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Benjamin
Es ist noch Zeit genug. Er geht ins Bad und betrachtet sich im Spiegel. So wie jeden Morgen sieht er ein junges Gesicht, noch keine dreißig, glatt zurückgekämmte, feine, dunkelblonde Haare mit einem leichten Ansatz zu Geheimratsecken. Es gibt nichts auszusetzen an seinem Gesicht, vielleicht ist es ein wenig zu blaß, seine Figur etwas zu zierlich, doch im Großen und Ganzen ist er zufrieden. Sorgfältig putzt er die Zähne. Noch acht Minuten Zeit. Er nimmt das Parfüm vom Regal, sündhaft teures Herrenparfüm, ein paar Tropfen genügen. Anzug und Krawatte sitzen tadellos, das Hemd ist weiß und glatt gebügelt. Noch fünf Minuten. Die schwarz-weiße Katze streicht um die Ecke, sie kennt ihre Fütterungszeit. Er gibt ihr die Brocken in den Napf, darauf bedacht, dass sie keine Haare auf seiner Hose hinterläßt. Punkt 7:20 Uhr nimmt er die Aktentasche unter den Arm und verläßt die Wohnung.
Zehn Minuten später steht er am Bahnsteig der S-Bahn Linie 7, die zur nördlichen Vorstadt und den Bürohochhäusern mit ihren spiegelnden Glasfassaden fährt. Wie üblich warten auch an diesem Morgen hunderte Menschen an der Haltestelle. Er steht da ohne Hast und als die dritte S-Bahn einfährt, wird er in einen der Wagen geschoben. Die Aktentasche fest an sich gepreßt sieht er sich um. Das Glück ist auf seiner Seite heute. Zwei Männer in dunklen Anzügen stehen neben ihm. Er erinnert sich mit Grausen an die gestrige Fahrt inmitten einer lauten, schwitzenden, Knoblauch ausdünstenden Reisegruppe. Die Bahn fährt an und er wird gegen den jüngeren der beiden Männer gedrückt. Glatt und kühl fühlt sich dessen Anzugstoff an, intensiv duftet das fremde, herbe Aftershave. Als der Druck langsam nachläßt, murmelt er eine Entschuldigung. Der andere lächelt dünn und ohne ein Wort, so ist das eben morgens in der S-Bahn.
An den nächsten Stationen steigen wenige aus und noch mehr ein. Es gibt kaum noch Luft zwischen den Körpern. Die Zeit während des Aus- und Einsteigens hat er genutzt und sich geschickt an die zuvor ausgespähte Stelle bewegt. Nun steht er vor einer großen, dicken Frau um die 60 mit rundem, gutmütigem Gesicht und blauen Augen, die dichten dunklen Haare sind kurz geschnitten. Ihr mächtiger Busen befindet sich in Höhe seines Kinns und er atmet voller Wohlbehagen ihren Duft nach frisch gestärkter Wäsche ein. Ein Duft, der ihn zurück in die Kindheit und in die Stube der Großeltern versetzt. Es sind noch zwölf Stationen bis zur Vorstadt, und er genießt jede einzelne davon. Genießt den Duft, genießt es, wie er gegen die freundliche alte Frau gedrückt wird und den Kopf an ihren großen, weichen Busen drücken kann. Dann ist die Fahrt zu Ende.
Die Menschen strömen aus der S-Bahn und verteilen sich auf die sternförmig verlaufenden Wege zu den Bürohäusern. Er schlendert zum Zeitungsstand, wechselt wie jeden Morgen ein paar Worte mit dem Verkäufer, kauft sich das Tagesblatt und einen Kaffee. Er hat die Fahrt genossen, es ist die beste dieser Woche gewesen. Ein paar Minuten steht er still da und blickt hinauf zu den im Sonnenlicht glitzernden Bürotürmen, dann läuft er langsam zum gegenüber liegenden Gleis und setzt sich in die menschenleere S-Bahn, die um 08:40 Uhr zurück zur Stadt und seiner Wohnung fährt.