Verkehrsmittel, die ihm verhaßt waren, benützen mußte. Allein schon der Gedanke an all diese Menschen, die tagaus tagein, bewaffnet mit mindestens einer dieser scheußlichen Gratiszeitungen, alle somit das gleiche lesend, das gleiche betrachtend, das gleiche denkend, das gleiche fühlend, jeder stumm auf diesen unbequemen Sitzen diese stupiden Informationen, geradezu gierig, als wären sie am verhungern, in sich aufnehmend, löste bei Villiger Übelkeit aus.
Einmal hatte er bei Meret, seiner ältesten, erst neunjährigen Tochter, zufällig eines dieser Schundblätter, er hatte nicht danach gesucht, in ihrer Schultasche gesehen. Seine Wut gegenüber den Machern dieser Zeitung, den verantwortlichen Politikern, die dies alles tatenlos geschehen ließen, erlaubten, ja gar förderten, ging dann so weit, daß er am gleichen Tag sich in Form eines Leserbriefs, einer Haßtirade, Wörter wie Seelenverstümmelung, Geistesmörder, Kindesverächter, Verantwortungslosigkeit, verschwörerische Machenschaften, Staatsperfidie etc. kamen darin vor, in der Basler Zeitung den Zorn von der Seele schreiben mußte, was wiederum nicht ohne Folgen blieb, da dies einigen Eltern seiner Schüler und auch Mitgliedern der Schulbehörde zu Gesicht kam.
In solchen Momenten erfaßte ihn dann eine schwere Melancholie. Tagelang war er verdrossen, sprach kaum noch, fühlte sich ohnmächtig, zog sich nach der Arbeit zurück.
Die Arbeit war für ihn, wie für den Grossteil der Menschheit, keine Berufung, sondern eine Notwendigkeit, eine Art Gelderwerb, die immerhin das Überleben gewährleistete.
Das Glücksversprechen, das einem die Medien ständig vorzugaukeln versuchten, widerte ihn an, er durchschaute ihre raffinierte Technik der Verblendung schon lange. Für Villiger war fast alles, was er sah, was er hörte, was er las, sei es im TV, Radio, Internet, oder in den Zeitungen immer nur BLUFF.
Er nannte das Zeitalter, in dem er lebte daher gerne das Bluffzeitalter.
’Wir sind alle Bluffer, wir müssen alle bluffen, wir werden zu Bluffern erzogen’ so Villiger zu Martha, seiner Frau, die in einer Buchhandlung arbeitete.
’Leider bin ich ein völlig unbegabter Bluffer und somit naturgemäss ein Versager in dieser Bluffgesellschaft’, so Villiger gegenüber seiner Frau, die ihn in Phasen seiner Melancholie liebevoll zu trösten versuchte.
’Alle Menschen, egal ob Künstler, Fabrikarbeiter, Arbeitslose, adlige Millionäre, Milliardäre, Professoren, Industriemagnaten etc. haben im Grunde genommen ja die gleichen Chancen zum Glücklichsein, bzw. zum Unglücklichsein, was ja leider viel eher der Fall sei’, so Villiger gegenüber Martha seiner Frau.
’Was ja im Grunde zähle, was allein ausschlaggebend sei, sei immer nur die Intelligenz’, so Villiger gegenüber seiner Frau Martha, die schon im voraus wusste, was ihr Mann nun sagen würde.
’Aber es gebe halt all diese widerlichen Intelligenzbluffer, ferner all diese noch widerlicheren Glücksbluffer’, so Villiger zu Martha, seiner Frau, die nur noch hoffte, dass endlich eines ihrer Kinder aufkreuzen würde, um dem zusehends in Fahrt gekommen Ehemann Einhalt gebieten zu können.
’Ich halte es nicht mehr aus in dieser Bluffkultur! Meine Augen, meine Ohren ertragen all diese Bluffereien nicht mehr! Mir wird jeden Tag schlechter vor Übelkeit!’ so Villiger zu Martha, seiner Frau, die nun weder wusste, was sie sagen, noch, was sie tun konnte, die ihrerseits immer an einen kläffenden Hund denken musste, den man irgendwie beruhigen musste, da er sonst die ganze Nachbarschaft in Aufruhr versetzen würde.
’ ’Mein Mann Roland ist ein kläffender Hund’, das dachte Martha oft in solchen Momenten. ’Und ich verstehe ihn nicht und kann ihn infolgedessen nicht beruhigen’.
’Ich kann ja nicht einmal mehr fernsehen ’ so Villiger weiter zu Martha.
’Alle Sender, egal ob beim staatlichen Fernsehen oder bei den sogenannt Privaten, allesamt sind sie verseucht mit Bluffern. Wenn ich all diese Bluff-Fotzen und Bluff-Seggel sehe, wird mir schlecht. Ich halte das nicht mehr aus! ’ so Villiger weiter.
’Eine Bluff-Fotzenkultur, lauter Bluff-Fotzenbücher, wie das dieser widerlichen Charlotte Roach mit ihrem blöden Fotzenbuch, das bald auf jedem Nachttischchen liege und nichts als Unheil in die Schlafzimmer bringe. ’ so Villiger zu Martha, die ihm das Buch einmal dummerweise gezeigt hatte, und die nun ihrerseits Kopfweh bekommen hatte vom Kläffen ihres Mannes, der ihr nur noch wie ein laut kläffender, nicht zu beruhigender Hund vorkam.
Zum Glück klingelte jetzt das Telefon und erlöste sie vom Kläffen ihres Mannes. Es war Jürg Fröhlich, ein Arbeitskollege, der ebenfalls Klavier, und zusätzlich noch elektronische Tasteninstrumente unterrichtete, ein Keyboard- und Klavierlehrer also.
„Hallo Jürg. - Danke, es geht, und wie geht es Dir? – Die Kinder? – Alle wohlauf zum Glück - Jaja wir haben das gleiche Problem mit Meret, wird wohl am Alter liegen. Da muss man halt durch – Ja, Roland ist hier, ich rufe ihn. Machs gut, Grüsse an deine Frau und bis bald einmal. Tschüss Jürg.“