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Benjamin

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29.11.2010
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Benjamin

Es ist noch Zeit genug. Er geht ins Bad und betrachtet sich im Spiegel. So wie jeden Morgen sieht er ein junges Gesicht, noch keine dreißig, glatt zurückgekämmte, feine, dunkelblonde Haare mit einem leichten Ansatz zu Geheimratsecken. Es gibt nichts auszusetzen an seinem Gesicht, vielleicht ist es ein wenig zu blaß, seine Figur etwas zu zierlich, doch im Großen und Ganzen ist er zufrieden. Sorgfältig putzt er die Zähne. Noch acht Minuten Zeit. Er nimmt das Parfüm vom Regal, sündhaft teures Herrenparfüm, ein paar Tropfen genügen. Anzug und Krawatte sitzen tadellos, das Hemd ist weiß und glatt gebügelt. Noch fünf Minuten. Die schwarz-weiße Katze streicht um die Ecke, sie kennt ihre Fütterungszeit. Er gibt ihr die Brocken in den Napf, darauf bedacht, dass sie keine Haare auf seiner Hose hinterläßt. Punkt 7:20 Uhr nimmt er die Aktentasche unter den Arm und verläßt die Wohnung.

Zehn Minuten später steht er am Bahnsteig der S-Bahn Linie 7, die zur nördlichen Vorstadt und den Bürohochhäusern mit ihren spiegelnden Glasfassaden fährt. Wie üblich warten auch an diesem Morgen hunderte Menschen an der Haltestelle. Er steht da ohne Hast und als die dritte S-Bahn einfährt, wird er in einen der Wagen geschoben. Die Aktentasche fest an sich gepreßt sieht er sich um. Das Glück ist auf seiner Seite heute. Zwei Männer in dunklen Anzügen stehen neben ihm. Er erinnert sich mit Grausen an die gestrige Fahrt inmitten einer lauten, schwitzenden, Knoblauch ausdünstenden Reisegruppe. Die Bahn fährt an und er wird gegen den jüngeren der beiden Männer gedrückt. Glatt und kühl fühlt sich dessen Anzugstoff an, intensiv duftet das fremde, herbe Aftershave. Als der Druck langsam nachläßt, murmelt er eine Entschuldigung. Der andere lächelt dünn und ohne ein Wort, so ist das eben morgens in der S-Bahn.
An den nächsten Stationen steigen wenige aus und noch mehr ein. Es gibt kaum noch Luft zwischen den Körpern. Die Zeit während des Aus- und Einsteigens hat er genutzt und sich geschickt an die zuvor ausgespähte Stelle bewegt. Nun steht er vor einer großen, dicken Frau um die 60 mit rundem, gutmütigem Gesicht und blauen Augen, die dichten dunklen Haare sind kurz geschnitten. Ihr mächtiger Busen befindet sich in Höhe seines Kinns und er atmet voller Wohlbehagen ihren Duft nach frisch gestärkter Wäsche ein. Ein Duft, der ihn zurück in die Kindheit und in die Stube der Großeltern versetzt. Es sind noch zwölf Stationen bis zur Vorstadt, und er genießt jede einzelne davon. Genießt den Duft, genießt es, wie er gegen die freundliche alte Frau gedrückt wird und den Kopf an ihren großen, weichen Busen drücken kann. Dann ist die Fahrt zu Ende.

Die Menschen strömen aus der S-Bahn und verteilen sich auf die sternförmig verlaufenden Wege zu den Bürohäusern. Er schlendert zum Zeitungsstand, wechselt wie jeden Morgen ein paar Worte mit dem Verkäufer, kauft sich das Tagesblatt und einen Kaffee. Er hat die Fahrt genossen, es ist die beste dieser Woche gewesen. Ein paar Minuten steht er still da und blickt hinauf zu den im Sonnenlicht glitzernden Bürotürmen, dann läuft er langsam zum gegenüber liegenden Gleis und setzt sich in die menschenleere S-Bahn, die um 08:40 Uhr zurück zur Stadt und seiner Wohnung fährt.

 

Hallo EIsbär,

die Idee deiner Geschichte gefällt mir sehr gut. Das Isolationsthema einmal (für mich) ganz anders umgesetzt. Wähnte schon, dass wird wieder eine dieser kgs, die bejammern wie grausam grau, voll und ignorant unsere Gesellschaft doch ist. Daher fand ich die Wendung sehr angenehm erfrischend.

Die Ausführung der Idee finde ich allerdings noch ausbaufähig. Das ist für mich nicht verdichtet genug. Dass du hier nicht in die Tiefe gehst, mag damit zusammenhängen, weil du bei mehr Offenbarung zu viel verraten würdest. Das wäre allerdings ein schöner Kniff, wenn du mehr von Benjamin zeigen könntest, ohne die Pointe zu ruinieren. In dieser Form nehme ich Benjamin nämlich kaum wahr und deswegen geht mir das Schicksal eigentlich wenig nahe.

Oft drückst du dich auch umständlich aus

Er schaut zur Uhr auf dem Schrank. Es ist ein alter Schrank, eher eine Vitrine
weswegen diese Umständlichkeit. Wenn es eine Vitrine ist, schreib es doch.
Er schüttet ihr die Brocken in den Napf, vorsichtig darauf bedacht, dass sie keine Haare auf seiner Hose hinterläßt.
schütten ist ein zu starkes Verb, wenn er es mit Bedacht tut. Gibt könnte hier als Ersatz dienen. Wenn er auf etwas bedacht ist, braucht es auch nciht mehr das vorsichtig
Dutzende Menschen warten an der Haltestelle. Er steht da ohne Hast und als die dritte S-Bahn einfährt, wird er in einen der Wagen ]geschoben.
dutzende Menschen klingt ein bisschen schwach, dafür, dass er dann geschoben wird. Da müsste etwas her, das nach mehr klingt


grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Weltenläufer,

herzlichen Dank für Deine Kommentare. Ich freue mich, dass Dir die Idee gefällt.
Die vorgeschlagenen Änderungen sind gemacht. Keine Ahnung, wieso mir diese Stellen nicht selbst aufgefallen sind ;-)

Es gibt noch eine zweite Version zu dieser Geschichte, in der mehr von dem Prot erzählt wird. Aber sie kam nicht so gut an. Die Spannung litt irgendwie, vielleicht habe ich sie aber auch nur schlecht erzählt.

An meiner Schreibweise werde ich arbeiten.

Danke nochmal und viele Grüße
Eisbär

 

Hallo Eisbär

Still und mit viel Detailliebe kommt deine Geschichte daher. An sich eine eigenwillige Idee, aber das gefällt mir daran, sie hebt sich ab ohne in ein Extrem zu geraten.

Angestrengt fand ich die Erzählform, vor allem zu Beginn. Es ist klar, dass du das Minutiöse gewollt eingesetzt hast, aber es liest sich mir abgehackt und aneinandergereiht. Im Lesefluss wirkt es momentan Berichtartig.

Die Handlung finde ich hingegen zwar sehr kurz aber miterlebend, der Schluss eine unerwartete sanfte Pointe.

Gern gelesen.

Gruss

Anakreon

 

hallo eisbär,

hat mir gefallen, vor allem die Idee.

Er schaut zur Uhr auf der Vitrine, die aus dunklem schweren Holz wie alle Möbel im Raum. So richtig passen sie nicht in diese kleine Wohnung, doch sie sind von seinen Großeltern und er will sich nicht von ihnen trennen.

In der zweiten Hälfte des ersten Satzes fehlt das "ist". Mir würde der Text ganz ohne den ersten kleinen Absatz noch besser gefallen. Dann wäre ein wenig Exposition weg, die ich nicht nötig finde und die KG würde mit dem Satz beginnen "Es ist noch Zeit genug", was ich für einen schönen, passenden ersten Satz halte..

Viele Grüße, T. Anin

 

Hallo Anakreon,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Es freut mich, dass Du die Geschichte gern gelesen hast.
Bzgl. Erzählform stimme ich Dir zu. Mit den knappen Sätzen sollte die KG kühl und distanziert wirken. Es war nicht direkt so geplant, doch von der Vorstellung her haben sich die Sätze so ergeben.
Aber vielleicht habe ich es ein bißchen übertrieben damit ;-)

Hallo T.Anin,

das ist schon eine größere Änderung, die Du da vorschlägst.
Doch je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir Deine Idee. Der Anfang klingt dann weniger schwermütig.
Das Ende müßte sich damit auch ändern. Ich denke auf jeden Fall nochmal darüber nach.
Herzliches Dankeschön für Deinen Kommentar, hat mich sehr gefreut.

Liebe Grüße
eisbär

 

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