Beim Minister
Beim Minister
Der junge Reporter des „Oderland Boten“, einem regionalen Tagesblatt, gedruckt für die entfernteste Ecke des Landes, hatte es geschafft. Heute sollte er das wichtigste Interview seiner bisherigen Laufbahn führen! Noch einmal prüfte er sein Diktiergerät auf Funktionsfähigkeit und sah an seinem neuen Anzug herab auf die frisch geputzten Schuhe. Dann klopfte er vorsichtig an die schwere Eichentür des Büros des Wirtschaftsministers.
„Herein bitte!”, tönte es aus dem hinter der Tür liegenden Zimmer. Vorsichtig öffnete er und befand sich natürlich noch nicht beim Minister, sondern in dessen Sekretariat.
„Der Minister kommt gleich!”, rief ihm eine junge Frau, offenbar in seinem Alter, freundlich entgegen. ”Er hat gerade noch einen Termin bei den Herren von der Öl-Wirtschaft, Sie wissen schon!“ Bedeutungsvoll hob sie ihre Augenbrauen. „Die leidigen Besetzungen der Tankstellen durch Rentner!”
Ja, daran konnte er sich erinnern. Seit die Höhe der Renten direkt an den Benzinabsatz gekoppelt worden war, kam es immer wieder vor, dass Rentner die an die Tankstellen fahrenden Fahrzeuge überfielen. Sie zwangen dann deren Insassen, nicht wie üblich nur 10 Liter zu tanken, sondern ihren Wagentank randvoll zu füllen. Dabei war ihnen offensichtlich völlig egal, dass die derartig arg erwischten Autofahrer diesen Zwangseinkauf einer so großen Menge Benzins nur mit Hilfe eines der vielen vor den Tankstellen lauernden Kreditvermittler bezahlen konnten. In der durch nichts begründeten Hoffnung, die Benzinpreise würden einmal wieder fallen, versuchten sich tatsächlich viele Autofahrer gegen diese Art der Rentenfinanzierung zu wehren, in dem sie ihre Wagen einfach stehen ließen. Das führte jedoch in immer größerem Ausmaß zu Verkehrschaos und wütenden Tumulten der zahlenmäßig, den wenigen jungen Polizisten, weit überlegenen Rentnern!
Doch da klappte endlich die Bürotür schwungvoll auf und ein sichtlich gut gelaunter Minister betrat den Raum. Noch würdigte er unseren hoffnungsvollen jungen Reporter jedoch keines Blickes, sondern stürzte geradewegs auf seine Sekretärin zu:
”Frau Schmidt! Sie können für mich nächste Woche Mittwoch die Regierungsmaschine buchen! Das zweite Treffen mit den Öl-Heinis machen wir in Abu-Dhabi. Das sieht dann so aus, als würden wir vor Ort etwas bewegen und außerdem finde ich einen Aufenthalt dort im November auch wesentlich angenehmer, als hier frierend vor der Tankstelle zu stehen. Ha — Ha!“
Offensichtlich hatte der Minister wirklich beste Laune!
Fragend blickte er zu dem jungen Mann im Büro. Doch ehe dieser etwas sagen konnte, hatte schon die Sekretärin ihrem Chef eine Mappe in die Hand gedrückt und erklärte:
„Der junge Mann hat den Termin 11 Uhr — Sie erinnern sich doch?”
Freundlich nickte der Minister und mit einer einladenden Geste, bat er unseren Journalisten in sein geräumiges Arbeitszimmer. Nach dem Überschreiten der Schwelle verwies er auf einen rechts an einer großen Fensterfront stehenden Klubtisch, um den breite, weiche Sessel gruppiert standen.
Nach dem der Minister sich gesetzt hatte, folgte ihm auch unser Pressevertreter.
„Schön, dass Sie es vorbeigeschafft haben! So können wir endlich persönlich über die Entwicklung der Lage sprechen!”, begann der Minister. „ Es wird alles immer komplizierter! Es ist sehr ernst! Die Industrie will weitere Fördermittel, doch die Staatskasse ist leer, seit wir die Unternehmen von allen Steuern befreit haben. Einige Mitglieder der Regierung sind sogar zu der Überzeugung gelangt, dass es der Bevölkerung nicht mehr zu vermitteln sei, wieso wir mit unserer Steuergesetzgebung die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland fördern und hohe Fabrikabrissprämien bezahlen. Dabei haben wir hunderten Wirtschaftswissenschaftlern und sogar dem Heiligen Stuhl enorme Summen zukommen lassen, um die Globalisierung als ein in Ablauf, Folge und Auswirkung vom Willen des Menschen unabhängigen Prozess darstellen zu lassen. Also, sozusagen als eine göttliche Fügung! Dennoch werden immer mehr Stimmen laut, die uns vor allem für die sozialen und ökonomischen weltweiten Folgen verantwortlich machen wollen. Diese Demokratie, verbunden mit den Möglichkeiten der Informationsgesellschaft, wird für unsere Geschäfte immer gefährlicher!
Stellen Sie sich mal vor, da hat doch tatsächlich jeder Bürger die Möglichkeit, sich über die Gewinne der Unternehmen zu informieren! Wie will man da noch anstehende Werksschließungen und Entlassungen begründen? Oder diese Veröffentlichung der Exporterfolge der Wirtschaft! Wir sind Exportweltmeister! Das war in fast allen Zeitungen zu lesen!
Wer soll denn da noch unser Märchen von der angeblich so wettbewerbsunfähigen Wirtschaft glauben?
Die sollen doch in der Presse lieber weiter „Wir sind Papst!” oder „Der Ball ist rund!“ drucken.
Das verpflichtet niemanden zu etwas und ruft keine Fragen hervor! Die Konsequenzen für zu große öffentliche Einsichtnahme in betriebliche Belange spüren jetzt zuerst von uns gekaufte Gewerkschaftsvertreter. In manchen großen Betrieben wie VW trauen die sich ja nach ihren Luxusreisen nicht mal mehr über das Werksgelände.
Sehen Sie! In den Bundeshaushalt kann heute jeder Oberschüler von zu Hause aus via Internet Einsicht nehmen! Da werden sogar die Steuereinnahmen verifiziert nach Entstehungsarten ausgewiesen! So etwas gehört in einem vernünftigen Staat in die Geheimhaltung!
Da kann sich jeder Trottel in aufgearbeiteten grafischen Schaubildern ansehen, dass die Staatseinnahmen zum überwiegenden Teil nur noch von den abhängig Beschäftigten erbracht werden.
Das ist doch eine Katastrophe!”
„Was?”, stotterte unser, von dieser Art des freimütigen Umgangs des Ministers mit ihm, doch etwas erschrockener Pressevertreter. Dann fragte er jedoch mutig nach:
”Diese Art der Steuererhebung?”
Einen Moment sah der Minister, der sich in seiner Argumentationskette unterbrochen fühlte, konsterniert über seine Chrombrille:
”Quatsch, nicht die Steuer, aber dass es jeder schwarz auf weiß nachlesen kann!
Wo kommen wir denn da hin, wenn z. B. in einer Volksschule im Oderbruch die Farbe von der Wand bröckelt und der Klassenlehrer den Kindern dort mit einem Mausklick vorführen kann, dass wir alleine für eine neue Fregatte vom Typ F 124 700 Millionen ausgegeben haben. Vielleicht setzt der Depp dann noch eins drauf und erklärt, dass soviel in etwa auch das größte Schiff der Welt, die Queen Mary 2, gekostet hat. Die Kinder kriegen doch den Eindruck, wir hätten was an der Waffel!”, der Minister war bekannt für seine volkstümlichen Ausdrucksformen.
„Aber ich habe ja schon immer vermutet, dass dieses Internet eine Erfindung der Anarchisten ist, um so über kurz oder lang die Kontrolle über den Staat zu erlangen. Diese Friedensnetzwerke, Bürgerinitiativen, ökologischen Foren, Chaträume, das alles sind doch nur Plattformen, eines fortgeschrittenen, medialen, demokratischen Terrorismus, den wir in Wirtschaftskreisen mit wachsender Sorge beobachten! Diese Gruppen machen nicht einmal davor halt, sich zu größeren Aktionen zu verabreden. Eines Tages stehen dann all die armen Schweine, von Hartz IV bis zu den 12-Stunden Malochern, den Rentnern, Studenten und Umweltfreaks gleichzeitig vor unserem schönen Amt und wollen vielleicht, dass wir etwas anders machen! Sollen wir etwa die Großkonzerne, Auslandsgewinne oder Millionenvermögen besteuern? Die neuen schönen Panzer, Flugzeuge und Schiffe bei der Industrie abbestellen?
Na, meine Vorstandsfreunde aus den Unternehmen würden mir was erzählen — da wäre Schluss mit lustig!”
In diesem Moment betrat die Sekretärin mit einem Tablett, auf dem zierliche Porzellantassen mit duftendem Mokka standen, den Raum! Nach dem Abstellen der Tassen versuchte sie dem Minister etwas zu sagen. Dieser winkte jedoch mit einer sehr ungnädigen Geste ab, sodass ihr nichts weiter übrig blieb, als den Rückzug in ihr Büro anzutreten.
„Junger Freund, Sie werden mir bestimmt zustimmen, dass wir es soweit nicht kommen lassen dürfen! Deshalb haben wir Ihre Softwarefirma ja auch vor einigen Monaten beauftragt, diesen Computervirus zu entwickeln, der es uns ermöglichen soll, nicht nur wie bisher, alles im Internet zu kontrollieren, sondern auch automatisch alle unsere Interessen gefährdenden Informationen umzuwandeln. Diese Veränderung, der im Netz verfügbaren Fakten und Daten, die dann nach dem Einsatz des Virus automatisch an den jeweiligen Nutzer angepasst werden, ist ein wichtiger Beitrag für die weitere Bewahrung der Demokratie und des sozialen Friedens in unserer Gesellschaft!
Sie stimmen mir doch zu? Auch wenn Sie die weitere Entwicklung in Deutschland, nach dem Einlösen Ihres Millionenschecks für den Virus und Ihrem Rückzug auf die Malediven, ja eigentlich nicht interessieren dürfte!”
Unserem Vertreter des „Oderland Boten” war in den letzten Minuten heiß geworden. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und auf den Handinnenflächen hatten sich kalte Schweißperlen gebildet. Fragen marterten sein völlig verängstigtes Hirn.
Wie war er nur in diese Situation geraten? Warum musste gerade ihm so etwas passieren? Eigentlich wollte er mit dem Interview des Ministers doch nur vor seinen ehemaligen Studienkollegen angeben. Doch jetzt hatte er von dem Minister Dinge erfahren, die dieser unmöglich an einen Journalisten hat weitergeben wollen.
Was war geschehen? Es konnte sich nur um eine Verwechselung der übelsten Sorte handeln.
Aber wieso?
Fahrig kramte er in seiner Anzugtasche, bis er endlich seinen Terminkalender gefunden hatte. Unterhalb der Tischplatte blätterte er ihn vorsichtig bis zur aktuellen Woche auf. Schon entdeckte er den Eintrag, den er gesucht hatte. Donnerstag 11 Uhr : Termin beim Wirtschaftsminister. Sein Blick fiel auf die ordentlich in einem großen Stapel auf dem Schreibtisch des Ministers liegenden Tageszeitungen. Langsam stand er auf, um sich sofort wieder in den Sessel fallen zu lassen. Er hatte genug gesehen.
Mittwoch – hämmerte es in seinen Schläfen. Mittwoch!
Es war nicht zu glauben! Er hatte die Interviewtage verwechselt und war einfach einen Tag zu früh!
Etwas schusselig war er ja schon immer gewesen, aber so etwas. Wie sollte er sich jetzt weiter verhalten?
Offensichtlich war der geplante Einsatz dieses Virus eine außerordentlich geheime Sauerei!
Schon begann er sich vorzustellen, wie man wohl mit einem unliebsamen Mitwisser dieser Aktion verfahren würde. Wenn man einschlägige Agentenfilme im Fernsehen gesehen hatte, gehörte dazu ja auch nicht all zu viel Fantasie. Eine Situation, die so schnelles reagieren verlangt, dass der Akteur nicht dazu kommt, über sein Tun groß nachzudenken, gebiert jedoch oft Helden. So beschloss auch unser junger Reporter, ihm blieb gar nichts weiter übrig, sich erst einmal so zu verhalten, als ob alles normal wäre. Dann begann er wie in Trance, jedes Wort bedächtig abwägend stotternd zu erklären:
„Ja, doch, wohl, insofern! Herr Minister!“
Schließlich stieß er hervor: ”Wir haben den Virus fertig gestellt!”
Erfreut über diese positive Nachricht räusperte sich der Minister und fragte:
„Haben Sie ihn auch ordentlich getestet? Wir hatten da in der Vergangenheit in unserer Verwaltung nämlich einige unliebsame Ausfälle durch fehlerhafte Software. Monatelang wurde in einigen Abteilungen das Hartz IV Geld falsch berechnet und manchmal wusste keiner mehr, wie viel Geld wir den Krankenkassen für die Arbeitslosen überwiesen hatten!”
Allen Mut zusammennehmend log unser Journalist:
” Tests, aber na klar! Haben wir durchgeführt!
Dazu wurden die echten Daten des Steueraufkommens von uns an die verschiedenen Parteien gesandt. Der Virus hat diese dann im Netz jeweils komplett umgewandelt. Der veränderte Datensatz für die Grünen wies danach zum Beispiel alle Einnahmen aus Ökosteuern aus! Sogar der Verbrauch von Luft wurde besteuert!
Die CDU bekam den Datensatz, in dem Taschengeld, Arbeitslosigkeit und Homosexualität besteuert wurde. Bei der SPD dachte ich erst, ich lese nicht richtig. Alle Einnahmen ergaben sich aus Wegezöllen und Kleiderbesteuerung. Die FDP erhielt den Hinweis, die Steuern seien abgeschafft worden, ebenso auch noch die Linkspartei, der wir zur Erklärung zusätzlich vorgaukelten, die Großkonzerne wären verstaatlicht worden!”
In diesem Moment hielt den Minister nichts mehr auf seinem Platz. Er sprang auf, lief um den Klubtisch herum und holte zu einem kräftigen, anerkennenden Schlag auf die Schulter seines Gegenübers aus:
„Hervorragend ! Ich gratuliere Ihnen und werde Sie umgehend für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen!”
Einer plötzlichen Eingebung folgend, winkte der so mit Anerkennung überschüttete, jedoch schüchtern ab und erhob sich:
„Herr Minister!
Vorher muss ich zu einer letzten Feinjustierung des Virus noch einmal in mein Labor, schließlich wollen Sie doch nicht, dass auch Ihr Computer nur noch manipulierte Daten ausspuckt!”
Verstehend reichte der hohe Politiker ihm zum Abschied die Hand.
Wie der Mitarbeiter unseres Heimatblattes nach Hause gekommen ist, soll er nur noch vage in Erinnerung haben. Fakt ist, dass er geistesgegenwärtig einen Mitschnitt seines Gespräches mit dem Minister ins Internet stellte.
Sollten Sie diese einzigartige Tonaufnahme trotz intensiver Suche dort nicht finden können, so kann das nur eine Ursache haben!
Der Virus! Sie haben es doch getan!