Ben
Ben
An seinem Zustand hatte sich schon lange nichts verändert. Er lag in seinem Bett und lauschte den monotonen Geräuschen der Maschinen. Ein Brei aus Piepstönen, Brummen und Rasseln, der ihm sagte, dass er noch immer lebte. Zumindest technisch gesehen. Zweimal am Tag kam eine Schwester und hin und wieder fummelte ein Arzt an ihm herum, um zu überprüfen, wie lange er es noch machte. Sein Bewusstsein, durch die Medizin immer gefangen in einer nebligen Wolke die seine Sicht trübte, fragte sich nur noch selten, ob er das hier wirklich verdient hatte. Schon vor langer Zeit hatte er seinen Frieden mit sich selbst und vorsichtshalber auch mit Gott gemacht. Jetzt wartete er nur noch. Eine Person gab es noch in seinem Leben, mit der er sprechen musste. Mit der er ins Reine kommen musste, bevor er in Ruhe sterben konnte. Doch sein Sohn kam nicht. Die Tage verstrichen und er starrte an die kalte Wand ihm gegenüber, an der das Kruzifix erbärmlich verloren wirkte.
Schmerzen hatte er keine, zu stark waren die Medikamente und manchmal glaubte er, dass sein Körper unterhalb des Halses längst tot war. Er war tot und verrottete unter der schweren Bettdecke. Manchmal meinte er sogar den süßlichen Gestank der Verwesung zu riechen, wenn die Schwester kam und die Bettwäsche wechselte. Dann musste er fast immer lachen. Es war so lächerlich. Das Krankenhauspersonal war sich sicher, dass er den Verstand verlor, doch er wusste das er klarer war als je zuvor in seinem Leben. Er wusste einfach genau, dass seine Existenz nichts weiter war als eine Farce. Er war ein elender Säufer gewesen und jetzt lag er hier und sein Körper starb und es würde der Tag kommen, an dem sein Geist folgen und sich für immer aus diesem Leben verabschieden würde - und diesen Moment würde er genießen wie ein kaltes, fassfrisches Bier. Würde ihn die Kehle herabgleiten lassen und sich zufrieden fühlen. Aber erst hatte er noch etwas zu sagen. Er würde sich nicht entschuldigen oder gar rechtfertigen vor seinem Jungen. Er wollte ihm nur sagen, was er dachte. Über sich und den Tod. Und er wusste das Ben es verstehen würde. Das sein Junge mit ihm darüber lachen konnte. Über den Witz, den er dastellte. Ben würde sich den Bauch halten vor Lachen und er würde dann für immer gehen, weil er wüsste, dass Ben ihn verstanden hatte. Den Witz verstanden hatte. Bei dem Gedanken entfuhr ihm ein kehlig raues Lachen, das in einem Hustenkrampf abebte. Eine Schwester, sie sah müde aus, steckte ihren Kopf durch die Tür und runzelte die Stirn.
„Alles in Ordnung, Sir?“
Er winkte ab und versuchte ruhiger zu atmen. Ja, ja. So geht es vorbei.
Ben stand vor dem grauen Klotz, in dem sein Vater zum sterben lag, beide Hände in den Hosentaschen und die Schultern hochgezogen. Es hatte aufgehört zu regnen. Unsicher schlich er auf den Eingang zu, sein dunkles Haar klebte in nassen Strähnen auf seiner Haut und ein Rinnsal kalten Wassers lief ihm den Nacken entlang. Eine alte Krankenschwester hastete aus dem Gebäude und wühlte, noch in ihrer Schwesternkluft, in einer Handtasche. Als sie an ihm vorbeikam und ihm einen flüchtigen Blick zuwarf, sah er Verachtung in ihrem Blick. Punk. Das war es, was sie dachte.
Er seufzte und spuckte hinter ihr auf den Boden. Dann betrat er das Krankenhaus. Das grelle Licht der Neonbeleuchtung ließ ihn noch blasser wirken und der spezifische Geruch nach Reinigungsmitteln und Kranken ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Die Hände noch immer tief in die Taschen seiner Baggyjeans vergraben, stieß er zwei ältere Leute zur Seite und drängte sich in den überfüllten Aufzug. Die Enge machte ihn wütend. Die Nähe zu diesen Leuten - es waren zwei Patienten und eine junge Familie, die wohl zu Besuch kam - ließ den Gallegeschmack in seinem Mund kräftiger werden und er drückte sich mit dem nassen Rücken an die Spiegelwand des Lifts. Im Spiegel auf der anderen Seite, konnte er sich selbst sehen. Er sah sich einem Jungen gegenüber, gerade 19, schmächtig, schmales, fieses Gesicht das einer Harlekinfratze ähnlich war. Ein paar zu eng stehende, stahlgraue Augen die er zu Schlitzen zusammenzog, um dem Neonlicht nicht allzuviel Chance zu geben in seinen Geist vorzudringen. Ein schwarzes T- Shirt mit einer kampflustigen Aufschrift, verwaschene Baggys und ausgelatschte Sneakers. Schwarz gefärbte Haare (eigendlich war er blond), aus denen nun dunkle Farbschneisen über seine Stirn und Wangen verliefen. Es hatte wirklich schlimm geregnet. Mit dem Arm fuhr er über sein Gesicht, doch die Farbe ließ sich nicht wegwischen, ließ ihn nur noch etwas trostloser wirken. Quer über den Unterarm verlief eine breite Narbe. Mit den Fingern der anderen Hand fuhr er darüber, ohne es zu merken, dann stopfte er die geballten Fäuste wieder in die Hosentasche. Narben hatte er viele. In diesem Krankenhaus hatte er selbst mindestens hundert Mal gelegen.
Er versuchte ein Lächeln, doch der Spiegel vor ihm warf nur einen kläglichen Versuch eines Zähnefletschens zu ihm zurück, das eher albern wirkte - also ließ er es wieder.
Der Alte würde hier krepieren. Das war sicher. Und es war ein Grund für ihn, sich zu freuen. Es war ein verdammt guter Grund eine Party zu schmeißen. Er sollte guter Laune sein. Doch stattdessen fühlte er nichts weiter als Wut. Auf seinen Vater, auf die Leute in diesem Aufzug, deren Anwesenheit er nur schwer ertragen konnte. Auf dieses Krankenhaus und die Ärzte und Schwestern die ihn diverse Male behandelt und dann wieder entlassen hatten, jedes Mal als sei er nicht ein Junge, der zu Hause die Hölle auf Erden erlebte. In all den Jahren hatte er angefangen diese Leute als Komplizen seines Vaters zu betrachten. Hatte das Gefühl, sie würden hinter seinem Rücken diabolisch Lachen, seinem Vater die Hand reichen und ihm ein freundliches „bis zum nächsten Mal“ mit auf den Weg geben, wenn sie ihn wieder zusammengeflickt hatten.
Seine Lunge krampfte sich zusammen. Der Aufzug spuckte ihn auf den Gang, gerade rechtzeitig. Er atmete ein paar Mal ein und versuchte sich zu beruhigen. Es ist nur ein blödes Krankenhaus. Sagte er sich noch einmal. Er ist nur ein alter Mann der im Sterben liegt.
Der Tod hatte ihn schon an der Hand. Zerrte an ihm und er war kurz davor, seine müden Knochen ein letztes Mal aufzuhieven. Und gerade als er geglaubt hatte, Ben würde nicht kommen, schob sich das schmale, blasse Gesicht seines Sohnes in sein verschwommenes Blickfeld. Die farblosen Lippen fest aufeinandergepresst, mit ernsten Augen, stand er an seinem Bett. Er war gekommen. Johann öffnete den Mund, nur einen Spalt und roch selbst, das er stank. Zittrig, nicht vor Aufregung, sondern vor Schwäche, schob er seine Hand unter der Decke hervor und berührte seinen Jungen am Arm, nur ganz kurz. Strich mit kalten Fingern die Narbe entlang. Bens Körper versteifte sich und er machte einen kleinen Satz, um der Berührung zu entfliehen. Die Hand des Alten wurde zurückgezogen.
Ein letztes Mal sah er seinem Sohn direkt ins Gesicht. Dann wurde sein Körper erneut von einem Lachanfall geschüttelt. Hartes, dunkles Lachen das den Raum für sich einnahm. Befreiendes, erlösendes, lautes Lachen, das in dem Krankenzimmer widerhallte. Das, von Husten und Keuchen unterbrochen, Ben in Mark und Bein fuhr, eine halbe Ewigkeit vorhielt und den Alten Mann hinüberbegleitete. Mit einem letzten leisen Keuchen glitt sein Geist in die Dunkelheit. Er war Tod.
Ben lachte nicht.
Maria hatte Nachtschicht. Heute war viel zu tun. Ein Patient war gestorben und sie musste ihn zurechtmachen. Außerdem waren die anderen Patienten unruhig. Sie hatte sich schon darauf gefreut es sich mit ihrem neuen Liebesroman im Schwesternzimmer gemütlich zu machen, doch daraus wurde wohl nichts. Gerade hatte sie einer älteren Dame eine Flasche Wasser gebracht, da klingelte auch schon der nächste. Zu allem Übel rief ihr Kindermädchen sie an. Ihre Tochter war krank geworden. Maria seufzte. Wie gerne wäre sie jetzt zu Hause in ihrem Bett. Sie fühlte sich schlapp und müde.
Den Alarm hörte sie um 23.36 Uhr. Ein Feuerarlarm. Das hatte ihr noch gefehlt. Ein paar Minuten wartete sie ab. Das war sicher eine Übung, oder der Alarm war versehentlich ausgelöst worden. Da musste sie nicht reagieren. Um 23.42 Uhr, als der Alarm noch immer nicht verstummt und der Rest des Krankenhauses in heller Aufregung war, saß Maria im Schwesternzimmer und las. Als um 23.50 Uhr die Patienten weggebracht wurden, übersah man sie dort gänzlich. Als um 0.12 der schwere Qualm und die Hitze des Feures durch den Türspalt krochen, war sie in ihrem Roman auf Seite 134.
Als die Löscharbeiten endlich abgeschlossen waren und das Krankenhaus, als Schatten seiner selbst, vor den Feuerwehrleuten lag - hier und da fielen noch schwarze Überreste zu Boden und platschten in die Löschwasserpfützen - fand man ihre verkohlte Leiche.
Zu Hause, in seinem alten Jugendzimmer, saß Ben auf dem Boden
- das Gesicht voll Ruß -
und lachte.