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Berührungsangst
Berührungsangst.
Er war ein lebhafter kleiner Kerl. Sein Fell war wunderbar weich und seine fast schwarzen Augen und die kleine Nase waren ständig auf der Suche, nach etwas Essbarem. Ein kleiner Vogelkäfig, der, mit Holzspänen und etwas Watte ausgelegt, zu einem unzulänglichen Hamsterkäfig umfunktioniert wurde, war das Zuhause des kleinen Hamsters, aus dem er, wie auch immer, beinahe jede Nacht einen Weg fand. Der Junge hatte den Goldhamster bekommen, weil die Nachbarn den Wurf gewissermaßen verteilen mussten, um keine Jungen töten zu müssen. Der Junge sollte sich allein um das Tier kümmern, das war die Auflage der Mutter. „Putzi“, so wurde der Hamster von seinem kleinen Herrchen gerufen, wollte nicht im Vogelkäfig bleiben. Er spazierte beinahe jede Nacht auf dem Tisch, auf dem der Käfig stand, herum. Fand Bücher, um sich an den Seiten zu laben, sprang auch vom Tisch herunter, um in die kleinen Hauschuhe, des Jungen zu ziehen, oder er suchte sich ein schönes Stück Teppich unter dem Bett des Jungen, um daran zu nagen. Der Junge liebte ihn, kaputte Latschen her, oder hin. Er hatte ihn oft am Tag in der Hosentasche, was Mutter nicht wissen durfte, und nahm ihn sogar manchmal in die Schule mit, was niemand wissen durfte! Putzi , so genannt, weil er ständig damit beschäftigt schien, Morgentoilette zu halten, war aus dem Leben des Jungen nicht mehr weg zu denken. Jedenfalls war das für den Jungen so.
Der Hamster hatte diese Nacht wohl versäumt „auszugehen“ und lag zusammen gerollt in den Holzspänen seines Heimes. Der Junge brachte Kaffeesahne und stellte sie in den Käfig. Das Tier machte aber keinerlei Anstalten, seine Lieblingsspeise anzurühren und reagierte auch auf einen kleinen Schubs nicht. Putzi war tot! Der Junge hatte schon von einigen Klassenkameraden gehört, dass so etwas passiert war, aber das waren doch die Anderen, das passiert einem doch nicht selbst. „Mutti, was macht Putzi jetzt?“ „Er ist im Himmel und sucht sich dort ein Paar Hausschuhe.“, knurrte die Mutter, der es mehr als recht war, dass der Hamster endlich verschwunden war. Der Junge nahm seine angenagten Hausschuhe, das tote Tier und einen Schuhkarton und ging zu seinem Freund, der erst letztes Jahr sein Meerschweinchen beerdigt hatte. Die Kinder machten sich auf den Weg und unterwegs wollte Michael, der Freund, den toten Hamster anschauen. Den Jungs war nicht wohl dabei. Der Hamster sah aus wie immer, nur das das Näschen stillstand und die Knopfaugen glänzten nicht. Das war das Absonderlichste dabei, was die Jungs dann davon abhielt, das tote ‚Ding’ noch einmal zu berühren. Sie hatte Angst!
Wo, wie war ‚Es’ jetzt? Manche Erwachsene sagen, der Tod ist das Ende, manche sagen, dass da bestimmt noch irgendetwas kommt. Wenn es das Ende ist, wie ist es das dann? Michael meinte, dass man ein Licht sieht, darauf zu fliegt und dann ist alles vorbei. Genau könne er das auch nicht sagen, er kenne keinen, der schon mal tot war. Aber bestimmt sei es so, denn das kam im Fernsehen und seine Mutti hatte nicht geschimpft, als sie es sich ansahen...
Der Mann schreckt aus der Erinnerung. „Warum denke ich gerade jetzt an meinen toten Hamster?“, fragt er sich. Sein Vater ist letzte Nacht gestorben und er ist sich nicht klar darüber, was er nun machen soll. Die Erinnerung an den toten Hamster kam wieder. Die Angst vor der Berührung. Auch der Vater hatte diese stumpfen, gebrochenen Augen. Gelblich, weil die Leber nicht mehr richtig gearbeitet hatte und ins Nichts gerichtet. Seine Schwester hatte die laute Art der Trauer im Wesen und weinte sicherlich noch. Sie hatte den Vater sehr geliebt und war mit ihm auf eine fast spirituelle Art verbunden. Sie glaubte bis zum Schluss an eine Heilung und sie glaubt auch, dass der Tod nicht das Ende bedeutet. Der junge Mann glaubt, ... was? Der Tod ist Teil des Lebens, Tatsache. Jeder Pol benötigt zu seiner Existenzberechtigung, einen Gegenpol. Jede Kraft braucht eine Opposition.
Man nennt das Gleichgewicht, alles Tatsachen. Vernünftig ist es auch von dem Gesetz der Erhaltung der Masse zu wissen, was auch für Energien gilt. Das Leben soll ja eine Art Energie, entstehend und gefüttert durch chemische Prozesse im Körper, sein. Alles Gründe zu glauben, dass da noch was kommen muss. Denn mit der Energie muss die Natur ja irgendwo hin. Aber was kommt? Bei dem Versuch, sich die Unendlichkeit des Universums vorzustellen, kann man dem Wahnsinn nicht näher kommen.
Philosophen, Naturwissenschaftler und Ärzte, natürlich Menschen aus allen Sparten und beinahe jeder Alters- und Religionsgruppe, haben sich Gedanken über das Danach gemacht. Viele Theorien und sogar Dogmen wurden aufgestellt, be- und aufgeschrieben, aber keine ist so glaubhaft, dass der Mann völlig überzeugt ist. Eines ist sicher, er hat Angst vor dem Tod. Angst vor Schmerzen, vor der Dunkelheit... , aber natürlich nur, wenn er allein ist. Freunde kennen ihn als taff. Seine Schwester hält ihm sogar vor, keine Tränen für seinen Vater zu haben. Er hat auch noch keine, denn das ist alles noch nicht real. Für ihn ist er noch nicht weg. Wie soll man sich auf so was vorbereiten? Vater hatte Krebs, Bauchspeicheldrüse. Zwei Wochen nach bekannt werden starb er. Ist er jetzt an einem ‚Ort’, an dem es keine Schmerzen gibt? Ist er überhaupt noch irgendwie? Wie wird der eigene Tod ein sein? Warum kann er nicht glauben, dass da noch etwas kommt? Kann man lernen zu glauben? Wenn ja, dann braucht er einen guten Lehrer, denkt er, denn man will doch schließlich sicher sein. Dem Tod ist das egal, er kommt, so oder so!